David Sedaris / Harry Rowohlt – Naked (Live-Lesung)

Macht live doppelt so viel Spaß

David Sedaris, Sohn und Enkel griechischer Vorfahren, erklärt das weite Feld seines Lebens und das seiner Familie zum Minengebiet. Eine bärbeißige Mutter ahmt bühnenreif die Tricks ihres theaterspielenden Sohns nach; der Vater warnt mit erfundenen Horrorgeschichten vor den Gefahren des Alltags; die Oma stellt den Haushalt auf den Kopf und liegt im Dauerclinch mit Davids Mutter; ein Porno über Inzest weckt schlimmste Ängste unter den Sedaris-Kindern usw. Schräg, melancholisch und bisweilen haarsträubend ist die Welt, die Sedaris scharfsichtig seziert.

Diese Doppel-CD bietet eine Live-Lesung mit Sedaris und seinem deutschen Übersetzer Harry Rowohlt. Die Lesung fand unter hörbar großem Beifall zweisprachig am 16. Mai 1999 im Tränenpalast Berlin statt.

Der Autor

David Sedaris, geboren 1959 in Johnson City, New York, aufgewachsen in Raleigh, North Carolina, lebt abwechselnd in Paris und in New York City. Er schreibt unter anderem für „The New York Times“, „The New Yorker“ und „Esquire“. Mit seinen Büchern „Maked“, „Fuselfieber“ oder „Ich ein Tag sprechen hübsch“ wurde er zum Bestsellerautor.

Der Sprecher

Harry Rowohlt lebt in Hamburg, ist Übersetzer, Autor, Rezitator, Zeit-Kolumnist und Gelegenheits-Schauspieler in der „Lindenstraße“. Er hat weit über hundert Bücher aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Die Liste der ihm verliehenen Preise würde den Rahmen sprengen. Seine Lesung von „Pu der Bär“ gehört zu den erfolgreichsten Hörbuchproduktionen der letzten Jahre. Im Januar 2001 erhielt er den Satirepreis „Göttinger Elch“.

Die Aufnahme am 17. Mai 1999 leitete Fred Schöpf.

Die Erzählungen

Stets liest erst David Sedaris einen Textauszug in Englisch vor, dann trägt Rowohlt den ganzen Text auf Deutsch vor. Einzige Ausnahme von dieser Regel bildet „I told him yes“, der nur von Sedaris gesprochen wird – aus hörbaren Gründen.

1) Get Your Ya-Ya’s Out (Auszug) / Schafft die Ya-Ya raus

Hier beschreibt David Sedaris seine Eltern und besonders die aus Griechenland stammenden Großeltern. Die Großmutter hat in der Familie den Kosenamen Ya-Ya, daher der Titel der Erzählung. Ya-Ya konnte ihre Schwiegertochter nie akzeptieren, weil sie keine Griechin war, und schikanierte sie, wo sie nur konnte.

Klein-David findet aber auch Ya-Ya und Opa ziemlich merkwürdig. Opa redet ein Kauderwelsch aus Griechisch und Englisch, sozusagen ein Pidgin. Als Ya-Ya von einem Kleinlaster angefahren wird und sich die Hüfte bricht, sagt er bloß: „Jetzt wird man sie erschießen müssen.“ Dazu kommt es nicht, vielmehr darf sie bei ihrem Sohn einziehen, Davids Vater. Natürlich nur gegen Moms heftigen Protest.

Der Rest der Erzählung schildert diverse Kuriositäten und Begebenheiten, die mit Ya-Ya bis zu deren Tod zusammenhängen. Mom sagt am Grab zu ihrem Sohn, sie wolle nie so enden wie Oma.

Mein Eindruck

Der Titel der Story ist einem Live-Album-Titel der |Rolling Stones| entnommen. Auf vermeintlich zynische Weise bedeutet er im Kontext der Story: Werdet bloß die Oma los! Das ist echt fies, aber es kommt tatsächlich dazu, dass eine Heimleitung (und nicht bloß Davids Mom) die Oma loswerden will.

Das Aufeinandertreffen der Kulturen und Traditionen, wie es für einen Schmelztiegel wie die USA so typisch ist, hat offenbar auch seine Schattenseiten. Das Schicksal von alten Menschen, zumal von Ausländern, ist kein Zuckerschlecken. Durch die Brille des Kuriositätenkabinetts zeigt uns Sedaris, wie mies das aussehen kann, und weckt unser Mitgefühl, wenn nicht sogar Empörung über diese Behandlung. Kein Wunder, dass nur der Anfang zum Lachen ist.

