Roger Zelazny – Heut wählen wir Gesichter

Actionthriller in einer befriedeten Welt der Zukunft

Ein Killer lässt sich auf einer anderen Welt mehrfach klonen. Jahrhunderte später ist aus der Weltgemeinschaft das HAUS geworden, in dem alle befriedet sind – bis auf die Klone des Nexus. Eines Tages aber müssen sie der Tatsache ins Auge sehen, dass es immer wieder Angriffe auf den Nexus gegeben hat. Sie nennen ihren Verfolger Mr. Black. Doch was hat die schöne Glenda Glynn mit ihm zu tun?

Der Autor

Während Roger Zelazny, geboren 1937 in Ohio, eher für seine ausgezeichneten Science-Fiction-Romane und Novellen („He Who Shapes“, 1965, oder „A Rose for Ecclesiastes“, 1966, ebenfalls HUGO) bekannt ist, wird seine Fantasy weniger geschätzt. Eine Ausnahme bilden die zehn Romane aus dem Amber-Zyklus. Es gab sogar Fortsetzungen von der Hand anderer Autoren.

Sein Roman „Fluch der Unsterblichkeit“ („This Immortal“ ) ist ein echter Klassiker des Science-Fiction-Genres. Das 1966 veröffentlichte Buch wurde ausgezeichnet mit dem HUGO Award, und ebenso erfolgreich war er ein Jahr später mit „Herr des Lichts“. Zu Ende seiner Laufbahn veröffentlichte er zahlreiche, wenig erfolgreiche Kollaborationen mit anderen Autoren, so etwa mit Philip K. Dick und Fred Saberhagen.

Außer Science Fiction und Fantasy schrieb er auch noch Gedichte. Seine große Leidenschaft waren Kampfsportarten. Er gab Unterricht in Aikido. Außerdem sammelte er orientalische Teppiche. Von 1975 bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Lebensgefährtin, der Fantasyautorin Jane Lindskold in Santa Fé, New Mexico. Er schrieb auch unter dem Pseudonym Harrison Denmark. Roger Zelazny starb am 14. Juni 1995 an Nierenversagen infolge einer Krebserkrankung.

Wichtige Werke

1) Herr des Lichts (HUGO Award)
2) Fluch der Unsterblichkeit (HUGO Award)
3) AMBER-Zyklen 1 + 2
Und viele weitere.

Handlung

Angelo di Negri liebt es nicht, bei diesem Namen genannt zu werden. Der Sizilianer arbeitet als Auftragskiller in den USA und tut das lieber im Verborgenen. Seine „Freunde“ nennen ihn deshalb lieber „Angie den Engel“. Wie zu erwarten, ereilt ihn eine unerwartete Kugel, die er sich vor seinem Lieblingslokal einfängt. Das bedeutet aber keineswegs Angelos Ende, sondern den Beginn seiner Verwandlung.

Sein Bruder Paul lässt ihn auf der Stelle einfrieren und weckt ihn erst hundert Jahre später auf. Nach einer gewissen Zeit der Genesung bietet ihm Paul wieder einen Auftrag an, doch der würde ihn auf eine der Kolonialwelten führen. Vorher soll sich Angelo erst einmal an diese Welt der Zukunft gewöhnen. Da die Negris aus Sizilien stammen, fällt Angelos Wahl auf den Ort seiner Jugend. Hier lernt er am Strand die interessante wie schöne Julia kennen.

Julia ist Biogenetikerin und zeichnet mit Vorliebe geklonte Schafe – Schafe, die sie selbst geklont hat. Das Wissen, dass sie an Angelo weitergibt, während sich beide ineinander verlieben, wird er später gut gebrauchen können. Sein Auftrag führt ihn nach Alvo, wo ein Wissenschaftler namens Styler sein Gehirn mit einem großen Computer gekoppelt und sein Hauptquartier zu einer Festung ausgebaut hat. Als Angelo mit seinem Jet zum Angriff übergeht, bombardiert ihn Styler mit Fragen, Hinweisen und Anspielungen. Angelo sei keineswegs der erste Auftragskiller, der ihn, Styler, zu vernichten drohe. Alle, die die COSA-Organisation der entvölkerten Erde geschickt habe, seien bislang an dieser Aufgabe gescheitert – wie die Intaktheit seiner Festung beweist.

Doch Styler hat nicht mit Angelos Entschlossenheit gerechnet. Sein Jet mag abgeschossen, sein Panzerfahrzeug schwer beschädigt worden sein, doch er hat immer noch seinen Kampfanzug, um die Laserstrahlen der Kampfroboter abzuhalten. Er schafft es bis zum Eingang des mittlerweile in Flammen stehenden Hauptquartiers, kämpft sich mit Schüssen und Granaten bis zum Computerraum vor, in dem ihn Styler bereits erwartet – mit einer mickrigen kleinen Pistole, die doch tatsächlich noch Projektile abfeuert. Styler stirbt unter Angelos Stilett – zumindest sein Körper.

