Paxson, Diana L. – Brunhilds Lied (Die Töchter der Nibelungen 1)

_Spannender Fantasyroman über die Nibelungen_

„Brunhilds Lied“ (O-Titel: „The Wolf and the Raven“) ist der erste Band der Trilogie „Die Töchter der Nibelungen“ und schildert, wie die zwei Hauptfiguren aufwachsen werden und einander treffen: der Held Sigfrid und die Walküre Brunhild. Nun sollte jeder seine Erinnerungen aus der Jugend oder Schulzeit hervorkramen, wie die Story ausging, als Richard Wagner oder das „Nibelungenlied“ sie erzählten. Paxson liefert uns eine ganz andere Version.

_Die Autorin_

Diana L. Paxson war zu Lebzeiten Marion Zimmer Bradleys deren engste Mitarbeiterin sowie die Co-Autorin der „Avalon“-Romane. In ihren eigenen Büchern verbindet Paxson genaue historische Recherche mit Elementen aus Mythos und Sage. Als eine der führenden Vertreterinnen der neo-heidnischen Bewegung in den USA zeigt sie dabei ein besonderes Interesse für die paganen Religionen der Spätantike (so etwa das 5. Jahrhundert) und des Mittelalters: Sie kennt die alten Göttinnen und Götter nicht nur aus Büchern, sondern möglicherweise auch aus eigenem Erleben, etwa von Besuchen an deren Tempeln und Altären. Mehrere genaue Beschreíbungen solcher Orte in ihrem Nibelungen-Zyklus sprechen dafür.

_Handlung_

Mitteleuropa im 5. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Es ist die Zeit der Völkerwanderung, eine Zeit, da die ganze bekannte Welt in Bewegung ist. Die Germanenstämme suchen besseres Land im Westen und Süden und überrennen schließlich das Römische Reich, das 453 untergeht. Natürlich machen sich die Stämme auch untereinander Konkurrenz, und so bleiben Schlachten nicht aus.

Das Steppenvolk der Hunnen ist bis nach Passau und Regensburg vorgestoßen, wo die Grenze des weströmischen Reiches verläuft. Der Khan der Hunnen ist Attila. Sein Hauptmann Bladarda schickt seine Tochter Brunhild nach (Schwäbisch) Halle, wo sie zusammen mit der Burgunderprinzessin Gudrun Abenteuer erlebt.

Als sie bei einem Fest den geheimen Brunnen der Hallenser entweihen, schaut Brunhild zum ersten Mal das Antlitz desjenigen Gottes, der ihr ganzes Leben bestimmen wird: Wodan. Er ist der Obergott der Germanen und häufig sieht man ihn unterwegs als Wanderer mit Schlapphut und Wanderstab, doch besitzt er nur ein Auge und seine Begleiter sind stets zwei Raben. Als Gott führt er die Wilde Jagd an, gebietet dem Donner und sucht die Helden in der Schlacht, um sie zu sich nach Walhall zu holen. Dabei dienen ihm die Walküren.

|Die Walküren|

Nach ihrem Frevel werden Brunhild und Gudrun verbannt: Gudrun nach „Heidelberg“ auf die Burg ihrer Mutter Grimhild, bis ihr Bruder Gundohar (= Gunther) König wird. Brunhild jedoch geht einen ganz anderen Weg: Der (erfundene) Frauenorden der Walkyriun lernt sie an, bildet sie aus und nimmt sie schließlich nach harten Prüfungen auf. Diese Kriegerpriesterinnen nennen sich nach den Dienerinnen Wodans und verfügen offenbar über echte Magie. Die Magie rührt vor allem von ihrer Beherrschung der Geisterwelt und des Runenzaubers her. Das hat die Autorin sehr deutlich herausgearbeitet. Das Auftreten einer Walküre im Kampf ist ebenfalls recht eindrucksvoll geschildert. In der Schlacht treten die Walkyriun immer zu neunt auf.

|Siegfried der Schmied|

Währenddessen wächst der junge Sigfrid auf. Er ist der Sohn eines Helden namens Sigmund und einer Frau namens Hiordisa. Nachdem Sigmund von der Hundingssippe getötet worden war, verbarg Hiordisa Sigfrid auf der Burg ihres zweiten Mannes Alb in der Nähe von Oldenburg. Doch die Hundinge entdecken das Geheimnis des gelbäugigen Sigfrid und bedrohen mehrmals sein Leben.