2) Next of Kin (Auszug) / Familienbande

Der dreizehnjährige Junge in dieser Erzählung findet ein altes Buch, das unter einem Brett versteckt ist. Es handelt sich zu seinem Erstaunen um literarische Pornografie. Darin praktiziert die Familie Rivers alle Arten von Inzest sowie Unzucht mit Dobermännern und Schiffskäpitänen. Er findet die Story wunderbar, bis auf die vielen Druckfehler. Er tauscht den Porno mit Lisa gegen andere Pornos aus. „Die Geschichte der O“ und den Marquis de Sade hat er schön längst durch. Dann jedoch kommt es zu einem Missgeschick. Als seiner Kusine Gretchen der Porno über die Familie Rivers in die Hand fällt, hält sie die Schilderungen für wahr und eine Tatsache.

Fortan verdächtigt Gretchen alle in ihrer Familie, es miteinander zu treiben, heimlich natürlich. Sie sammelt tatsächlich viele Beweise und beginnt, sich in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren, denn sie ist garantiert das nächste Opfer. Ihre zehnjährige Schwester Amy verwendet das Buch sogar im Unterricht. Sie ahmt ihre Lehrerin nach. Bestimmt haben auch Tiffany, 8, und Paul, 7, das Buch gelesen. Und auch Oma hat verdächtige Ringe unter den Augen.

Die Haushälterin Lena gibt das Buch Mom, die einfach nur lacht. Gretchen warnt ihren Cousin, er solle auf der Hut sein: Keine Gutenachtküsse mehr! Doch der Cousin, unser 13-jähriger Held, entsorgt das Buch in einem Kleinlaster auf einem Parkplatz. Dessen Fahrer entdeckt und nimmt es mit.

Mein Eindruck

Auch diese Story ist ein versteckter Appell. Sie warnt vor dem Zusammenhang zwischen Pornografie und Familie, vor allem aber vor Pornos in den Händen von Kindern, die nicht zwischen Fiktion und Fakten unterscheiden (können), wie im Fall von Gretchen. Das Ergebnis ist eine Art von Verfolgungswahn, der zwar komisch wirkt, aber einen ernsten Hintergrund hat. Vielleicht hat Sedaris 1999 noch nicht an Kinderpornografie im Internet gedacht, wie sie heute verbreitet ist. Aber die Voraussetzungen dafür nimmt er schon mal aufs Korn.

3) Cyclops (Auszug) / Zyklop

David besucht die Heimatstadt seines Vaters, und dieser erzählt ihm, wie er einem Nachbarsjungen mit einem Luftgewehr eine Auge ausgeschossen hatte. Grauenhaft! Daddy hat davon bis heute Schuldgefühle. Später sticht Davids Schwester Tiffany ihm ins Auge, doch statt sie zu bestrafen, flößt sein Vater ihr Schuldgefühle ein. Allmählich bekommt David von den vielen Beispielen, welche Katastrophen im Alltag unvermutet eintreten können, eine Panikattacke.

Der Werkunterricht ist zu riskant, ebenso das Rasenmähen. Dafür braucht David eine Hochsicherheitsausrüstung. Der Verkehrsunterricht ist ebenfalls voller abschreckender Beispiele. Davids langsames Fahren im Fahrunterricht macht seine Lehrer rasend. Eines Nachts wird eine Katze von Mom überfahren, und David stellt sich vor, wie die Katze und ihre Besitzerin Mom in ihren Träumen heimsuchen und sie anklagen, nicht aufgepasst zu haben.

Als David erklärt, er wolle nach New York City ziehen, erklärt sein Vater entsetzt, das komme ja einem Selbstmord gleich! Doch dann gelingt es David, Vaters Erzählungen als Lügen zu entlarven. Er hat nie ein Auge ausgeschossen. Es könne nie schaden, auf alles vorbereitet zu sein, meint Paps.

