Ellery Queen – Die Zange

Queen Zange Cover kleinAls die Polizei von New York in einem bizarren Mordfall, der in einer fahrenden Straßenbahn begangen wurde, nicht mehr weiterweiß, schaltet sie den ehemaligen Schauspieler und Privatermittler Drury Lane ein, der einen noch längst nicht beendeten Rachefeldzug aufdeckt … – Der erste Band der Drury-Lane-Serie bietet Rätselkrimi-Klassik vom Feinsten, auch wenn sich der Verfasser zwecks finaler Auflösung arg nach der Decke strecken muss: für Genre-Fans ein Fest, doch dieses Buch ist selten!

Das geschieht:

In New York war Börsenmakler Harley Longstreet berüchtigt als grober Klotz, dem es Vergnügen bereitete, Menschen vor die Köpfe zu stoßen. Im Büro war er faul, privat ein Schürzenjäger und Spieler, der sein Geld verprasste und sich gewaltige ‚Vorschüsse‘ von seinem Kompagnon John de Witt geben ließ, die er niemals zurückzahlte. Zu allem Überfluss verführte er de Witts Gattin, die er wenig später fallenließ, um der Sängerin Cherry Lane einen Heiratsantrag zu machen.

Um dies zu feiern, lud er de Witt und einige eher widerstrebende Geschäftsfreunde in ein feudales Restaurant ein. Da kein Taxi aufzutreiben war, fuhr die Gruppe mit der Straßenbahn. Hier geschah es, dass Longstreet ein Ball aus Kork in die Rocktasche geschmuggelt wurde. Ihn durchbohrten 53 Nadeln, die in giftiges Nikotin getaucht waren. Als Longstreet nach seiner Lesebrille tastete, stach er sich in die Hand und war Minuten später tot.

Inspektor Thumm und Staatsanwalt Bruno stehen vor einem Rätsel: Niemand hat das Straßenbahnabteil betreten oder verlassen, alle Fenster waren nachweislich fest geschlossen. Der Mörder muss also einer der Fahrgäste sein, doch es gibt keinerlei Hinweise. Da der Druck von oben wächst und die Medien hetzen, bitten Thumm und Bruno in ihrer Not den exzentrischen Ex-Theaterstar und Ermittler Drury Lane um Hilfe.

Dieser übernimmt den Fall, obwohl die Zahl der Verdächten stetig wächst; so hatte Longstreet sogar de Witts Tochter Jeanne belästigt. Auch der Ire Michael Collier saß ihm im Nacken, weil er von Longstreet zu einem faulen Aktiengeschäft überredet wurde. Ein Durchbruch scheint nahe, als sich der Schaffner der Mord-Straßenbahn meldet und bisher unbekannte Fakten ankündigt; bevor er auspacken kann, geht er während einer Fährenfahrt über Bord. Am Tatort: John de Witt, der somit endgültig zum Hauptverdächtigen wird, was Drury Lane allerdings zu simpel dünkt …

Ellery Queen und Barnaby Ross

Sie waren jung & voller Energie, sie waren erfolgreich – und sie waren geschäftstüchtig: 1928 hatten die Vettern Frederic Dannay und Manfred Bennington Lee die zeitgenössische Krimi-Szene mit einem veritablen Paukenschlag betreten. Sie schufen den genialen und etwas exzentrischen Privatdetektiv Ellery Queen, der seine Abenteuer angeblich selbst niederschrieb. Dannay & Lee nannten sich also „Ellery Queen“, als sie dem ersten Krimi in kurzen Abständen weitere, sogar noch erfolgreichere Romane folgen ließen.

In diesen frühen und kreativen Jahren waren sie damit schriftstellerisch keineswegs ausgelastet. 1932 starteten Dannay & Lee eine zweite Serie um den ehemaligen Schauspieler und Ermittler Drury Lane. Um sich nicht selbst Konkurrenz zu machen, erschienen diese Romane unter dem Pseudonym „Barnaby Ross“.

Zumindest in Deutschland steht diese Reihe seit jeher im Schatten der Ellery-Queen-Romane, obwohl hierzulande alle vier Drury-Lane-Bände erschienen. Dabei bieten sie Krimi-Handwerkskunst vom Feinsten, präsentiert von zwei Autoren in juveniler Hochform, die in dieser Phase ihres Schaffens das „Whodunit“-Element über die Figurenzeichnung stellten und ausgerechnet auf diese Weise der Zeit ein Schnippchen schlugen: Die ‚künstlichen‘, auf das Rätsel zentrierten Kriminalromane der frühen 1930er Jahre sind zeitlos, weil ihre Handlung der Realität nur bedingt verpflichtet ist.

