Tal M. Klein – Der Zwillingseffekt

Die Tücken der Teleportation

Man schreibt das Jahr 2147. Dank fortschrittlicher Technologie reisen die Menschen inzwischen fast nur noch via Teleportation. Auch KI-Coach Joel Byram hat sich schon hunderte Male teleportieren lassen – doch eines Tages wird er dabei versehentlich dupliziert.

Joel und sein Doppelgänger werden daraufhin nicht nur von religiösen Fanatikern verehrt, sondern auch von einem mächtigen Großkonzern gejagt – und sie kommen einem tödlichen Geheimnis auf die Spur. Für die beiden beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit. (Verlagsinfo)

Der Autor

Tal M. Klein wurde in Israel geboren und ist in New York City aufgewachsen. Für sein Debüt „Der Zwillingseffekt“ wurde er von der Presse gefeiert, eine Verfilmung des Stoffes ist geplant. Klein lebt mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Töchtern in Detroit. Diese Ausgabe enthält ein Interview mit dem Autor aus dem Jahr 2016. Sein Befrager ist Joe Santoro, ein Medizinphysiker.

Handlung

Man schreibt den 3. Juli 2147, also einen Tag vor dem Nationalfeiertag, als Joel Byrams Leben eine unvorhergesehene Wendung nimmt. Er ist eher eine Art Bruder Leichtfuß, aber das ist seinem Talent nur förderlich, einer KI hinterlistige Fragen zu stellen. Und KI-Computer beherrschen heutzutage die besten Seiten des Lebens, Dinge wie das Teleportieren beispielsweise.

Sich binnen einer Sekunde von einem Teleport-Portal zum nächsten Mal zu bewegen, ist inzwischen die beliebteste Form des Reisens – und für fast jeden Erdenbürger erschwinglich, wenn auch nicht für jeden akzeptabel: Religiösen Fanatikern ist er ein Dorn im Auge. Niemand ahnt, wie weit sie zu gehen bereit sind.

Joel Byrams hübsche und intelligente Frau Sylvia ist eine Physikerin, die in New York City für den inzwischen mächtigen Konzern International Transport arbeitet, der das Teleportieren erfunden und verbreitet hat. Sylvia durch ihre Arbeit in Forschung & Entwicklung stark eingespannt, so dass sie nicht so oft zu Hause ist, wie Joel es gerne sähe. Ihre Ehe ist bislang kinderlos geblieben, doch sie planen, dies bei einem romantischen Urlaub in Costa Rica zu ändern.

Dorthin lassen sie sich an diesem 3. Juli natürlich teleportieren. Während Sylvia problemlos von Manhattan nach San José reist, geht bei Joel alles schief. Er hat gerade eingecheckt, als ein Bombenanschlag das Teleportzentrum zerstört. Er überlebt, das Zentrum wird gesperrt. Aufgrund der Funktionsweise des Teleportsystems gibt es ihn nun jedoch doppelt – das ist die niederschmetternde Nachricht, die ihm die Chefin von International Transport nahezubringen versucht. Es gibt also einen Joel Byram, der gerade mit Sylvia in die Flitterwochen-Suite des Hotels in San José eingecheckt? Das alleine dreht Joel bereits den Magen um, dessen Inhalt sich über den PR-Chef ergießt.

Doch es kommt noch schlimmer. Die IT-Chefin macht Joel ein unmoralisches Angebot. Doch deren Angestellte Pera hat Joel einen Fluchtweg verraten, den Joel nun nimmt. Allerdings erweist sich der Fluchtweg als Sackgasse. Ein scharfer Schmerz trifft Joel im Rücken und sein Geist stürzt in Dunkelheit. Auf einmal will sich ein zwielichtiger „Reiseunternehmer“ namens Moti seiner annehmen. Vom ersten Augenblick ist Joel klar, dass Moti ein Levantiner ist, also Bürger der einzigen Nation, die sich der Weltgemeinschaft, in der IT herrscht, verweigert. Und Moti erwähnt etwas von Terroristen, die sich Gehinnomiten“ (von „Gehinnom“ = Hölle) nennen. Es gebe sie wirklich, und sie hätten den Anschlag in New York City verübt.

