Geza von Nemenyi – Heilige Runen

Bei den Runen handelt es sich um die Schriftzeichen unserer germanischen Vorfahren, die für magische Zwecke und schriftliche Mitteilungen benutzt wurden. Eine Rune bezeichnet immer gleichzeitig einen Laut sowie einen bestimmten Begiff – so steht beispielsweise die Rune *Berkanan einerseits für den Laut b und andererseits für die Birke einschließlich ihrer symbolisch-mythologischen Bedeutung. Die Runen sind in wissenschaftlichen und esoterischen Kreisen in Bezug auf Alter, Herkunft und Deutung heftig umstritten, wobei die Diskussionsbeiträge fast immer vom weltanschaulichen Hintergrund des jeweiligen Protagonisten geprägt sind. Die Germanen selbst betrachteten – wie die Edda-Überlieferung und einige Runeninschriften übereinstimmend berichten – diese Zeichen als „reginnkunum“, d.h. götterentstammt. In der Edda wird der Ekstase-, Sieg- und Weisheitsgott Odin als Schöpfer der Runen dargestellt. Der bislang älteste anerkannte Runenfund ist die Fibel von Meldorf, die in das Jahr 50 n.Zw. datiert wird. In der Wikingerzeit wurde das ältere Futhark (Runenreihe) von 24 Runen auf 16 Runen verringert – ein Rätsel, weil der Lautstand sich eigentlich erhöht hatte.

Das vorliegende Buch ist „aus der Sicht eines heidnischen Priesters geschrieben“. Geza von Nemenyi gehört zu den bekanntesten und interessantesten Vertretern der naturreligiösen Szene in Deutschland. Seine „Germanische Glaubensgemeinschaft“ (GGG) kann sich offiziell darauf berufen, das Erbe der von Ludwig Fahrenkrog im Jahre 1908 gegründeten Organisation fortzuführen, die sich eine Rückkehr zur altgermanischen Religion auf die Fahnen geschrieben hatte. Zuletzt geriet Geza von Nemenyi ins Kreuzfeuer wegen eines Aufrufes zum Zusammenschluß der traditionell-germanisch orientierten Heiden, die bestimmte von ihm favorisierte Glaubensvorstellungen als allgemeinverbindlich akzeptieren sollten. Diese Vorstellungen bilden auch den Hintergrund von „Heilige Runen“.

Aus der Flut der esoterischen Literatur zum Runenthema ragt das Buch durch den Materialreichtum und den Bezug auf die historischen Quellen heraus. Im Grunde lässt sich an deutsch erschienenen Büchern damit nur noch Edred Thorssons „Runenkunde“ vergleichen. Man muss die Ansichten des Autors nicht teilen, um Gewinn aus seiner mit viel Fleißarbeit zusammengetragenen Sammlung der Runeninschriften, der Runenlieder, der Codicies, der Stellen aus den Island-Sagas und anderer Überlieferungen zu ziehen. Insbesondere gibt es einige selten gedruckte Belege aus der altenglischen Dichtung zu lesen.

Ebenso bezieht Geza von Nemenyi die von den völkischen Runenokkultisten Kummer und Marby in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelten Runenstellungen oder Runenyoga ein. Hierbei stellt man die jeweilige Rune mit dem Körper nach und intoniert den Runennamen. Sogar die Runenstabkalender des späten Mittelalters werden erklärt, welche sonst in den Runenbüchern kaum auftauchen.

Selbstverständlich enthält dieses Buch Erläuterungen zu den einzelnen Runen, ein Kapitel über die germanischen Mythen, die den Umkreis der Runen bilden, über das Orakelverfahren und über die Verwendung der Runen zu magischen Zwecken. Nach dem Bericht des Tacitus wurde das Orakel bei den Germanen mit Loshölzchen durchgeführt, die aus dem Holz eines Fruchtbaums geschnitzt waren, z.B. der Buche, wovon noch unser Wort Buchstabe zeugt. Dabei hob der Priester oder Familienvater mit zum Himmel gerichteten Blick nacheinander drei Runen auf, die sich vielleicht auf die drei Schicksalsgöttinnen, die Nornen, bezogen – also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die bei Tacitus (und auch bei Caesar) erwähnten „notae“ (=Zeichen) auf den Hölzchen waren vermutlich Runen.

Eine Überfülle an Informationen also – und man sollte eigentlich zufrieden sein. Aber leider finde ich hier Behauptungen, die mir schlicht und einfach die Haare zu Berge stehen lassen. Bei allem Respekt vor dem Autor muss ich doch sagen, dass man nicht einerseits über die Phantastereien einiger Runenokkultisten herziehen kann, um andererseits selbst Ähnliches zu verfassen. So fällt schon unangenehm auf, dass der Autor sich nicht an die (allerdings spät) überlieferte Bezeichnung der aettir (Unterteilungen der Runenreihen) hält, die eindeutig von Frøys aett (der Fruchtbarkeitsgott Frey), Hagals aett (ein Beiname Odins?) und Týs aett (der frühere Himmelsgott und spätere Kriegsgott Tyr) sprechen. Geza von Nemenyi nimmt mit Hilfe äußerst zweifelhafter Etymologien einfach eine ältere Einteilung für die Runenreihe in Wodans (Odin), Donars (Thor) und Tius (Tyr) Runen an. So wird dann auch aus der ersten Rune des Frøys aett *Fehu, die für Viehstand, Besitz, Fruchtbarkeit steht, einfach der „Lufthauch“, um sie mit Odin in Verbindung bringen zu können. Mal abgesehen davon, dass das natürlich im Widerspruch zur Überlieferung der Runenlieder steht, ist gerade diese Rune auf einem der Blekinger Steine für einen Fruchtbarkeitszauber verwendet worden. Die überlieferte Bedeutung des Runennamens lässt der Autor nur noch als jüngere sekundäre Anfügung gelten.

