Dan Simmons – Das Schlangenhaupt

Das geschieht:

Darwin Minor ist ein Mann mit Vergangenheit; ein Vietnam-Veteran mit typischem Trauma, was ihn aber nicht hinderte, zum Doktor der Physik zu promovieren. Im Zivilleben verdient sich Minor seine Brötchen als Spezialist für die Rekonstruktion von Unfallursachen. Seit er nicht mehr für den Öffentlichen Dienst arbeitet, sondern bei einer kleinen für Schadenregulierungen angeheuert hat, die vom grantigen Lawrence Stewart und seiner Gattin Trudy geleitet wird, bereiten ihm seine Schwierigkeiten im Umgang mit Vorgesetzten und Respektspersonen keine gravierenden Probleme mehr. Minor gilt als As und wird gern bei allen möglichen und vor allem unmöglichen Zwischenfällen zu Rate gezogen, die Menschenleben kosten und versicherte Sachschäden verursachen.

Obwohl sich darunter delikate Fälle befanden, hatte Minor bisher mit dem organisierten Verbrechen wenig zu tun. Das ändert sich, als ihn eines Tages russische Mafiakiller auf offener Straße mit Maschinengewehren beschießen. Der Anschlag misslingt, und Minor bringt die Strolche zur Strecke. Um die Hintermänner zu fassen, arbeitet er unwillig mit der Polizei und dem Geheimdienst zusammen.

Mit der attraktiven Sidney Olson, Leiterin einer Spezialeinheit, die im südlichen Kalifornien dem Organisierten Verbrechen nachspürt, versucht Minor herauszufinden, wer ihn aus welchen Gründen umzubringen versucht. Anscheinend jagt ihn ein landesweit operierender Kreis skrupelloser Versicherungsbetrüger, die im Verbund mit korrupten Behörden und der Russenmafia Milliarden scheffeln. Dass Eile Not tut, merken die beiden zwangsverbandelten Ermittler (die sich rasch persönlich näherkommen) vor allem daran, dass es die unbekannten Killer erneut und mit sehr viel mehr Nachdruck versuchen …

Hochspannung, Tempo, Witz

Für den in Jahrzehnten oft gebeutelten Leser ist diese Erfahrung leider selten geworden: die zufällige Entdeckung eines Buches, dessen Lektüre ab Seite 1 nur Vergnügen bereitet. Die Vorzeichen standen in diesem Fall natürlich gut: Der Verfasser von „Das Schlangenhaupt“ heißt Dan Simmons. Horror, Science Fiction, Historienkrimi, Mainstream – Simmons beherrscht jedes Genre der unterhaltenden Literatur. Er gehört zu den wenigen Autoren, denen man viele Jahre blind, d. h. ohne Blick auf den Klappentext vertrauen konnte, sobald ein neues Werk zur Veröffentlichung anstand.

Dies hat sich im Laufe der letzten Jahre leider geändert, doch im Jahre 2000 konnte man gespannt auf den ersten lupenreinen Thriller aus Simmons‘ Feder sein. In der Tat liest sich „Das Schlangenhaupt“, als ob der Autor nie anderes geschrieben hätte! Dieser Roman bietet Spannung und Spaß pur; eine rasante, an überraschenden Wendungen reiche, mit knochentrockenem Witz und absurden Schnurren aus dem Versicherungsalltag angereicherte Geschichte.

Trügerisch lässig, realiter aber diszipliniert hat Simmons die Fäden in der Hand, hält das Interesse über fast 500 Seiten hellwach und kann immer wieder verblüffen, obwohl er sich eigentlich eines bis zum Überdruss strapazierten Plots und x-fach ausgewalzter Figurenklischees bedient. Er ist in der Lage, neue Funken aus längst taub gewordenem Gestein schlagen.

Versicherungsbetrug als Fundament eines Komplotts, in das sich schließlich die Russenmafia – der alte Sowjet-Buhmann aus USA wurde zeitgemäß aufgemöbelt – einmischt: Das klingt völlig logisch, so wie es Simmons entwirft, obwohl dieser Aspekt überhaupt nicht wichtig ist. Wir haben eine Begründung für das turbulente Geschehen, und mehr verlangen wir nicht.

Irrwege der Evolution

Der lakonische Vietnam-Veteran mit Kriegstrauma und Kampferfahrung: Gibt es eine Figur, die sich in endlosen B- und C-Movies oder entsprechenden Reißbrett-Thrillern lächerlicher gemacht hat? Wahrscheinlich nicht, und vermutlich hat Simmons genau deshalb seinen Darwin Minor nach diesem Bild geformt. Dabei hebelt der Verfasser höchst elegant alle einschlägigen Klischees aus, indem er sie nicht leugnet, sondern in ihrer Absurdität für die Geschichte einsetzt.

Schon der Name ist ein Scherz: „Kleiner Darwin“ nennt Simmons seinen Helden, der von Berufswegen beweist, dass in der modernen Menschenwelt ganz sicher nicht der Tüchtigste überlebt. Simmons nimmt immer wieder Bezug auf den „Darwin Award“, der zumeist postum dem größten Trottel des Jahres dafür verliehen wird, sich auf möglichst einfallsreiche Weise ums Leben gebracht und der aufatmenden Restmenschheit auf diese Weise seine nutzlosen Gene entzogen zu haben.

