Vor vielen Jahren zahlte der Kaufmann Jacob Finsbury aus London im Namen seiner beiden Söhne Joseph und Masterman je 1000 Pfund in eine Tontine ein: 36 Väter handelten ebenso, das Geld wurde zinsbringend angelegt, und dem letzten noch lebenden Sohn – und nur diesem! – wird es ausbezahlt!
Inzwischen ist es beinahe so weit. Die letzten beiden Kandidaten sind ausgerechnet Joseph und Masterman, die einander keineswegs in brüderlicher Liebe zugetan sind. Der leichtlebige Joseph steckt zudem in finanziellen Schwierigkeiten. Er hat das Erbteil seiner Neffen John und Morris durchgebracht. Vor allem Morris macht ihm deshalb das Leben zur Hölle. Die inzwischen auf stolze 116.000 Pfund angewachsene Tontine soll den Familienfrieden wieder herstellen. Mit Michael, Mastermans Sohn, einem gerissenen Winkeladvokaten, kann man sich einigen, denkt Morris. Als der ablehnt, wittert Morris Betrug: Lebt Masterman überhaupt noch oder will Michael nur diesen Anschein erwecken, um die Tontine an sich zu reißen?
Während einer Reise entgleist der Zug, mit dem die Neffen und ihr Onkel unterwegs sind. Irrtümlich wird eine entstellte Leiche für Joseph gehalten und von Morris beiseite geschafft: Der Onkel soll als Erbe der Tontine weiterleben! In der Tat ist Joseph sehr lebendig. Er stellt sich nur tot. Dem Joch des Neffen entronnen, macht er sich ein schönes Leben mit unterschlagenem Geld. Morris und John stecken die Leiche des ‚Onkels‘ in ein großes Fass, das sie nach London transportieren lassen, wo ein diskretes Grab im Keller des Finsbury-Hauses wartet. Doch statt des Fasses wird irrtümlich eine riesige Kiste mit einer Marmorstatue angeliefert. Die Leiche landet beim erfolglosen Künstler William Dent Pitman, der sich Hilfe suchend an einen engen Freund wendet: Michael Finsbury! Der hilft, sie aus dem Weg zu schaffen, doch es ist wie verhext: Ständig taucht der tote ‚Onkel‘ wieder auf und muss erneut beseitigt werden. Immer hektischer versuchen die Finsbury-Neffen, ihre Spuren zu verwischen, und richten stattdessen nur größeres Chaos an …
„Murphy’s Law“ im spätviktorianischen London
Es geht schief, was schiefgehen kann, und es trifft immer die Richtigen: Dass dieses Buch vor mehr als einem Jahrhundert entstand, mag man kaum glauben. Unsterblich und frisch kommen die unzähligen Verwirrungen daher, in die das schreibende Duo Stevenson & Osbourne seine kunterbunte Protagonistenschar stürzt. Ein weiteres Sprichwort könnte genannt werden: Verbrechen lohnt nicht, doch – dem würde zumindest Morris Finsbury beipflichten – es muss wenigstens versucht werden.
Mit der viktorianischen Realität des ausgehenden 19. Jahrhunderts scheint unsere Geschichte wenige Berührungspunkte zu besitzen. Zu abgehoben wirkt das Geschehen um eine wanderlustige Leiche und die Irritationen, die aus ihrem Drang zum Auftauchen im ungünstigsten Augenblick entstehen. Wie der Literaturwissenschaftler Norbert Miller in seinem ausführlichen und informativen (aber manchmal abschweifenden) Nachwort belegt, ist dem keineswegs so: „Die falsche Kiste“ erregte sehr gezielt den Unwillen politisch bzw. moralisch korrekter Zeitgenossen sowie die Begeisterung derer, die um die Bigotterie genau dieser Zeitgenossen wussten.
