Guillaume Prévost – Die steinerne Pforte (Das Buch der Zeit 1)

Bitte eine Münze! Zeitreise mit Sonnensteinen

Wer Bücher liebt, lebt gefährlich. Das hätte sich der 14-jährige Sam niemals träumen lassen, als er eines Tages auf der Suche nach seinem verschwundenen Vater ein mysteriöses Buch entdeckt. Seltsam: Seine Seiten sind alle gleich. Doch als Sam auf einen Stein, in den ein Sonnensymbol eingeritzt ist, eine Münze legt, wird er in eine andere Zeit transportiert.

Nach seiner Rückkehr will ihm seine Cousine Lilli helfen, damit Sams Vater nicht dem grausamen Herrscher Vlad Tepes in die Hände fällt. Denn dieser wird nun auf den Seiten des Buchs der Zeit dargestellt. Und die schlaue Lilli weiß aus dem Geschichtsunterricht: Vlad Tepes ist kein anderer als das Vorbild für den Inbegriff der Vampire: Dracula …

Der Autor

Guillaume Prévost, geboren 1964 auf der Insel Madagaskar, ist ein Pariser Geschichtsprofessor, der u. a. ein Werk über den Zweiten Weltkrieg veröffentlichte. Prévost ist Mitarbeiter beim Fernsehsender „Histoire“ und hat mehrere Romane veröffentlicht, in denen er Fiktion und historische Persönlichkeiten kombinierte, darunter die „Die sieben Verbrechen von Rom“ (2000), in dem Leonardo da Vinci auftritt, sowie „Das Geheimnis der geheimen Kammer“ (die deutschen Titel stammen von mir).

„Das Buch der Zeit“ ist eine Jugendbuch-Trilogie, in der Prévost seine Hauptfigur in verschiedene Zeiten und Schauplätze schickt, wie es vor ihm Madeleine L’Engle („Die Zeitfalte“) getan hat.

Der Sprecher

Claus Brockmeyer ist seit über 20 Jahren im Theater-, TV- und Sprecherbereich tätig. Er synchronisierte laut Verlag u. a. Rollen in „101 Dalmatiner“, „Cars“ und „Asterix und die Wikinger“. So gesehen, ist er genau der Richtige für ein Wikingerabenteuer, das der Held in „Das Buch der Zeit“ erlebt.

Handlung

Der 14-jährige Samuel Faulkner ist ein ganz normaler Schüler in einer ganz normalen Stadt in Amerika. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem er versucht, eine Spur auf den Verbleib seines seit zehn Tagen verschollenen Vaters Allan zu finden. Sams Mutter ist schon vor drei Jahren bei einem Autounfall gestorben, und so lebt er nun bei seinen Großeltern, neben dem Zimmer seiner zwölfjährigen Cousine Lili.

Der Sonnenstein

Sam stibitzt die Schlüssel zum Antiquariatsbuchladen seines Vaters, der sich in einem heruntergekommenen Stadtviertel befindet, und stößt auf Vaters Anrufbeantworter auf eine ominöse Warnung des Nachbarn Max. Nach einer Weile des Suchens findet Sam hinter einer sehr guten getarnten Wand ein kleines Kämmerchen, in dem sich ein kleines rotes Buch und eine niedrige Steinstele befinden. In diesen Steinsockel ist eine sechsstrahlige Sonne eingraviert.

Leider gibt es keinen Hinweis, keinen Brief oder dergleichen, der Sam helfen würde, diese Funde zu verstehen. Aber er kann kombinieren. Und legt eine Münze mit einem Loch darin auf die Vertiefung in dem Stein, in die sie zu passen scheint. Eine sengende Hitze scheint seinen Arm zu verbrennen, dann erwacht er an einem anderen Ort …

Iona, Irland

Es ist die irische Insel Iona im Jahre des Herrn 800 – und am nächsten Tag wird sie von Wikingern überfallen. Ihm gelingt die Flucht mit einer weiteren Münze und einem Sonnenstein. Während Sam noch herausfindet, dass er im Grabmal eines altägyptischen Priesters namens Setni gelandet ist, wird er Zeuge eines Komplotts, dem der Priester des Pharao Ramses III. zum Opfer fallen soll. Darf er in den Lauf der Geschichte eingreifen?