Denn Styler hat seine Persönlichkeit längst in seinen Computer übertragen. Von dort teilt er Angelos eine seiner letzten Botschaften mit. Im zweiten Haus seines Instituts werden sein Mörder zahlreiche Einrichtungen finden, um sein Weiterleben zu sichern – und auch das der sterbenden Erde.

In der Tat gelingt es Angelo, sich mithilfe von Julias Technologie mehrfach zu klonen und ein Schwarmbewusstsein zu entwickeln, den NEXUS. Dann macht er sich auf den Weg zur Erde, um herauszufinden, wer ihn so derart aufs Kreuz gelegt hat – und wer ihn vor hundert Jahren umlegen ließ…

Mein Eindruck

Ich hatte aufgrund des Titelbildes eine verkopfte psychedelische Phantasie erwartet, wie sie anfangs der siebziger Jahre nicht selten auftrat – auch die Autoren waren vielfach bekifft. Stattdessen wurde ich angenehmst enttäuscht: Dieser Roman ist ein richtiger Actionthriller, der es an Tempo und hinterhältigen Wendungen mit Jason Bourne aufnehmen kann.

Der furiose Auftakt auf Stylers Welt wirkt wie aus einem Action-Game entnommen, und das Finale steht dem in Nichts nach. Dazwischen sehen sich die Klone des Angelo di Negri nach weiteren Jahrhunderten einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt, was natürlich ebenfalls für Spannung sorgt. Das Rätsel um Mr. Black muss natürlich gelöst werden, um das Überleben des Nexus zu sichern. Die Verfolgungsjagd macht den Leser mit der Inneneinrichtung des HAUSes bekannt.

Das HAUS

Das HAUS besteht aus 18 Welten, die über Teleportationstore nahtlos miteinander verbunden sind. Die braven Bürger verbringen ihre Zeit meist im WOHNZIMMER, begeben sich ab und zu in die BIBLIOTEK oder im COCKTAILZIMMER, nur um dann ihr müdes Haupt im SCHLAFZIMMER zur Ruhe zu betten. Laufbänder verschiedener Geschwindigkeit, wie sie bereits Robert A. Heinlein in „The Roads Must Roll“ anno 1940 erfunden hatte, verbinden die Räume des HAUSes. Auch das Wechseln der Bänder auf der Verfolgungsjagd sorgt für Action.

Tod und Wiedergeburt

Das schnelle Vorwärtskommen bedeutet allerdings nicht, dass jeder Verfolgte dem Schuss von Mr. Black entgeht. Der Tod ist ein häufiges Erlebnis, wenn auch ein sehr unangenehmes. Durch Telepathie wird das Ich in einen anderen Körper des Nexus übertragen. Daher rührt der Titel: Das Ich kann verschiedene Gesichter und Identitäten wählen: Engel, Angelo, Lange, Winton und wie sie alle heißen. Die Namen tun nichts zur Sache. Nur der rätselhafte Befehl „Zieh Stift Sieben“ muss entschlüsselt werden.

Wie sich im KELLER herausstellt, handelt es sich bei jedem Stift um eine Ebene der gemeinschaftlichen Erinnerungen, die in einem Zentralcomputer des Nexus gespeichert ist. Als das jeweils führende Ich die Stifte 7, 6 und 5 „zieht“, erkennt es die Vorgeschichte dieser aussichtlosen Hetzjagd durch Mr. Black.

Vorgeschichte

Glenda Glynn, die Lange/Engel nicht von der Seite weichen will, ist die Tochter des Wissenschaftlers Kendall Glynn, der vor Jahren gegen den Nexus opponierte, um eine alternative Entwicklungsplanung einzuleiten. An dieser Stelle wird die Aussage des Romans gewissermaßen soziologisch (was in den siebziger Jahren ebenfalls sehr in Mode war).

Glynn zufolge führt die ewige Gleichmacherei und Befriedung, die der Nexus betreibt, um einen weiteren Atomkrieg zu verhindern, geradewegs in Stagnation und Verblödung der menschlichen Rasse. Viel wichtiger wäre es ihm zufolge, die Vielfalt der Denk- und Lebensweisen zu fördern, um so das Überleben auf verschiedenen Siedlerwelten sichern zu können. Ja, aber, entgegnet der Nexus durch seine Vertreter, es ist ja genau diese Verschiedenartigkeit gewesen, die zu Aggression und Krieg geführt hat.

Diese Argumentation ist nicht von der Hand zu weisen, lässt aber außer Acht, dass eine vermittelnde Institution wie die Vereinten Nationen für einen Ausgleich der Konflikte und für Befriedung sorgen können. Das aber will der Nexus verhindern, denn auf diese Weise würde er ja die Macht aus der Hand geben. Kurz bevor Glynn die entscheidende Eingabe zur Debatte stellen konnte, wurde er daher kaltgestellt (oder kaltgemacht). Glenda ist seine Tochter, doch sie erzählt von einem „Onkel“, der die Ideen ihres Vaters weiterhin vertritt und als Mr. Black den Nexus verfolgt. Doch wer ist dieser mysteriöse Unbekannte und woher kommt er auf einmal? Das darf hier nicht verraten werden.