Straßenbahn, Fähre und Eisenbahn

Folgerichtig gestatten sich Dannay & Lee diverse Eigenheiten, die ausschließlich als spielerisches Beiwerk zu deuten sind. So residiert Drury Lane in einem monströsen, Anwesen, das außen wie innen als Kopie eines Schlosses aus dem England der elisabethanischen Ära gestaltet ist. Der Hausherr hat seine Rolle/n als berühmter Shakespeare-Interpret offensichtlich verinnerlicht und kann auch nach seinem Rückzug von der Bühne nicht von ihr lassen. Dies schließt auch das nackte Modellstehen für ein Gemälde ein; eine Szene, die mit trockenem Humor nicht der Krimi-Handlung dient, sondern einfach unterhält.

Schon 1932 war die Suche nach Stätten für eigentlich unmögliche bzw. ‚perfekte‘ Morde im vollen Gange. Allseits beliebt war der von innen verschlossene Raum, der deshalb immer wieder aufgegriffen und variiert wurde. Dannay & Lee fanden für „Die Zange“ gleich drei interessante Tatorte. Das rollende Straßenbahn-Abteil wirkt heutzutage besonders exotisch; es wird von den Autoren sehr sorgfältig für ein „locked-room-mystery“ präpariert. Auch das Fährboot, von kaltem Wasser umgeben, ist ein eigentlich gut überschaubarer Ort. Dennoch ist der Täter sowohl hier als auch an einer dritten, ähnlich unwahrscheinlichen Stelle unsichtbar: Der Mord in einem auf ihren Schienen durch die Nacht rasenden Eisenbahnwagen findet immerhin drei Jahre vor Agatha Christies „Mord im Orient-Express“ statt!

Niemand kann’s eigentlich gewesen sein

In der Wahl der Schauplätze zeigen sich Dannay & Lee sehr modern. Die Figurenzeichnung kann da wie schon angedeutet nicht mithalten. Sämtliche Verdächtigen haben etwas zu verbergen, alle hatten sie Gründe, Longstreet zu töten. Darin erschöpft sich ihre Daseinsberechtigung. Wesenstiefe zeigen sie alle nicht; sie verkörpern Rollen in einem Kriminalspiel: die betrogene Frau, der erpresste Geschäftspartner, der übervorteilte Kunde, der ohnehin suspekte Ausländer usw.

Das Rätsel steht im Vordergrund. Der Leser soll sich gleichzeitig ratlos und neugierig fragen, wie es sich in seiner ganzen Vertracktheit lösen lässt. Dannay & Lee scheinen sich in ihrem Überschwang dabei selbst in eine Falle gelockt zu haben. Immer wüster verwirbeln sie Verdachtsmomente und falsche bzw. fehlgedeutete Indizien, bis schließlich das Schürzen des Plot-Knotens ansteht. Es gelingt ihnen, aber sie müssen ihn dabei tüchtig walken. Die Auflösung ist möglich, aber wahrscheinlich ist es nicht, was als Lösung dargeboten wird.

Zudem klingt die Geschichte hinter dem Verbrechen nicht nur aus der Ferne nach Arthur Conan Doyle. Vor allem Anklänge an den Sherlock-Holmes-Roman „The Sign of the Four“ (1890; dt. „Das Zeichen der Vier“) lassen sich ausmachen. Der von Dannay & Lee entworfene Rachefeldzug eines betrogenen Schatzsuchers passt in der Tat besser ins 19. Jahrhundert. Noch einmal sei jedoch daran erinnert, dass die im genreüblichen großen Finale unter Anwesenheit aller Verdächtigen erfolgende Rekonstruktion des Verbrechens und Entlarvung des Täters lückenlos und spannend ist.

Ein Detektiv mit nur vier Sinnen

Sowohl Genialität als auch Exzentrik allein machen einen Detektiv nicht zur beliebten und serientauglichen Hauptfigur. Er muss über Eigenschaften verfügen, für die ihn der Leser schätzt. Dannay & Lee gehen in Sachen Drury Lane einen anderen Weg: Ihm fehlt eine Eigenschaft. Lane ist taub; dies ist auch der Grund für seinen Rückzug von der Bühne.

Der Verlust des Gehörs hat ihn durchaus in eine Krise geraten lassen, wie er Thumm und Bruno bei ihrer ersten Begegnung erläutert. Da Lane ein energischer und positiv denkender Mann ist, hat er sich schließlich mit der Behinderung auseinandergesetzt. Unter Berücksichtigung seiner Theatererfahrung hat er sie als Ansporn und günstige Voraussetzung für eine neue Tätigkeit als Ermittler begriffen.