Rückkehr

Nach seiner Rückkehr in die Gegenwart ist der Wirbel natürlich groß, doch das Einzige, woran Sam denkt, ist sein Vater. Auf dem Dachboden findet er Zeitungsausschnitte, die belegen, dass sein Vater einst als Praktikant in Ägypten weilte, um in Theben bei Ausgrabungen eines gewissen Prof. Chamberlain zu helfen. Es gab einen Skandal, als Münzen aus dem Mittelalter gefunden wurden. Offenbar ist Allan Faulkner ein weit- und zeitgereister Mensch, der überall seine metallenen „Fahrscheine“ hinterlässt. Wozu? Na, um alte Bücher aufzutreiben, natürlich! Doch wo ist er jetzt?

Sams Cousine Lilli ist die Beste ihrer Klasse, und dank ihrer Kombinationsgabe erkennt sie schnell die entscheidenden Zusammenhänge. Demnach gibt das von Sam gefundene Buch, das auch sie gelesen hat, die Zeit und den Zielpunkt des Zeitreisenden an. Und mit einer Vertiefung im Sonnenstein kann man etwas damit transportieren, Bücher beispielsweise. Im Buch ist aktuell nur eine Information auf allen Seiten zu sehen: Vlad Tepes, der Herrscher der rumänischen Walachei aus dem 15. Jahrhundert, der für seine Grausamkeit den Beinamen Dracul erhielt.

Falls Sams Vater in Vlads Hände gefallen ist, so droht ihm höchste Gefahr! Von Max, dem Nachbarn, bekommt Sam eine Lochmünze, die genau in den Sonnenstein passt – seine Fahrkarte. Doch Lilli warnt ihn: Was, wenn Vlad Dracul seinen Vater gefangen hält? Dann droht auch Sam Gefahr, nicht wahr?

Brügge

Sam schlägt diese Warnung jedoch in den Wind, denn er hat nun wirklich Angst um seinen Vater, und mit einem sengenden Schmerz reist er in die Zielzeit. Verwirrt stellt er fest, dass er auf einem Friedhof gelandet ist. Zwar ist es das 15. Jahrhundert, doch man schreibt das Jahr 1430, und dies ist nicht die Walachei, sondern die schöne und stolze Handelsstadt Brügge …

Mein Eindruck

Dem Autor gelingt es, auf einfühlsame Weise die Gefühls- und Gedankenwelt von Sam darzustellen, und zwar so, dass sie einigermaßen glaubwürdig erscheinen. Natürlich hätte ein älterer Mensch zunächst an seinem Verstand gezweifelt, wenn er sich plötzlich in einer anderen Zeit und Umgebung wiedergefunden hätte. Sam ist jedoch widerstandsfähiger – und außerdem bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich schleunigst anzupassen. Denn sonst wird er entweder als Spion oder Teufel schnellstens zum Tode befördert. Immer wieder muss er deshalb seine in der Moderne erworbenen Einstellungen und Empfindungen einer völlig anders gearteten Gesellschaft anpassen, um überleben zu können.

Eine große Hilfe ist ihm dabei jedoch der Umstand, dass ihm die Zeitreise eine Art Übersetzungsprogramm mitgibt, so dass er in der Zielzeit auch die jeweilige Sprache verstehen und rudimentär sprechen kann. Wie dies zustande kommen soll, wird nicht erklärt, und auch Sam wundert sich darüber, aber wenn’s hilft, hat er sicher nichts dagegen. Dieser Bruch in der Logik ist das einzige Manko der Geschichte. Aber je mehr Sam über das Zeitreisen und die Sonnensteine herausfindet (z. B. bei einem Alchemisten in Brügge), desto mehr darf der Leser hoffen, dass auch dieses Rätsel gelöst wird.

