Michael Marrak – Morphogenesis

In einem Interview für das TERRACOM, Ausgabe Juni 2004, fragte ich Michael Marrak nach dem Wesen seines neuen Romans. Er antwortete (wahrscheinlich mit einem Grinsen im Gesicht):
»Es wird […] ein sehr zynischer Roman mit einer gesunden Portion an schwarzem Humor … und knietief Blut … 😉 «
Damals konnte ich mir noch nicht vorstellen, wie tief „knietief“ wirklich ist …

Michael Marrak arbeitet als Illustrator und Schriftsteller, dabei lebt er in der weltkulturdenkmalerischen Stadt Hildesheim. Er debütierte 1997 mit seinem Roman „Die Stadt der Klage“, „Lord Gamma“ von 2000 erhielt den Kurd-Laßwitz-Preis sowie den Deutschen Phantastik-Preis als bester Roman des Jahres. 2002 erschien sein Horror-SF-Mischling „Imagon“, der ebenfalls ausgezeichnet wurde.
Weitere Infos: http://www.marrak.de.

stadt der klage

Hippolyt Krispin entdeckt in seinen privaten archäologischen Forschungen mitten in der libyschen Wüste eine Pyramide. An sich schon erstaunlich genug, aber sie besitzt außerdem einen sechseckigen Grundriss. In ihrem Zentrum stößt Krispin auf einen riesigen versiegelten Hohlraum, der unter Vakuum steht, bis Krispins Mitarbeiter die Wand durchbricht. Er verendet dabei qualvoll und blutig, denn der Unterdruckt reißt ihm sämtliche Eingeweide aus dem Körper. Niemand ahnt bisher, dass es so etwas ist wie ein Tor zur Unterwelt, dem ägyptischen Duat.

Der geöffnete Raum ist gigantisch und von einer merkwürdigen knöcheltiefen Staubschicht bedeckt, die reibungslos durch die Finger rinnt und nicht greifbar ist. In einem Ringsarkophag findet er einen goldenen Uroboros (eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt) und erlebt bei der ersten Berührung damit eine Vision: Ein übergroßer Schlangenkopf hebt sich aus dem Staub und mustert Krispin. Sie grüßt ihn in einer sonderbaren Sprache und bezeichnet ihn als Kematef.

Krispin trifft später auf eine wunderschöne Ägypterin mit verführerischem Duft und verbringt mit ihr den Abend. Anscheinend ist sie für niemand sonst sichtbar, außerdem umgibt sie ein Geheimnis. Sie behauptet, mit einer Totenbarke aus der Totenstadt Sarara gekommen zu sein und ringt ihm das Versprechen ab, ihr einen Wunsch zu erfüllen und sie dort zu besuchen. Nach einem berauschenden Geschlechtsakt drückt sie ihm den Uroboros in die Brust, er verschwindet wie ein Lebewesen in Krispins Eingeweiden, Krispin erlebt eine grausige Vision und erwacht erinnerungslos und blutüberströmt vor seinem Hotel. Nichts ist mehr so, wie es sein muss.

eine multihölle für alle

„Morphogenesis“ ist eine Vollendung des stark gedrängten Romans „Die Stadt der Klage“. Und diese Stadt, in die es Hippolyt Krispin verschlägt, ist eine Verschmelzung aus vielen Höllenmythen, die die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung entwarf. Hier treffen sich Neros brennendes Rom und die fleißigen Errichter des babylonischen Turms sowie französische Gillotinierte zur gemeinsamen, ewigen Buße.

Der Prolog des Romans hätte uns vorwarnen müssen. Er ist wie ein Vorgeschmack auf die Abstrusität und die Bildauswahl des Romans, erdrückt sofort die gewachsenen Vorstellungen von Realität und Zumutbarkeit in uns und weckt eine Verwirrung, die wohl nur aus falschen Erwartungen entstehen kann. Wer den Klappentext liest und dort etwas von Pyramiden und Ausgrabung stehen sieht, erwartet gewiss nicht, sich in einem ausgebrannten Turm zwischen ekligen, sich vermehrenden Insekten und staubsaugerartigen Schwämmen wiederzufinden, gegenüber eine albtraumhafte Gestalt, und ein blutiges Stigma aus dem Rücken die Wand hinter einem verschmiert. So gerät man schon im Prolog von einem Albtraum in den nächsten, denn die erste Sequenz, die sich leicht als Traum entpuppt, mündet in den eben beschriebenen Part, der für den Erzähler offenbar die Realität ist. Pyramide? Ausgrabung? HIER??

