Mick O’Hare – Wie dick muss ich werden, um kugelsicher zu sein?

Die Spitze des (Fragen-) Eisbergs

Sogar der in wissenschaftlichen Belangen absolut ahnungslose Zeitgenosse kennt jene raren Momente, in denen er (oder sie) eine alltägliche, selbstverständliche Handlung oder Beobachtung hinterfragt. Wie funktioniert das, und was wäre, wenn man die Ausgangssituation folgendermaßen variiert …? Das hier vorgestellte Buch belegt, dass solche Anwandlungen oft dann aufwallen, wenn man mit Freunden zusammensitzt und zecht.

Mick O’Hare, Redakteur der Zeitschrift „New Scientist“, der führenden englischen Wochenzeitschrift für Wissenschaft und Technik, kennt dieses Phänomen, denn weil oder wenn das Rätsel trotz versammelter Geisteskraft nicht zu knacken ist, wendet sich die Gesellschaft (die sonst vermutlich gern über die Vergeudung von Steuergeldern an nutzloses Forscherpack klagt) gern an ihn und seine Kollegen. 1994 kamen O’Hare & Co. auf den Einfall, solche Fragen in besagtem Magazin zur Diskussion zu stellen. Leser beantworten seitdem Fragen von Lesern, wobei die Redaktion des „New Scientist“ die Moderation übernimmt, d. h. Irrtümer korrigiert, Informationen ergänzt und Spinner aussortiert.

Die 101 nach Ansicht dieser Redaktion allgemein interessantesten und/oder skurrilsten Fragen wurden 2005 im vorliegenden Band gesammelt. Zur Überraschung und Freude der Initiatoren erwies sich die Kolumne „Last Word“ nämlich als Dauerbrenner. Aus der ganzen (angelsächsisch geprägten) Welt beteiligen sich Neugierige und Wissende an der Diskussion.

Ordnung im Fragen-Chaos

Die ausgewählten Beispiele wurden wie folgt gegliedert:

– „Unser Körper“: Verständlicherweise weist der menschliche Organismus eine Vielzahl mysteriöser Eigenschaften auf. Wieso schillert ein Bluterguss so farbenprächtig, obwohl Blut doch rot ist? Lässt sich Schlangengift trinken? Kann sich der Mensch ausschließlich von Bier ernähren? Schmerzt es, wenn man geköpft wird? Wie kann ich meine Leiche in ein Fossil verwandeln? Auch der (deutsche) Buchtitel fällt in diese Kategorie, und siehe da: Es lässt sich wissenschaftlich nachweisen, dass es klappt – bei einem Körpergewicht von 650 kg, was freilich ein Problem durch ein neues ersetzt.

– „Pflanzen und Tiere“ gehören zu unserem Alltagsleben; wir essen sie oder erfreuen uns ihrer Gesellschaft. In beiden Fällen gibt uns ihr Verhalten Rätsel auf. Wie kann ein Baum auf nacktem Stein wachsen? Was treibt ein Maulwurf unter der Erde? Fällt eine Katze wirklich immer auf ihre Füße? Wie lange dauert es, bis ein Meerschweinchen verwest, das in einer Pappschachtel 75 cm tief begraben wurde?

– „Wissenschaft im Haushalt“ kennt man als Vorstufe von Wissenschaft meist unter dem Titel „Was Großmutter noch wusste“. Hier geht man einen Schritt weiter. Also liest man nicht nur den Tipp, Spinat mit dem Edelstahlmesser zu schneiden, sondern erfährt auch den Grund: Zwischen dem Eisen des Gemüses und dem Metall eines eisernen Messers kommt es zu einer chemischen Wechselwirkung, die auf beiden Seiten zu einer unappetitlichen bzw. unschönen Verfärbung führt. Weitere Fragen betreffen die ökologische Gefahr bunt bedruckten Toilettenpapiers oder das merkwürdige Verhalten gekochter Gnocchi.

– „Unser Universum“ bietet an sich Wundersames genug. Doch was geschieht z. B., sollten Außerirdische den Mond abschleppen? Lässt sich Bier in der Schwerelosigkeit brauen? Den Alltag kann der Mensch offenkundig auch im Kosmischen nicht aus dem Hinterkopf verdrängen. Deshalb zielen die meisten Fragen auch auf Irdisches. „Unser Planet“ und hier sein „Wundersames Wetter“ beschäftigen die Erdlinge sehr. Wieso versenkt man Atommüll nicht im glühenden Erdkern? Wie kann ich mich bei einem Vulkanausbruch per Surfbrett retten? Wie viel Wasser enthält eine Wolke?

– „Verkehr verquer“ kündet von der erstaunlichen Beobachtungsgabe diverser Mitmenschen, die u. a. darüber grübeln, wieso sich die Toilettenbeleuchtung in einem Verkehrsflugzeug verzögern einschaltet, sich Menschen und Tiere auf Beinen und nicht auf Rädern fortbewegen oder Autoreifen ständig wechselnde Profilmuster aufweisen. Und könnte man den Ozeandampfer „Queen Elizabeth II“ mit bloßer Muskelkraft durchs Wasser schieben? (Könnte man.)