Sams Reisen sind sowieso nur eine alternative Methode zu Schulausflügen, um fremde Länder und Sitten kennen zu lernen – mit dem Bonus, nun auch eine andere Zeit erkunden zu können. Der Geschichtsprofessor Prévost hat damit einen Weg gefunden, seinen Schülern Wissen aus seinem Spezialgebiet auf unterhaltsame und lehrreiche Weise nahe zu bringen. In seiner Methode schwankt der Autor, und es ist nicht sicher, ob er auf die übliche Mystik à la Katharer oder Illuminati hinauswill. Ohne weiteres ist er imstande, auch Einsteins Relativitätstheorie kurz mal praktisch zu erläutern – ohne dabei jedoch die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen. So tut der Autor so, als stünde die Erde im Weltraum an Ort und Stelle und alle Zeiten seien quasi übereinander gestapelt – eine völlig unrealistische und mittelalterlich-geozentrische Vorstellung.

Dass jedoch Sams Zeitreisen nur Schülerausflüge ohne Bedeutung wären, wird im letzten Drittel widerlegt. Erstens stößt Sam in Brügge auf ein Mädchen, das verblüffende Ähnlichkeit mit seiner Schulflamme Alicia Todds aufweist. Was wäre, wenn sie nicht den Jungen heiraten würde, den sie liebt? Würde dann Alicia nie geboren werden? Sam sieht sich veranlasst, korrigierend einzugreifen – eine moralische Entscheidung, die ihm leichtfällt. Doch was ist mit schwierigeren Entscheidungen?

Eine weitere Konsequenz des physischen Vorgangs des Zeitreisens ist ein Phänomen, das ich hier zum ersten Mal gefunden habe: ein temporaler Dopplereffekt. Dass er kurz hintereinander zweimal das Gleiche sieht und erlebt, wirkt auf Sam zunächst sehr verwirrend. Er weiß nicht, was nun real und was die Illusion ist. Oder ist beides echt? Was ihn zunächst stört, erweist sich im Finale, als er gegen seinen Erzfeind Monk einen Judo-Wettkampf bestreitet, als klarer Vorteil: Er weiß schon im Voraus, was sein Gegner als Nächstes tun wird!

Das Beste an diesem Buch ist also, dass sich Sam weiterentwickelt, sowohl körperlich (er wird stärker) als auch geistig (Dopplereffekt, Sprachen) und seelisch (mehr Empathie für seine Mitmenschen). Gut fand ich auch, dass er auf seine Cousine Lili angewiesen ist. Sie mag ihm zunächst zwar als nervige Zicke erscheinen („Mädchen!“), aber nur die Tatsache, dass sie an ihn denkt, rettet ihn vor dem Verlorengehen in den Tiefen der Zeit. Sagt er jedenfalls. Wir müssen es ihm glauben. Außerdem ist sie die Schlauere von ihnen beiden.

Der Sprecher

Brockmeyer liest sehr deutlich und verständlich. Am Ende eines Satzes macht er eine kleine Pause, am Ende eines Kapitels eine längere, außerdem liest er jede Kapitelüberschrift vor. Auf diese Weise kann sich der Hörer leicht im Text orientieren. Mit Bewunderung stellte ich fest, dass sein Französisch makellos ist.

Er versucht, die einzelnen Figuren unterscheidbar zu machen, was ihm durchweg gut gelingt. Mit Sams Großmutter ist der Unterschied zu Sam am leichtesten festzustellen, denn sie hat eine höhere Tonlage und eine klagende Ausdrucksweise. Lili spricht nur ein ganz klein wenig höher als, was doch ein wenig verwundert. Ein weiterer „Charakterkopf“ ist dem Sprecher mit Max gelungen, dem alten Nachbarn von Allans Buchladen. Er krächzt und brummt so grantig, dass man ihn sich sehr gut vorstellen kann. Die Bösen sind ebenso gut charakterisiert, so etwa der Vogt und der dicke Monk.