Im Alltag des Versicherungsgewerbes ist die Deppen-Frequenz offenbar besonders hoch. Minor zitiert immer wieder mit sichtlichem Genuss groteske, der Wirklichkeit nachempfundene Belege für abgrundtiefe Dämlichkeit. (Zu einer urbanen Legende ist inzwischen jener hirnlose Hillbilly aufgestiegen, der Raketen aufs Autodach montierte und erfolglos aber mit spektakulären Folgen versuchte, die Schallmauer zu durchbrechen.)

Der Leser dankt ihm dies genauso wie seine regelmäßigen Besuche im Gerichtssaal. Die Verhandlung in einem Fall sexueller Nötigung (S. 106-111) hat mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun. Man liest diese Episode bis zur perfekt getimten, politisch absolut unkorrekten Pointe nichtsdestotrotz mit unerhörtem Vergnügen. Echter Humor ist im Thrillergenre nicht gerade alltäglich.

Patrioten-Gewalt ist gute Gewalt

Leider tauchen wir irgendwann doch in Darwins Vietnam-Vergangenheit ein. Die ist ausgesprochen blutig aber nicht so dramatisch, wie sie in God‘s Own Country klingen mag. Natürlich mausert sich Darwin in der höchsten Not vom Paulus zum Saulus, vergisst sein Grausen vor Feuerwaffen und rüstet sich bis zu den Zähnen mit High-Tech-Ballermännern, deren Daten und eindrucksvolle Wirkung der Verfasser detailverliebt beschreibt. Merke: Reize Uncle Sam nie zu sehr, denn er könnte buchstäblich geladen sein!

Sydney „Syd“ Olson verkörpert die maßvoll emanzipierte weibliche Hauptrolle, wie sie im 21. Jahrhunderts politisch korrekt geworden ist. Dies bedeutet, dass sie sich zumindest bemüht, doppelt so tüchtig wie ihre männlichen Zeitgenossen zu sein, von denen sie sich außerdem nicht mehr aufs Lotterbett ziehen lässt, sondern selbst zieht. Dennoch fällt auf, dass Syd mehrfach aus der Handlung verschwindet und Darwin übernimmt. Erst zum Schluss taucht sie wieder auf, um prompt in eine Falle zu tappen, aus der sie der nach vielen Bedenken zum Lover aufgestiegene Darwin hauen muss; immerhin darf auch Syd einen bösen Russen killen.

Ansonsten treten auf: treue Freunde, bärbeißige Kriminalbeamte, verlogene FBIler, farbenfrohes Proletenpack, vertierte Mordgesellen: die übliche Galerie notwendiger Nebenfiguren, da diese Geschichte ja nicht auf einer einsamen Insel spielt. Auch hier leistet Simmons saubere Arbeit, sodass man sich an den bekannten Schablonen kaum stört.

Ausgerechnet im finalen Drittel biegt der Verfasser auf ausgefahrene Geleise ein. Simmons greift nun wie schon erwähnt allzu detailverliebt auf US-Amerikas große Liebe – monumentalkalibrige Feuerwaffen – zurück und steuert auf den üblichen Showdown zwischen dem Helden und dem Schurken mit dem schwarzen Hut zu, über dessen Leiche sich Sieger und Weib dann in die Arme fallen. Wenigstens findet der Verfasser auf den allerletzten Seiten den Dreh weg von solcher patriotischer Süßlichkeit und schließt mit einem derben Witz.

Zwei Jahre später ging Dan Simmons mit einem ähnlich robusten aber deutlich rabiateren Helden namens Joe Kurtz in Serie. Diese drei Romane treiben auf die Spitze, was der Verfasser mit „Das Schlangenhaupt“ bereits erfolgreich versucht hatte. Nichtsdestotrotz kann der ältere Thriller problemlos mithalten und hätte eine Neuausgabe längst verdient!

Autor

Dan Simmons wurde 1948 in Peoria, Illinois, geboren. Er studierte Englisch und wurde 1971 Lehrer; diesen Beruf übte er 18 Jahre aus. In diesem Rahmen leitete er eine Schreibschule; noch heute ist er gern gesehener Gastdozent auf einschlägigen Workshops für Jugendliche und Erwachsene.

Als Schriftsteller ist Simmons seit 1982 tätig. Fünf Jahre später wurde er vom Amateur zum Profi – und zum zuverlässigen Lieferanten unterhaltsamer Pageturner. Simmons ist vielseitig, lässt sich in keine Schublade stecken, versucht sich immer wieder in neuen Genres, gewinnt dem Bekannten ungewöhnliche Seiten ab.

Über Leben und Werk von Dan Simmons informiert diese schön gestaltete Website.

Taschenbuch: 477 Seiten
Originaltitel: Darwin’s Blade (New York : William Morrow/HarperCollins Publishers Inc. 2000)
Übersetzung: Jörn Ingwersen
http://www.randomhouse.de/goldmann

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