– „Vom Rest das Beste“: Wer nach dem bisher Gelesenen meinte, verquerer könne es nicht mehr kommen, wird nachdrücklich eines Besseren belehrt. Also: Warum schüttet man ausgerechnet Chlor ins Schwimmbadwasser? Lässt sich ein Dudelsack mit einem Helium-Sauerstoff-Gemisch spielen? Oder Sprengstoff aus Kastanien herstellen? (Beide Antworten: Ja!)

Frage und Antwort: so oder so

Nur dumme Leute stellen dumme bzw. überhaupt keine Fragen. Wer sich erheitert i. S. von herablassend überlegen über die oben zitierten Fragen zeigt, verkennt eine Tatsache: Auch der nicht naturwissenschaftlich gebildete Mensch beobachtet die Welt mit offenen Augen und macht sich Gedanken über ihr Funktionieren. Dies geht soweit, dass er und sie Fragen stellen, wenn sich eine Antwort nicht finden lässt. Entscheidend ist, wie mit solchen Fragen umgegangen wird. Schmettert man sie mit dem Hinweis ab, es gebe in der Welt der Wissenschaft Wichtigeres, um das man sich zu kümmern hat, oder teilt man Wissen, das man sich erworben hat, und kleidet seine Antworten zudem in allgemeinverständliche Worte?

Eine Suggestivfrage, sollte man meinen, doch zumindest in Deutschland ist es keine Selbstverständlichkeit, als Laie von Fachleuten zur Kenntnis genommen zu werden. Es wird besser immerhin, und das ist dem angelsächsischen Vorbild zu verdanken. In England sind sich die forschenden Profis nicht zu fein, Erkenntnisse quasi zweigleisig vorzulegen: als klassisch wissenschaftliche, eine einschlägige Vorbildung des Lesers voraussetzende Fachliteratur, aber auch als von Hinz & Kunz zu begreifende Fassung, die inhaltlich das im Mittelpunkt stehende Phänomen ohne Abstriche zur Kenntnis bringt.

Da dies keine einfache Sache ist, treten professionelle Informationsverbreiter als Vermittler auf. Für „New Scientist“ übersetzen Journalisten wissenschaftlichen Hochsprech; Zeitschriften wie diese sind in Deutschland ebenfalls vorhanden und beliebt. Sie werden auch von Wissenschaftlern gelesen, die sich wiederum – hier schließt sich der Kreis – ihrerseits an der Diskussion beteiligen, die manche Artikel auslösen.

Bis zu einer Frage-und-Antwort-Stunde unter Beteiligung aller Anwesenden ist es nur noch ein Schritt. Dem Puristen mag das ein Gräuel sein. Natürlich lässt sich argumentieren, dass Bücher wie „Wie dick muss ich werden …“ das literarische Äquivalent der „Mythbusters“ sind. Sie ersetzen keine intensive Beschäftigung mit dem gewählten Thema, doch das denken ohnehin nur Zeitgenossen, die Sendungen wie „Galileo“ oder „Terra-X“ für ‚wissenschaftlich‘ halten.

Von Hölzken auf Stöcksken

Die komplexe Natur spiegelt sich in sehr alltäglichen Dingen wider. Umgekehrt kann die Erklärung solcher Alltäglichkeiten naturwissenschaftliche Grundsätzlichkeiten erfassen; so führt die an sich absurde Frage, was ein Verschwinden des Mondes bewirken würde (s. o), zu komplexen Überlegungen, die sich um die Schwerkraft, das Gefüge des Sonnensystems, die Bedeutung von Ebbe und Flut usw. drehen. Von Hölzken auf Stöcksken kommt man dabei, wie nicht nur der Westfale sagt, und womöglich bleiben einige Späne im Hirn des Fragestellers haften. Es ist spannender, die Welt mit Augen zu betrachten, die nicht nur auf das Innere einer Geldbörse gerichtet sind, sondern die gar nicht so alltägliche Umgebung einschließen. Die Leser/innen des „New Scientist“ haben auf beiden Seiten – als Fragende und als Antwortende – sichtlich ihren Spaß dabei, und den können wir nachvollziehen.

„Wie dick muss ich werden …“ kann als Buch dieses spielerische und doch geistvolle Geben und Nehmen nur als Ausschnitt wiedergeben. Herausgeber O‘Hare macht in seinem Vorwort deutlich, dass 101 Artikel nur einen Bruchteil der Fragen repräsentieren, die der Redaktion von „New Scientist“ gestellt wurden. Die Auswahl ist auf jeden Fall subjektiv. Sie zielt auf den größten gemeinsamen Leser-Nenner, denn das Buch soll gut verkauft werden. (Es ist übrigens das ideale Geschenk für den Gast, der keine Ahnung von den Vorlieben seines Gastgebers hat) Also steht das Spektakuläre im Vordergrund, wobei sich wie schon weiter oben angedeutet auch hinter dem Absurden das Allgemeingültige verbergen kann. Deshalb lese man „Wie dick muss ich werden …“ mit Interesse und Vergnügen aber in dem Wissen, dass hier nur schlaglichthaft aufgeklärt wird.

Gebunden: 284 Seiten
Originaltitel: Does Anything Eat Wasps? and 101 Other Questions (London : Profile Books Ltd. 2005)
Übersetzung: Sebastian Vogel
http://www.fischerverlage.de

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