Daraufhin nimmt Ragan der Schmied den Jungen als Ziehvater an und bildet ihn in seiner Schmiede im Teutoburger Wald aus. Doch der Junge lernt viel mehr von den Tieren des Waldes, besonders von den Wölfen. Kein Wunder: Von seinem Vater Sigmund hat er die Fähigkeit des Gestaltwandels geerbt: Er kann sich in einen Wolf verwandelt, wenn es darauf ankommt. Diese Waldszenen sind sehr schön und spannend geschildert.

|Der Nibelungen Hort|

Doch Ragans Sippe ist auch nicht ohne. Sein Vater Hreidmar gehörte dem viel älteren Erdvolk an und verfügte über Gestaltwandelmagie. Er hatte drei Söhne: Ragan, den Metallformer; Ottar, der in Ottergestalt von Burgunden, genauer: von ihrer Königssippe, den Niflungen, getötet worden war; und schließlich den boshaften Fafnar, der alle piesackte. Der Mord an Ottar musste mit Blutgeld gesühnt werden – und hier beginnt die ganze Geschichte: Die Niflungen (= Nibelungen) plündern die wertvollen Goldschätze, die einer heiligen Quelle der Erd-Göttin geopfert worden waren. Darunter sind zwei besondere Stücke: ein Ring und ein Runenstab. Andwari, der Hütter der Quelle, verflucht die Plünderer, die sich nun freikaufen. Doch Fafnar ermordert seinen Vater Hreidmar für das Gold und rafft den Hort an sich, um ihn als Drache zu bewachen, in einer Höhle über dem Rhein, dem Drachenfels.

|Ragans Plan|

Ragan, selbst nicht ohne Goldgier, plant nun, Fafnar den Hort abzujagen! Dazu braucht er Sigfrids Hilfe. Er macht ihn zu seinem Helden. Mit Wodans Hilfe schmiedet Sigfrid das zerbrochene Schwert seines Vaters und macht es zu einer Waffe, die es mit einem Drachen aufnehmen kann. Dann ziehen die beiden gen Westen, um Ragans Bruder zu töten. Ein verhängnisvolles Vorhaben, denn auch Sigfrid ist mit Fafnar verwandt. Es folgen einige der faszinierendsten Szenen des ganzen Buches. Nicht so sehr wegen der Action, sondern weil hier Wahn und Wirklichkeit, Lüge und Wahrheit aufeinandertreffen.

|Brunhilde in der Waberlohe|

Bei einer Schlacht der Burgunden gegen die Alemannen um das Land am Oberrhein stellt sich der Orden der Walkyriun auf die Seite der Alemannen. Seltsam jedoch, dass die Burgunden trotzdem die Schlacht gewinnen. Ihr König Gundohar, eigentlich ein Angsthase, begegnete Brunhild und wurde von ihr verschont – Wodan will Helden, keine Hosenscheißer.

Nachdem Gundohar, von Wahnsinn gepackt, die Schlacht gewendet hatte, wird Brunhild von ihren Schwestern des Verrats angeklagt. Man entehrt sie, entkleidet sie und kettet sie auf der Erde an, auf dass der erstbeste Mann sie nehme. Doch Wodan, ihr Schutzherr, umgibt sie mit einem Kreis aus Feuer, der bekannten „Waberlohe“. Und wer befreit sie nun aus ihrer misslichen Lage? Na, dreimal dürfen wir raten.

|Hilfreiches Beiwerk|

Eine Landkarte des damaligen Germanien um 410-420 erweist sich während der Lektüre als wertvoller Helfer. Leider hat der Verlag die Karte aus der Hardcover-Ausgabe etwas vereinfacht, so dass die Provinznamen und -grenzen fehlen. Etliche der Ortsnamen sind im umfangreichen Glossar erklärt.

Stammtafeln verdeutlichen die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Geschlechtern und erklären etwa, warum Sigfrid ein Sippenmörder ist (Ragan und Fafnar waren über seine Großmutter mit ihm verwandt). In dieser Ausgabe fehlt die Stammtafel für die Niflungen, also Gudrun und Gundohar (König Gunther von Burgund). Das ist zu verschmerzen, denn es vermindert die Verwirrung.