Die weiteren Geschehnisse überschlagen sich, als Sylvia entführt wird, die beiden Joels ins Visier der Gehinnomiten-Sekte geraten und von IT verfolgt werden. Bald kommen Joel und Joel2 einem dunklen Geheimnis rund um das Wunder der Teleportation auf die Spur. Ein Geheimnis, bei dem es um Leben und Tod geht…

Mein Eindruck

Natürlich gibt es eine Verschwörung, einen Schurken, zahlreiche Verwicklungen, eine nicht ganz unschuldige Gattin und zu guter Letzt das „doppelte Lottchen“ alias Joel 1 und 2. Der Showdown mit dem Schurken erfordert den ganzen Einsatz der beiden Zwillinge, bevor alles ein gutes Ende finden kann.

Vorerst, denn es ist ja gerade der Trick an dieser Geschichte, dass beim Teleportieren eine Kopie in einem Speicherpuffer, dem „Punch Escrow“, gibt. Diese Sicherheitskopie bzw. Backups spielen die Rolle des Schachtelteufelchens. Du denkst, sie sind für immer weg, aber sie lauern nur aufs Wiedererscheinen.

Tücken der Teleportation

Die Funktionsweise der Teleportation ist einfach zu begreifen, wird aber kompliziert beschrieben und nur häppchenweise offengelegt. So sorgt eine Enthüllung nach der anderen für Überraschungseffekte. Statt wie auf der „Enterprise“ eine direkte Übertragung eines Menschen von Ort zu Ort vorzunehmen (das „Beamen“), geht Teleportation in drei Phasen vonstatten – und ich verrate hier kein Staatsgeheimnis, sondern grausige Details. Nach dem Kopieren des Originals landet eine Kopie im erwähnten Zwischenspeicher. Theoretisch könnte sie hier x-fach dupliziert werden, und das führt zum Geheimprojekt „Honeycomb“. Gleich mehr dazu.

Bevor die Kopie an ihren Bestimmungsort geschickt wird, muss das Original gelöscht bzw. „klariert“ werden. Das ist genauso brutal, wie es klingt. Nur dass diese Phase bei Joel 1 schiefging. Aber wie konnte dann Joel 2 nach Costa Rica gebeamt werden? Ganz einfach: Sylvia ließ ihn aus dem Zwischenspeicher holen und so quasi von den Toten auferstehen. Gruselig genug? Wer jetzt nicht gleich an gewisse Wiederauferstandene denkt, dem sollte nochmal das Neue Testament lesen. Dieser Aspekt dürfte für die „Gehinnomiten“ auch das entsprechende Sakrileg darstellen: Sie kennen die Wahrheit – und haben ihre eigenen, schrägen Methoden, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Projekt Honeycomb

„Honeycomb“ wird nicht übersetzt, bedeutet aber einfach nur „Bienenwabe“. Es ist der Codename für ein ultrageheimes IT-Projekt, an dem Sylvia beteiligt war, das aber von ihrem Boss William Taraval ins Leben gerufen wurde: ein Raumfahrtprojekt der besonderen Art. Duplikate, die genehmigt wurden (oder auch nicht), werden in Raumfahrzeuge gepackt, zum nächsten vielversprechenden Exo-Planeten geschickt und dort wieder „zum Leben erweckt“, in welcher Form auch immer.

Klingt das gut? Je nach Standpunkt. Man stelle sich einen Filipino vor, der von Planetologie keine Ahnung hat, aber nun über einem fremden Planeten erweckt wird, über den er nicht das Geringste weiß. Das Gleiche gilt natürlich für andere Mitglieder der menschlichen oder anderer Spezies, die in diese nicht gerade beneidenswerte Lage geraten.