Synthese

Die Handlung geht dialektisch vor. Styler und seine ideale Welt mögen die These eines neuen Entwurfs gewesen sein, doch der Nexus ist die Antithese dazu: Alles ist friedlich – oder wird dazu gemacht. Mr. Black stellt wiederum die Antithese zum Nexus dar – bis zu jenem Augenblick, als er in den KELLER eindringt, sich die Informationen aus dem Zentralcomputer holt und das führende Ich dazu zwingt, mit ihm zu verschmelzen. Die so erreichte dialektische Synthese führt zu einem neuen Blick auf die Welt und ihre Zukunft. Aber wird diese auch friedlich sein? Es kommt auf den Ausgleich der widerstreitenden Kräfte an. Vor dem Ausgleich aber steht der Kampf…

Noch ’ne Frage

Ach ja: Wer hat denn nun eigentlich Angelo di Negri umlegen lassen? Das sollte der geneigte Leser selbst herausfinden.

Die Übersetzung

Thomas Schlück übersetzte auch diesen Roman in eine lesbare Textgestalt. Denn Texte aus den frühen siebziger Jahren hatten den Ehrgeiz, den Leser in einen anderen Zustand des Bewusstseins zu entführen, so als wären sie selbst eine Rauschdroge. Das war zunächst nicht verkehrt und durchaus etwas Neues, doch als es zur Masche wurde, nervte es nur. Zelazny ist mit seinem Roman noch so früh auf dieser Welle, dass er nicht nervt. Er übernahm sogar ein ganz klein wenig von den Experimenten, die während der New Wave der sechziger Jahre in Großbritannien durchgeführt wurden.

Dazu gehören das Zitieren aus Dantes „Göttlicher Komödie“. Das würde einem Ingenieursautor wie Heinlein nie im Leben einfallen (oder der Herausgeber würde sowas radikal streichen). Außerdem ließ sich Zelazny ein paar interessant gestaltete Textstellen einfallen, die an konkrete Poesie erinnern. (S. 18/19). Damit ließ er es aber zum Glück bewenden.

S. 12: Katanien: Gemeint ist die sizilianische Stadt Catania, die am Füße des Vulkans Ätna liegt.

S. 19: Dante-Zitat aus der „Göttlichen Komödie“: Die Inschrift über dem Eingang zur Hölle (Inferno) lautet: „Die ihr hier eintretet lasst alle Hoffnung fahren“.

S. 140: „seinerseitzs“: Das Z ist überflüssig.

S. 146: „Scherwälligkeit“ sollte wohl besser „Schwerfälligkeit“ heißen.

Unterm Strich

Ich habe diesen Actionthriller in nur wenigen Tagen gelesen. Am Anfang und im Finale stehen Actionszenen, dazwischen geht es um eine Verfolgungsjagd und eine Liebesgeschichte. Dies alles ist reichlich rätselhaft, bis es dem führenden Kopf des Nexus-Klon-Schwarms gelingt, Einblick in die ferne Vergangenheit zu erlangen. Dies ist nicht die erste Tötungswelle gegen die Mitglieder des Nexus. Wie lange soll sich das noch wiederholen, fragt sich Engel/Lange/Angelo, und kommt zum Schluss, dass es nur einen Endkampf geben kann, den er selbst herbeiführen sollte. Aus der dialektischen Auseinandersetzung zwischen These und Antithese muss eine Synthese geschaffen werden.

Denn dieser dauernde Konflikt spiegelt lediglich den grundlegenderen Konflikt zwischen zwei Planungsentwürfen für die Zukunft der Menschheit wider, wie sie auch heute noch (oder schon wieder) relevant sind. Ist es besser, jede Aggression durch Beseitigung von Konflikten und Bedürfnissen zu verhindern oder sollten die Menschen vielmehr so vielfältige Talente ausformen dürfen, dass diese Unterschiede jederzeit zu einem Ausgleich geführt werden können? Tja, aber bevor es dazu kommen könnte, muss erst einmal der herrschende Nexus entmachtet – oder transformiert werden.

Wie in einem Jason-Bourne-Thriller spielen also Erinnerung und Vorgeschichte eine entscheidende Rolle. Ich würde mir dringend wünschen, dass dieser kluge Spannungsroman und Zukunftsentwurf einmal in einer deutschen Ausgabe erscheint, die seiner würdig ist. Die winzige Schrift sorgte dafür, dass ich jeweils nur ein Kapitel lesen konnte. Aber sie ist auch notwendig, um den Text auf maximal 160 Seiten zu komprimieren. Das war in den siebziger Jahren das Maximum, was den Umfang eines billigen Taschenbuchs betraf. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass der Übersetzer Schlück auch diesen Roman kürzen musste, wie er dies bei den GOR-Roman von John Roman schon vielfach vorexerziert hatte. (Dort konnten die Kürzungen bis zu 50 Prozent des Originals betragen.)

Taschenbuch: 160 Seiten
Info: Today we choose faces, 1973
Aus dem US-Englischen von Thomas Schlück
www.heyne.de

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