Zum Glück beginnt das erste Kapitel nach diesem Anfangsschock „normal“ und erwartungsgemäß. Ich erinnerte mich aber beim Öffnen der Vakuumkammer und der daraus resultierenden „Entleibung“ des Mitarbeiters überdeutlich an Marraks oben zitierten Ausspruch: „… und knietief Blut …“ Mit jeder weiteren Seite entfernt sich die Erzählung von unserer Realtität und wird zu einem phantastischen Schauspiel.

Mit welchen Worten soll man diesem Buch gerecht werden? Schon die Einordnung in irgendein Genre fällt schwer – aber man versucht es trotzdem, jeder Teil in seine Schublade. Einigen wir uns auf den Oberbegriff „Phantastik“ (nicht zu verwechseln mit Fantasy, darum schreibe ich es auch weiterhin mit Ph), damit tun wir dem Werk kein Unrecht. Da wir es mit Michael Marrak zu tun haben, können wir das Buch versuchsweise mit seinen Vorgängern vergleichen. „Lord Gamma“ war eindeutige Science-Fiction mit einer kolossalen Enthüllung zum Schluss. „Morphogenesis“ ist weit abstruser, abgedrehter, aber durch den mythologischen Hintergrund nicht ganz so erschlagend – es erschlägt durch andere Aspekte. Hier geht es vordringlich um das Schicksal Hippolyt Krispins (und um unsere armen Seelen, das ist schon schockierend). „Imagon“ ließ sich schon schwerer einordnen, man nennt es Science-Horror-Thriller. Die düstere Aussicht für die Menschheit wird in „Morphogenesis“ blutiger und zynischer dargestellt, unser Augenmerk auf andere Dinge gelenkt.

Die Ausgeburt der Hölle, die durch Krispin zum Leben erweckt werden soll, wird nicht eindeutig bewertet. Ist es wirklich nur ein kleiner Ausflug aus der Hölle, wie Krispins Gegenspielerin und Gönnerin behauptet, oder erwartet uns durch diesen Pakt die Hölle auf Erden?

Im Endeffekt hat sich Marrak eine tragisch unsterbliche Figur geschaffen, die ewig durch die Gefilde der Literatur wandeln kann, um hin und wieder auf sich aufmerksam zu machen. Beneidenswert, wie Marrak schreiben kann, aber gleichzeitig Furcht einflößend: Geht sowas |ständig| in seinem Kopf umher? Da kann man gespannt sein auf die Früchte seiner Fantasie, die uns in den nächsten Jahren erwarten.

Es gibt ein Detail, eine Frage, auf deren Auflösung ich die ganze Zeit unbewusst gewartet habe. Zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Sahia hat Krispin eine Vision, die von einer Welt aus Nervensträngen und Synapsen handelt, in der ein geschwürartiges Gebilde auf ihn zu jagt, in dem er ein schreckliches „Ding“ sieht. Danach ist Dunkelheit. Was hat er gesehen? Vermutlich war es in der Realität das Auto, das ihn traf, aber was hat er in seiner Vision gesehen? Anscheinend war es zu unwichtig, um dem Autor eine Aufklärung wert zu sein. Aber es reizt leider die Neugier und hätte darum eine Antwort verdient.

morphogenesis

Den Titel zu erklären, hieße, die Lösung des Romans zu verraten. Auch wenn man sich davor drückt, gibt es noch etwas Wichtiges festzuhalten: Um den Geist zu reinigen, bietet der Roman den perfekten Weg. „Entschlackung“ kann man es nennen, die aufgestauten unmöglichen Fantasien und abstrusen Gedanken finden hier ihren Ausdruck – und dabei wird auch noch eine spannende Geschichte erzählt! Vor allem zum Schluss drückt der Wunsch nach der Lösung, man kann kaum noch von dem Buch lassen. Was gibt es für ein besseres Argument für einen Roman? Eines muss fairerweise nochmal gesagt werden: Der Roman ist blutrünstig. Man sollte sich durchaus eine Prise schwarzen Humors zulegen, ehe man ihn liest.

Der Autor vergibt: (4/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)


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