Systematisch verstoßen Stevenson & Osborne gegen die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze und Regeln ihrer Zeit. Die Finsburys und alle, die mit ihnen in Kontakt kommen, sind nur auf den ersten Blick würdige Mitglieder der Gesellschaft. Hinter der bürgerlichen Fassade tobt ein Kleinkrieg, der die Finsburys recht kleingeistig wirken lässt. Eigennutz und Charakterschwäche bestimmen ihr Verhalten, ihr unmoralisches und kriminelles Handeln und letztlich ihr Scheitern werden davon bestimmt. Keinen Moment fällt ihnen ein, sich an die Polizei zu wenden. Kriminelles Tun bereitet ihnen keine Gewissensbisse. Dummerweise sind die Finsburys sämtlich nicht sehr helle. Was auch immer sie einfädeln, misslingt und fällt auf sie zurück. Kleine Ursache – große Wirkung: noch ein Sprichwort, das Stevenson & Osborne zwerchfellerschütternd mit Leben erfüllen.
Tohuwabohu mit Methode
„Die falsche Kiste“ mutet wie ein in beschwipster Nacht geborener und vor allem umgesetzter Einfall an. Dass sie schrieben, was ihnen gerade in die Köpfe kam, ohne sich um den Fortgang der Handlung zu kümmern, scheinen auch die Autoren durchblicken zu lassen: „‚Es hat irgendwie gar keine Handlung‘, sagte der Künstler. ‚Wir können fortlaufend eine erfinden‘, erwiderte der Anwalt.“ (S. 146)
Wiederum kann Miller dies widerlegen. Er legt dar, dass „Die falsche Kiste“ eine sehr modern wirkende ‚Patchwork-Story‘ ist: Die Finsburys setzen sie zwar in Gang und bestreiten die meisten Episoden, doch sie endet nicht mit der zentralen Handlung. Das Objekt der Verwirrung, die Leiche nämlich, verschwindet in der Nacht. Sie wird ihre Odyssee fortsetzen und an anderer Stelle für Entsetzen sorgen, aber das ist eine andere Geschichte, die uns nicht mehr erzählt wird.
Überhaupt ist „Die falsche Kiste“ alles andere als das Produkt einer Schnapsidee. Stevenson & Osbourne haben ihr irrwitziges Abenteuer sehr sorgfältig in Worte gefasst. Nichts ist schwieriger als wirklich witzig zu sein, wie die elenden Darbietungen deutscher „Comedians“ stets qualvoll beweisen, aber hier gelingt es, weil zwei Autoren am Werk sind, die ihr Handwerk verstehen. (Ihr Werk traf zum Glück für die deutschen Leser auf zwei Übersetzer, die dasselbe von sich behaupten dürfen.) Am Text wurde zudem sorgfältig gefeilt. Er ist auf das Wesentliche komprimiert. Stillstand gibt es nicht. Seitenhandlungen und scheinbar nur dem Augenblicksspaß geschuldete Szenen fügen sich nachträglich ins Gesamtgeschehen.
Von ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Stevensons
Viele viktorianische Leser glaubten sich in den Finsburys und ihren nicht minder tadelswerten Mitspielern wiederzuerkennen. Das Establishment bildete unglücklicherweise das Gros des zeitgenössischen Publikums. „Die falsche Kiste“ war deshalb alles andere als ein Bestseller. So blieb es zu Stevensons Lebzeiten. Erst ein halbes Jahrhundert später – die Ära Queen Viktorias war nur mehr Erinnerung – dämmerte es den Briten endlich, welcher literarische Schatz da zu heben war. Seitdem gehört „Die falsche Kiste“ auf der Insel zu den oft und gern gelesenen Klassikern.
In Europa traf der Roman auf ungleich größere Schwierigkeiten. Als seine Existenz bekannt wurde, galt zumindest Robert Louis Stevenson als Literat, der einer solchen Narretei wie „Die falsche Kiste“ eigentlich unwürdig war. Das frivole und unappetitliche Verwirrspiel um eine Leiche war da keine Hilfe. Also wurden dieser und gleich zwei weitere Romane, die Stevenson mit seinem Stiefsohn Osbourne schrieb, in Acht und Bann getan. In Deutschland erschien „Die falsche Kiste“ übersetzt erst 1969. In allen ‚Gesamtausgaben‘ von Stevensons Werken blieb das Buch ausgespart.