Für ein vertontes Kinder- und Jugendbuch sind Emotionen sehr wichtig, denn sie erleichtern das Einfühlen in die erzählte Situation. Daher begrüße ich es, wenn Sprecher auch mal rufen. „Los!“ und „Hallo!“ sind noch die normalen Rufe, aber es kommt noch besser. Im finalen Judowettbewerb hat der Schiedsrichter japanisch Fachausdrücke zu rufen, und der Sprecher drückt sie mit hörbarem Genuss aus: „Hajime“ – „Kämpft!“

Mit gelinder Verwunderung registrierte ich, dass der Hörbuchtext um das komplette zweite Abenteuer Sams gekürzt wurde. Statt also in Verdun zu stranden, findet sich Sam auf einmal im finsteren Inneren eines Grabmals in Ägypten wieder. Die Kürzung hat keinerlei Folgen, denn in Verdun nimmt Sam nichts mit, sondern lernt nur etwas besser, sich mit den Phänomenen der Zeitreise zurechtzufinden. Erst in Theben erfährt er etwas über seinen Vater – und dass er einen Halbbruder hat …

Die Aufmachung

Das ursprüngliche Buch ist ganz in edlem Rot und Gold gehalten, und der Prägedruck vermittelt zusätzlich den Eindruck, man halte ein uraltes Buch in Händen. Hinzu kommt noch, dass der Buchrücken aussieht, als sei er bereits abgenutzt und abgestoßen – genau so, wie ein antiquarisches Buch eben aussehen würde.

Zwei goldfarbene schlüsselförmige Ornamente im unteren Drittel von Vorder- und Rückseite legen den Schluss nahe, dass es sich hier um einen Verschluss handeln könnte, der das Buch, wenn es wirklich ein altes wäre, zusammengehalten hätte. Auf der Vorderseite ist die altägyptische Version eines Sonnensteins zu sehen. So viel Design- und Druckaufwand ist sehr sympathisch und hebt das Buch aus der Masse der Jugendbücher heraus.

Dieses Design wird fast komplett von der Hörbuchausgabe wiederholt. Natürlich kann aber der „Buchrücken“ hier nicht reproduziert werden. Aber immerhin die Kanten sehen zerschlissen aus.

Das Booklet

Neben Informationen über den Autor – die sich nicht im Buch finden! – und den Sprecher vermittelt die innere Doppelseite einen visuellen Eindruck von den vier Orten, an denen Sam seine ersten Abenteuer erlebt: Iona, Theben, Brügge, Nordfrankreich. Außerdem sind die Münzen und der Sonnenstein abgebildet, die Sam benutzen muss, um in der Zeit zu reisen.

Unterm Strich

Bis auf die ungeklärte Tatsache, dass Sam einen eingebauten Sprachcomputer mitbekommt, ist dieses Buch für Leser um 14 Jahre ein rundum gelungenes Leseerlebnis. Der Held ist sympathisch und sehr menschlich: Er weiß auch nicht mehr als du und ich, geht mit Foto-Handys und E-Mails um wie alle, und lernt am Schluss noch so viel dazu, dass ihm ein Sieg vergönnt ist. Die Fortsetzung dazu würde ich gerne lesen. Sie trägt den Titel „Das Buch der Zeit: Die sieben Münzen“.

Wem dieses Abenteuer gefällt, der sei auf die ähnlichen Zeitreiseabenteuer „Die Zeitfalte“ von Madeleine L’Engle und die Serie um Justin Time von Peter Schwindt hingewiesen (1. Zeitsprung; 2. Der Fall Montauk; 3. Das Portal; 4. Verrat in Florenz).

Das Hörbuch verzichtet auf das zweite Zeitreiseabenteuer Sams, das in Verdun 1916 stattfindet. Das macht aber nichts – siehe oben. Dadurch ist die Lesung kürzer und das Hörbuch billiger. Der Sprecher macht seine Sache ausgezeichnet und dürfte besonders Jugendliche und Kinder ansprechen. Da die blutige zweite Zeitreise gekürzt wurde, ist an Brutalität nichts mehr festzustellen. Aber natürlich gibt es durchaus Spannung und Action, Romantik und menschliches Regen. Und das ist letzten Endes die Hauptsache.

219 Minuten auf 3 CDs
Originaltitel: Le livre du temps 1. La pierre sculptée, 2006
Aus dem US-Französischen von Anke Knefel
www.arena-verlag.de