Mein Eindruck

Übervorsichtige Eltern greifen offenbar manchmal zu verzweifelten Maßnahmen, um ihre Kinder zu schützen. Und zu diesen Maßnahmen gehören mitunter unlautere Methoden wie etwa Lügen. Der Autor überspitzt die Sache jedoch, um einen komischen Effekt zu erzielen, so etwa, wenn die überfahrene Katze seiner Mutter im Traum erscheinen soll.

Der Titel der Geschichte ist vieldeutig. Der einäugige Zyklop bezieht sich sowohl auf das Bild des ausgeschossenen Auges als auch auf die geistige Einäugigkeit von Davids Vaters, der nicht erkennt, dass Gefahren dazu da sind, sie zu überwinden, um dadurch lebenstüchtig zu werden.

4) The Drama Bug / Das Theatervirus

In der Schule, die David in Raleigh, North Carolina, besucht, tritt ein Schauspieler auf. David hält ihn für einen Propheten, ein Genie, einen Pionier, so wie er Pantomime und die „unsichtbare Wand“ spielt. Als David daheim ebenfalls Pantomime spielt, ist seine Mom entsetzt. Was ist in ihren Sohn gefahren?! Er darf nirgendwo mehr spielen.

Monate später tritt der Mime erneut in der Schule auf und zwar mit einem Shakespeare-Stück. Diesmal ist David derart begeistert, dass er das elisabethanische Englisch in seine alltägliche Ausdrucksweise einführt. Das steht jedoch in herben Kontrast zum Anlass: Mom staubsaugt gerade. Als Resultat seiner Mühe sucht sie in seinem Zimmer nach Drogen. Er schreibt ihr einen Brief mit Siegelwachs und Federkiel. Als ihm ein Buch mit Shakespeare-Stücken in die Hände fällt, erkennt er, dass man die unsterblichen Verse des Barden deklamieren muss. Dies steht ebenfalls in herbem Kontrast zum Anlass: einem Brathähnchen …

Der Mime erscheint ein drittes Mal in der Schule, doch Davids Freundin Lois behauptet: „Du wirst das nie verstehen.“ Das fordert ihn heraus und deklamierend beschwert er sich bei Mom. Sie meint bloß lapidar: Es ist nur ein Theatervirus.

Als David schließlich in „Hamlet“ beim Theater arbeiten darf, um Lois nahe sein zu können, ist die Realität etwas anders als seine Erwartungen. Lois schläft mit dem Regisseur, mit Fortinbras, mit Laertes, eigentlich mit allen außer David. Dafür wird sie vom Regisseur für jeden gestammelten Satz, den sie hervorquält, über den grünen Klee gelobt.

Am Abend holt seine Mom ihn ab und erzählt ihm ein paar Tipps für gelungenen Betrug. Nach einer Weile merkt David, dass seine Mom viel schlauer ist, als er dachte. Vielleicht sollte er lieber von ihr lernen statt von Shakespeare.

Mein Eindruck

Sedaris stellt die Scheinwelt des Theaters der Realität gegenüber beziehungsweise der vernünftigen Weltsicht seiner Mutter. Aber David muss erst alle Leidensphasen durchlaufen, bevor er vom Theatervirus kuriert werden kann. Sehr komisch und lächerlich sind seine Auftritte als elisabethanisch deklamierender Schauspieler – in der häuslichen Familie.

Offenbar fehlt diesen Auftritten der richtige Rahmen, nämlich die Bühne. Die Bühne wird so zum realitätsfernen, entrückten Raum, wo Traumbilder aufgeführt werden dürfen und können. Doch sie haben nichts mit Davids Lebenswelt zu tun. Auch die Realität der Schauspieler untereinander entspricht nicht gerade diesem hehren Anspruch: Lois vögelt mit ihren Kollegen, denn sie weiß, worum es geht im Leben. Als auch David dies erkennt, sucht er sich einen anderen Weisheitsquell: seine weltweise Mutter. Deren Tipps haben im Gegensatz zu Shakespeare etwas mit der Gegenwart zu tun.

Al Pacino hätte diese Story gefallen. In seinem Film „Looking for Richard“ beschreibt er genau diese Ehrfurcht der Amerikaner vor dem englischen Theatertitanen, die sie veranlasst, seine Verse unverändert zu übernehmen statt sie sich anzuverwandeln.