Dabei war Stevenson ganz sicher nicht die bierernste, tragische, von Schwindsucht zu einem frühen Grab bestimmte Gestalt, zu der man ihn später gern stilisierte:
„‚Nichts geht über ein wenig wohlbedachten Leichtsinn‘, sagt Michael Finsbury in der Geschichte; und es gibt auch keine bessere Entschuldigung für das Buch, das der Leser nun in Händen hält. Die Verfasser können dazu lediglich noch bemerken, dass der eine von ihnen alt genug ist, um sich zu schämen, und der andere jung genug, sich zu bessern.“
Dieses launige und sehr formgerechte Vorwort leitet eine wunderbare, mit ebenso bizarren wie komischen Einfällen gespickte Geschichte ein, die nichts von ihrer Wirkung verloren hat und den Glauben Lügen straft, dass unsere Altvorderen einem guten Spaß abhold gewesen wären.
Darf nicht fehlen: der Film zum Buch
Zwar wurde „Die falsche Kiste“ offenbar schon 1913 erstmals verfilmt, doch lassen sich über diesen Streifen keine Details ermitteln. Dagegen ist die Version, die Regisseur Bryan Forbes 1966 inszenierte, ein Meilenstein der britischen Filmkomödie. Schauspiel-Veteranen wie John Mills und Ralph Richardson spielten an der Seite von Nachwuchstalenten wie Michael Caine und Dudley Moore, die später selbst zu Weltstars wurden. Die sanft sozialkritischen Aspekte wurden (selbstverständlich) getilgt; der Schwerpunkt liegt auf den Irrungen & Wirrungen, die (natürlich) durch eine flaue Liebesgeschichte (die Stevenson & Osbourne deutlich besser im Griff haben) verwässert werden.
Die Autoren
Robert Louis Stevenson (1850-1894) ist einer der berühmtesten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. An dieser Stelle wird auf eine biografische Skizze verzichtet – das Internet ist eine Fundgrube für jene, die sich über ihn informieren möchten. Auf Stevensons Mitautor trifft dies nicht zu, weshalb hier einige Hintergrundinfos folgen.
Samuel Lloyd Osbourne (geb. 7. April 1868) wurde im Alter von zwölf Jahren der Stiefsohn von Robert Louis Stevenson, nachdem dieser 1880 seine Mutter Fanny geheiratet hatte. Osbourne studierte Maschinenbau an der University of Edinburgh. Er zeigte ebenfalls schriftstellerisches Talent; gemeinsam mit Stevenson schrieb er drei Romane, die heute als literarische Klassiker gelten, und wurde später selbst ein produktiver Autor. Mit seinem Stiefvater und seiner Mutter ließ sich Osbourne 1890 auf Samoa nieder. Nach Stevensons Tod (1894) blieb er auf der Südseeinsel und repräsentierte ab 1897 als Vize-Konsul einige Jahre die USA.
Sein späteres Leben verlief unstet. Osbourne heiratete mehrfach und kehrte nach Europa zurück. Er schrieb nun hauptsächlich für das Theater. Bis 1941 lebte er in Südfrankreich. Als die USA in den II. Weltkrieg eintraten, siedelte in nach Kalifornien über. Dort ist er am 22. Mai 1947 gestorben.
Impressum
Originaltitel: The Wrong Box (London : Longmans, Green & Co. 1889/New York : Charles Scribner’s Sons 1889)
Übersetzung: Annemarie und Roland U. Pestalozzi
Diese Taschenbuch-Ausgabe: 1994 (Insel Verlag/TB Nr. 1605; mehrfach neu aufgelegt)
255 Seiten
ISBN-13: 978-3-458-33305-0
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