Marthe Kelling – Fremde Kindheit

Die Menschen, die man am besten kennen müsste, sind man selbst und seine Familie. Jedenfalls würde man das annehmen, hat man doch mit ihnen einen wesentlichen Teil seines Lebens auf engem Raum verbracht und wurde von ihnen geprägt. Doch was, wenn das, was man über sie weiß, nur die halbe Wahrheit ist? Was, wenn das, was man zu wissen glaubt, einen sogar krank macht? Die Autorin Marthe Kelling führt ihre von Schmerzen gepeinigte Protagonistin Rena Brandt in ihrem Debütroman „Fremde Kindheit“ eben aus diesem Grund auf eine Reise in die Familiengeschichte, die zwar ihre persönliche Geschichte ist, aber auch ein Stück weit die Geschichte vieler deutscher Familien sein dürfte.

Der Vater ist körperlich verletzt und traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt, wo er unter anderem in der berühmt-berüchtigten Kesselschlacht um Stalingrad gekämpft hatte. Wie die meisten Rückkehrer spricht er weder über seine Erfahrungen im Krieg noch über die der Gefangenschaft. Niemand erfährt, was er durchgemacht hat, denn für die Verlierer interessiert sich die Welt nach der Stunde Null nicht. Vor allem nach dem Abzug der alliierten Truppen wollen alle am liebsten nahtlos da weitermachen, wo sie vor dem Krieg aufgehört haben, und alle Gräuel hinter sich lassen. Und doch gesellt sich zu dem eben erlittenen ein neuer Schmerz, denn im östlichen Teil Deutschlands verändert sich mit der Gründung der Genossenschaften für die Bauern alles. Neben ihrem Land verlieren sie auch das verbliebene Vieh, sowie ihr landwirtschaftliches Gerät, beispielsweise den ebenso geliebten wie für die Landwirtschaft unentbehrlichen Traktor. Nur die Kinder dürfen heimlich darüber weinen, während die Erwachsenen gute Mine zum bösen Spiel machen müssen.

Seine beiden Kinder Rena und Kalle verstehen nicht, warum Helmut manchmal regelrecht durchdreht und um sich schlägt. Und so behält seine Tochter ihn als gewalttätigen Tyrannen in Erinnerung, vor dem sie und ihre Familie hauptsächlich Angst hatten. Dass dieser Eindruck nicht die ganze Wahrheit sein kann, macht ihr eine Therapeutin klar, weshalb Rena zunächst beschließt, mit einer paar Menschen zu sprechen, die ihre Eltern gut kannten. Was eher halbherzig beginnt, wächst sich schnell zu einer engagierten Detektivarbeit aus. Bei dieser sucht sie nicht nur die Plätze ihrer Kindheit auf und beschafft sich die Wehrmachtsakte ihres Vaters, sondern sie dringt sogar bis zu einem gut gehüteten, doppelbödigem Familiengeheimnis vor. Als positiver Nebeneffekt nähert sie sich auch ihrem jüngeren Bruder wieder an.

Marthe Kelling hat mit „Fremde Kindheit“ nicht nur einen Familienroman vorgelegt, sondern spricht vor allem Themen an, die bisher weniger Aufmerksamkeit genossen haben. Über die Schilderungen der sächsischen und brandenburgischen Dörfer und ihrer Gemeinschaften erreicht man die totgeschwiegene Geschichte der Verlierer des Zweiten Weltkrieges, die sich in der Vergangenheit hauptsächlich auf die Schuldfrage beschränkte. Hier lesen wir auch vom Verhalten der Gewinner, als diese wie das Fegefeuer über diejenigen hereingebrochen kamen, die den Krieg bis dahin nur aus dritter Hand kannten. Es geht um den Umgang mit Flüchtenden, Zerstörung und immer wieder um harte Arbeit und die Arbeitskraft, denn darum dreht sich auf dem Land alles und alle werden – im Nazideutschland genauso wie in der neugegründeten Republik – daran gemessen. Auch Renas Mutter mit ihrer Kyphose und einem Herzfehler sowie ohne Frage ihr Vater, der viel eher für einen Bürojob als die Landwirtschaft geeignet gewesen wäre.

Viele Probleme der letzten 70 Jahre werden nur gestreift, denn nicht alles ist für die Familiengeschichte gleich wichtig: Euthanasie im dritten Reich, Stasi, Republikflucht, Zwangsadoption von Kindern nicht linientreuer Staatsbürger der DDR, aus politischen Gründen verhinderte oder geförderte Karrieren. Aber natürlich geht es in erster Linie um nicht geleistete Trauerbewältigung. Eine Ironie geradezu, dass der Familientherapeutin Rena erst von einer Kollegin die Augen für ihr eigentliches Problem geöffnet werden müssen. Daran sieht man, dass niemand davor geschützt ist, Meister im Verdrängen zu werden, bis der Körper mit anderen Symptomen gegen die seelische Misshandlung rebelliert. Dabei wird die zunächst schwierig erscheinende Kindheit, an welche die Ich-Erzählerin die Leser teilhaben lässt, später als eine Zeit dargestellt, in der Kinder eng mit der Natur und der Dorfgemeinschaft verbunden waren. Mit ihren lebendigen detailreichen Beschreibungen lässt sie Tage im Heu, Nachmittage zwischen den Blättern hoher Bäume und Abende auf einem Bänkchen vor dem heimatlichen Haus wieder auferstehen, die für kommende Generationen alles andere als selbstverständlich sein werden. Genauso wie der ritualisierte Gang zur Kirche, in der jede Familie noch ihre angestammte Sitzbank hat. Nichts wirkt jedoch verklärt und, wenn Renas Bruder Kalle schließlich von einem zukünftigen Ausflug auf dem restaurierten Deutz in seine Wälder spricht, dann hat man das Gefühl, diese Sehnsucht nach der Verbundenheit mit Grund und Boden, mit Wald und Feld und der eigenen Hände Arbeit habe auch im 21. Jahrhundert ihren Ort und ihre Berechtigung. Und zwar genau dort, wo selbst die Steine auf dem Friedhof noch ein lebendiger Teil der Familie sind.

„Fremde Kindheit“ ist ein feinfühliges Portrait einer Familie, die auf ganzer Linie mit Problemen zu kämpfen hatte, diese aber als Teil ihres Lebens akzeptierte. Wobei ihnen, zu einer Zeit, als man sein Innerstes verschloss und keinen allzeit unbegrenzten Zugang zu Wissen hatte, die nötige Information und Unterstützung fehlte. Es ist aber auch eine Einladung dazu, sich mit der Geschichte seiner Eltern und Großeltern zu beschäftigen, um zu verstehen, was jahrzehntelang totgeschwiegen wurde, zu verzeihen und zu akzeptieren, um nicht zuletzt auch sein eigenes Leben ohne Schuldgefühle, optimistisch und selbstbestimmt leben zu können. Eine fremde Kindheit oder vielleicht doch die eigene?

Gebundene Ausgabe: 326 Seiten
ISBN-13 :978-3755742647

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