Damit ist nicht unbedingt Lanes überragendes Geschick gemeint, mit dem er in immer neue Masken schlüpft. Schon Sherlock Holmes hatte auf diesem Feld geglänzt. Lane definiert seine Sonderstellung als mit Taubheit geschlagener Ermittler so: „Es hat mich zur schärfsten Konzentration gezwungen … Ich vermag mich einzufühlen. Ich habe Distanz zu den Dingen gewonnen. Ich kann mich vollständig in die Psyche der anderen eindenken.“ (S. 9)

Hauruck-Gesetzeshüter

In dieser Frühphase ihrer Schriftstellerlaufbahn vermochten Dannay & Lee das Besondere dieser Methode nur hervorzuheben, indem sie die Gesetzeshüter in Lanes Umfeld in übereifrige, betriebsblinde, grobmotorische Greifer verwandelte. Besonders Inspektor Thumm ist ein ‚Bulle‘, wie er im Buche und B-Movie steht. Hat er ein, zwei Indizien entdeckt, will er umgehend deren Verursacher als Täter einlochen. Schon äußerlich ist er ein Klotz, der seinem Job am liebsten körperlich nachgeht. Nachdenken ist seine Sache nicht. Auf der anderen Seite ist Thumm einsichtig. Er kann aus Fehlern lernen und wird Lane, dessen Ermittlungsprimat er anerkennt, schließlich ein bereitwilliger Erfüllungsgehilfe.

Ähnlich gestrickt ist Staatsanwalt Bruno. Er gibt in einer dramatischen Gerichtsszene den alles andere als unparteiischen Bullenbeißer, der den im Grunde nur verdächtigen Angeklagten um jeden Preis verurteilt sehen will. Auch er benötigt ein Aha-Erlebnis, um endgültig den Weg für Lane freizumachen – ein geschickter Schachzug der Autoren, mit dem sie verdeutlichen, wieso ein Amateur einen Mordfall quasi an sich reißen kann.

Alles in allem ist „Die Zange“ ein Geheimtipp für die Freunde des klassischen Kriminalromans. In Deutschland darf man dies sogar wörtlich nehmen: Nur zweimal, 1935 und 1953, ist dieser Roman hierzulande erschienen und deshalb ausgesprochen selten. Sollte man ein Exemplar erwischen, ist Lektüre-Spaß garantiert. Zusätzlich sei darauf hingewiesen, dass „The Tragedy of Y“ (dt. „Der Giftbecher“/„Die Tragödie von York“), der zweite Drury-Lane-Krimi, sogar noch besser geraten ist.

Autoren

Mehr als vier Jahrzehnte umspannt die Karriere der Vettern Frederic Dannay (alias Daniel Nathan, 1905-1982) und Manfred Bennington Lee (alias Manford Lepofsky, 1905-1971), die 1928 im Rahmen eines Wettbewerbs mit „The Roman Hat Mystery“ als Kriminalroman-Autoren debütierten. Dieses war auch das erste Abenteuer des Gentleman-Ermittlers Ellery Queen, dem noch 25 weitere folgen sollten.

Dabei half die gut ausgeprägte Fähigkeit, die Leserschaft mit möglichst vertrackten Kriminalplots angenehm zu verwirren. Ein Schlüssel zum Erfolg war aber auch das Pseudonym. Ursprünglich hatten Dannay und Lee erfunden es, weil dies eine Bedingung des besagten Wettbewerbs war. Ohne Absicht hatten sie damit den Stein der Weisen gefunden: Das Publikum verinnerlichte sogleich die scheinbare Identität des ‚realen‘ Schriftstellers Ellery Queen mit dem Amateur-Detektiv Ellery Queen, der sich wiederum seinen Lebensunterhalt als Autor von Kriminalromanen verdient!

In den späteren Jahren waren hinter den Kulissen zunehmend andere Verfasser tätig. Lee wurde Anfang der 1960er Jahre krank und litt an einer Schreibblockade, Dannay gingen allmählich die Ideen aus, während die Leser nach neuen Abenteuern verlangten. Daher wurden viele der neuen Romane unter mehr oder weniger straffer Anleitung der Cousins von Ghostwritern geschrieben.

Wer sich über Ellery Queen – den (fiktiven) Detektiv wie das (reale) Autoren-Duo – informieren möchte, stößt im Internet auf eine wahre Flut einschlägiger Websites, die ihrerseits eindrucksvoll vom Status dieses Krimihelden künden. Vielleicht die schönste findet sich hier: eine Fundgrube für alle möglichen und unmöglichen Queenarien.

Gebunden: 202 Seiten
Originaltitel: The Tragedy of X (New York : The Viking Press 1932)
Übersetzung: Rosa Breuer-Lucko
http://www.randomhouse.de/goldmann

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