Ganz wichtig für das Buchverständnis sind der germanische Kalender und die Runen. Alle Kapitel sind nicht mit den römischen Monatsnamen datiert (Januar etc.), sondern mit den germanischen Namen (Heumond = Juli). Auch die Festtage der Germanen finden eine Erklärung.

Die nordisch-germanischen Runen sind für die Magie, die Brunhild und die Walkyriun ausüben, von zentraler Bedeutung, rufen sie doch die Mächte der Natur und der Götter herbei. In einer wichtigen Szene erhält Brunhild ihre Zaubermacht durch die geistig-spirituelle Aufnahme der Runen, in einer anderen bedeckt sie ihren Geliebten Sigfrid von Kopf bis Fuß mit einer Heilsalbe und stärkenden Runen.

In einem Abschnitt „Hintergründe und Quellen“ liefert die Autorin einen geschichtlichen Abriss des fünften Jahrhunderts und erläutert, warum sie den jeweiligen Buchteil so und nicht anders geschrieben hat. Das ist insofern wichtig, weil sie ja in unzähligen Einzelheiten vom historisch überlieferten „Nibelungenlied“ und erst recht von den Wagner-Opern abweicht.

Neueste Theorien der Kulturgeschichte werden hier relevant. Die Quellen, die sie anführt, sind meist ältere Bücher aus den sechziger Jahren. Sie erlaubten ihr u. a. das Schmieden eines Schwertes oder die Ausbildung einer Magierin nachzuzeichnen und lebendig zu schildern. Außerdem finden sich hier Hinweise auf die Herkunft der zahlreichen Gedichte und Zaubersprüche, die Paxson in die Erzählung eingestreut hat.

_Fazit_

Für mich war „Brunhilds Lied“ eine spannende und sehr unterhaltsame Lektüre. Dies lag vor allem an der lebendigen Schilderung der Abenteuer und des völlig unterschiedlichen Lebensweges der zwei Hauptfiguren, Brunhilde und Sigfrid. Es ist, als ob man die zwei wie Geschwister kennen lernte.

Nur wenn man ihr Umfeld genauer versteht, bekommt man einen gewissen Zugang dazu, worum es im Nibelungenlied eigentlich geht: um die Umschichtung miteinander in Konflikt stehender Werte. Sigfrid und Brunhilde kommen beide mit den Werten ihrer jeweiligen Gemeinschaften nicht mehr zurecht, beiden sind Ausgestoßene. Das, was sie tun und was sie an neuen Werten vertreten, bewegt das Schicksal ganzer Völker, namentlich der Burgunder.

Zu erfahren, welche Völker vor den Germanen in Mitteleuropa lebten, war recht überraschend. Das Erdvolk Hreidmars und die Kelten gehören dazu. Die germanischen Stämme wie die Alemannen hingegen bestanden aus Bruchstücken mehrerer anderer Stämme, die in den Territorialkämpfen Mitteleuropas zersplittert wurden. Sie treffen wiederum auf die Römer, die links des Rheines intakte Provinzen bewirtschaften und schützen. Außerdem begegnen die Burgunder erstmals dem Christentum und nehmen es an, wohingegen die Alemannen die alten Götter bewahren (deshalb stellen sich die Walkyriun auf ihre Seite). Es ist ein Wunder, dass die Burgunder nicht zwischen allen Fronten – da sind ja auch noch die vorrückenden Hunnen im Osten – zermalmt werden.

Wie man sieht, war das fünfte Jahrhundert nicht nur turbulent, sondern entscheidend für die Entstehung der deutschen Königstümer der Franken etc., bis schließlich Kaiser Karl der Große ein ganzes Reich daraus schmiedete.

|Für wen sich dieses Buch eignet|

Auch wenn man die ganzen geschichtlichen Hintergründe und die faszinierende Magie nicht beachtet: Es bleibt doch immer noch ein spannendes und bewegendes menschliches Drama, das sich da entfaltet. Und so kann es im Grunde jeder mit Vergnügen und Gewinn lesen.

|Originaltitel: The Wolf and the Raven, 1993
Aus dem US-Englischen von Helmut W. Pesch|