5) I told him: Yes … (Aus dem Kapitel „C.O.G.“)

Auf dem Überlandbus sitzt der erwachsene David neben einer Frau. Die zieht hemmungslos über ihren abwesenden Mann her, der sie geschwängert hat. David muss ertragen, dass jedes zweite Wort in der Nonstoptirade der Frau „shit“ oder „fuck“ lautet. Glücklicherweise erweist sich der Busfahrer als Konfliktmanager, der besänftigend auf die Frau einwirkt. David fragt sich, ob jemals seine Storys solche Wirkungen erzielen werden.

Mein Eindruck

Eigentlich muss man die Geschichte, die Sedaris in Englisch vorträgt, gehört haben, um die beabsichtigte Wirkung einschätzen zu können. Ich selbst habe nur die Hälfte verstanden. Aber das ist auch gar nicht nötig bei all dem „shit“ und „fuck“, das da aus dem Mund der Frau fließt. Man fragt sich nur, warum der Mann, von dem sie redet, sie jemals gut behandeln sollte, wenn sie ihn derart abkanzelt. Oder diese Tirade ist das Gegenstück zu männlichem Machismo und dient dazu, die Zuhörer zu beeindrucken. Davids Selbstzweifel sind jedenfalls geweckt.

Die Sprecher

David Sedaris ist kein besonders toller Sprecher, nicht im Sinne von „Sprechkünstler“. Aber das macht er mit Enthusiasmus wett, so etwa, wenn er „I told him: Yes“ vorträgt.

Harry Rowohlts Fähigkeiten als Sprecher sind weithin bekannt. Auch hier in der Live-Lesung trägt er den größten Teil zum Spaß der Zuhörer und Zuschauer an der Show bei. Kein Wunder, denn er ist ja auch Sedaris‘ Übersetzer. Wenn die Rede von einer schäbigen Wohnung ist, macht er aus einem einfachen „shithole“ ein kräftiges „Scheißrattenloch“.

Und Rowohlt ist hervorragend darin, die Haltung von bestimmten Berufsgruppen oder Charaktertypen nachzuahmen. Die altjüngferliche Lehrerin beispielsweise redet so hochgestochen und herablassend, dass man sie sofort vor sich sieht. Einer der Höhepunkte der Lesung ist die Katze, die zu Davids Moms, die sie ja überfahren hat, im Traum spricht. Rowohlts Stimme wird plötzlich enorm hoch und comichaft.

Einen weiteren Höhepunkt bilden Davids tragikomische Versuche, in elisabethanischem Englisch zu deklamieren. Dabei steht natürlich das Objekt der Rede in krassem Gegensatz zur Form der Rede: Wohltönende Blankverse, die einem banalen Brathähnchen gelten. Das Kontrastprogramm dazu bildet Lois, Davids Freundin, die ihr Verse auf ungewöhnliche Weise vorträgt: Jedes Wort stößt sie einzeln hervor und zwar mit einem fragenden Tonfall. „Sein? Oder? Nicht? Sein?“

Der dritte Teilnehmer an dieser Lesung ist natürlich das Publikum. Hier wird nicht nur obligat applaudiert, sondern auch gelacht, gepfiffen und sogar gejohlt. Offensichtlich war die Lesung ein voller Erfolg.

Unterm Strich

Die Lesung ist lebhaft, die Sprecher – zumindest Rowohlt – sind gut aufgelegt, und so ist für gute Unterhaltung gesorgt. Das kann man auch an der begeisterten Reaktion des Publikum ablesen. Die Tonqualität ist erstaunlich gut. Dass man ab und zu Seiten rascheln hört, erhöht nur den Eindruck der Authentizität.

Ich bezweifle schon beim Hören, dass es sich bei den vorgelesenen Textfassungen um den kompletten Textumfang handelt. Die Sprünge in der Handlung der jeweiligen Texte waren nur so zu erklären. Der erste Text ist aufgrund seiner Länge wahrscheinlich der vollständigste. Im Innenteil der Verpackung fand ich denn auch den verräterischen Hinweis: „Gekürzte Lesefassung“. Wer sich also die vollständige Fassung zu Gemüte führen will, sollte zum Buch oder einer entsprechenden Lesefassung greifen. Wer aber Spaß haben will, der greife zur Live-Lesung.

Originaltitel: Naked, 1999
Aus dem US-Englischen übersetzt von Harry Rowohlt
118 Minuten auf 2 CDs

https://www.penguinrandomhouse.de/Verlag/Random-House-Audio/21000.rhd

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