Genauso bleibt die Annahme eines Lehr-, Wehr- und Nährstandes bei den Germanen, deren spezifische Einweihungen durch die jeweiligen Runenreihen symbolisiert werden, eine reine Spekulation. Außer durch das eddische Merkgedicht „Rigsþula“ (vermutlich erst im Hochmittelalter entstanden) wird eine solche gesellschaftliche Gliederung von der Überlieferung nicht bestätigt. Es gab bei den Germanen eine Unterteilung in „nobiles“ (Edle, Adlige), Freie und Unfreie, wobei die „nobiles“ bei den einzelnen Stämmen unterschiedlich stark von den übrigen Freien abgehoben waren. Für einige Stämme, insbesondere die Schweden, die Ostgermanen und die Angelsachsen, sind heilige Königsgeschlechter überliefert, die ihren Ursprung auf Götter zurückführten. Die von Geza von Nemenyi im weiteren gebrachte Beschreibung der angeblichen Einweihungswege der Stände ist nur noch pure Erfindung.

An anderer Stelle wird behauptet, dass unseren germanischen Vorfahren der Frieden wichtiger gewesen wäre als der Krieg. Wenn man die Quellen kennt, mutet dieser Satz fast wie ein Witz an. Ich denke, man kann die Behauptung wagen, dass gerade für die Germanen der Krieg eine der heiligsten Angelegenheiten darstellte – die wichtigsten germanischen Werte waren kriegerische Tugenden. Die Religion und Spiritualität der Germanen hatte zweifelsohne einen kriegerischen Charakter. Zum zweiten darf man nicht vergessen, dass die Germanen eine andere Vorstellung von Frieden hatten als wir. Frieden meinte in erster Linie die aktive Hilfe der Verwandten untereinander – nicht etwa die Abwesenheit von Konflikten. Also bitte! – macht aus unseren Vorfahren keine friedliebenden Gutmenschen!

Es überrascht mich, hier den slawischen Stamm der Wenden so-mir-nichts-dir-nichts als Nachfahren der ostgermanischen Wandalen wiederzufinden. Seitenlang operiert der Autor mit dieser These, ohne dass der Leser darüber aufgeklärt wird, wie er dazu kommt. Erst auf Seite 349 findet sich der kurze Absatz mit der Behauptung, dass es in der Missionierungszeit üblich geworden wäre, heidnische Ostgermanen als „Sclaven“ zu bezeichnen, woraus sich später unter Wegfall des c das Wort „Slawen“ gebildet hätte. Natürlich ist es legitim, eine solche der üblichen Lehrmeinung widersprechende These zu vertreten. Aber man darf nicht vorraussetzen, dass der Leser das einfach schluckt. Es fehlt schlicht ein Kapitel, in dem diese These begründet wird.

Der Gerechtigkeit halber will ich aber noch erwähnen, dass nicht alle Spekulationen des Autors so verstiegen sind wie die bislang genannten. Vielfach regen seine Behauptungen zum Nachdenken an und enthalten originelle Ansätze – so z.B. in seiner Zuordnung der Runen und germanischen Götter zum Jahreskreis oder bei einigen unorthodoxer Deutungen von Runeninschriften. Die Aufteilung der Runen dagegen auf die ohne Runennamen überlieferten sogenannten „Zauberlieder“ in der Edda entpuppt sich wieder als sehr fragwürdig, wobei der Autor zumindest interessante Gedanken entwickelt, die nicht gänzlich von der Hand zu weisen sind.

Im übrigen bin ich im Gegensatz zu Geza von Nemenyi nicht der Meinung, dass man sich wie der Gott Odin in der Edda fastend drei oder neun Tage an eine Esche hängen muss, um die Runen zu erfahren. Für einen Menschen unserer Zeit mit den heutigen Konditionierungen, Prägungen, Verspannungen usw. wäre es wohl sinnvoller, stattdessen ein paar Tage meditierend und kontemplierend in magischer Zurückengezogenheit zu verbringen. Aber gut – darüber lässt sich streiten…

Ich wiederhole es noch einmal – alles in allem ragt das Buch trotz seiner gröberen Fehler qualitätsmäßig aus der Fülle esoterischer Literatur zu den Runen heraus. Ich wünsche diesem Buch kritische Leser, die nicht bedenkenlos alles für erleuchtete Weisheit halten, was der Autor hier von sich gibt. Diese Leser aber werden Gewinn aus „Heilige Runen“ ziehen können.

Taschenbuch: 240 Seiten