Vorbilder

Spätestens seit Richard Morgans Thriller „Altered Carbon“ bzw. „Das Unsterblichkeitsprogramm“ ist uns das Konzept duplizierter Persönlichkeiten vertraut. Wir wissen auch, was alles dabei schiefgehen kann, ganz im Gegensatz zum Beamen auf der „Enterprise“. Vor 20 bis 30 Jahren war also das Konzept der Teleportation und Persönlichkeitsspeicherung geläufig.

Doch bereits in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden bahnbrechende SF-Romane veröffentlicht, die die Themen Teleportation und Duplizierung aufgriffen. Alfred Besters Roman „Tiger! Tiger!“ bzw. „Der brennende Mann“ ist die Story des Grafen von Monte Cristo, in ein SF-Gewand gekleidet. Nur dass der Rächer ein Teleporter ist, der seine Superkraft „Jaunten“ nennt.

Ebenfalls in den fünfziger Jahren erschien der Roman „Projekt Luna“ (O-Titel „Rogue Moon“), in dem ein Mann indianischer Abstammung die Aufgabe übernimmt, das Labyrinth, das Aliens auf dem Erdmond errichtet haben, zu durchqueren. Der Haken: jeder Schritt kann der letzte sein. Der Bonus: Von dem Agenten werden so viele Duplikate angefertigt, wie nötig sind, dass er die Durchquerung schafft und das Rätsel löst – ein moderner Theseus im Labyrinth des Minotaurus, allerdings ohne den rettenden Ariadnefaden. Der Clou, der am Schluss als Pointe enthüllt wird: Alle Originale, die dupliziert wurden, mussten „klariert“ werden, genauso wie es bei Joel Byram vorgesehen war. Hätte man sie nicht beseitigt, wäre es zu einem chaotischen Durcheinander von Identitäten gekommen, genauso wie in „Zwillingseffekt“.

Humor

Joel ist ein origineller Charakter, und es fällt nicht schwer, ihn zu mögen und an seinem seltsamen Schicksal Anteil zu nehmen. Er steht auf die Musik der achtziger Jahre. Jedes der Kapitel trägt als Überschrift das Zitat aus einer Textzeile“. Dass dieses Merkmal früher oder später eine Rolle spielen wird, war mir von Anfang an klar. Joel summt besonders gerne Kajagoogoos Hit über ein gewisses „Karma Chameleon“. Dass Joel eine schräge Art von Humor hat, habe ich schon erwähnt. Noch schräger wird er, als ihm sein Duplikat gegenübertritt.

Salting

Wichtig ist auch Joels Fähigkeit, mit künstlichen Intelligenzen auf vertrautem Fuß zu stehen, sie rasch zu durchschauen und sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Er nennt dieses Überlisten, sofern es legal ist, „Coaching“ und sobald es´, äh, etwas weniger legal ist, „Salting“. Er ist skrupellos. Auf diese Weise gelingt es ihm beispielsweise, die persönliche virtuelle Assistentin seiner Frau, die den schönen Namen Julia trägt, zu überlisten, bis sie geheimste Geheimnisse seiner Frau verrät. Das ist der Nachteil der Aufrüstung per Chip: Sobald es einen Hack gibt, wird er gnadenlos ausgenutzt.

Die Übersetzung

Bernhard Kempen ist zweifelsohne einer der besten SF-Übersetzer hierzulande. Auch hier ist ihm, bis auf wenige Druckfehler, eine ausgezeichnete Arbeit gelungen. Für die ellenlangen Fußnoten kann er ja nichts. Er musste dafür jedoch fachlichen Rat einholen, denn die Materie, beispielsweise Quantentheorie, ist alles andere als einfach. Ich konnte darin, als SF-Vielleser, keine Fehler finden.

S. 304: „Verband über seinem Augen.“ Es muss „über seinen Augen“ heißen.

S. 386: „ohne dass negative[n] Folgen dokumentiert wurden.“ Das N ist überflüssig.

S. 392: „und seinem türkischem Kaffee“. Es sollte „türkischen Kaffee“ heißen.

Unterm Strich

Die Geschichte des doppelten Joel Byram ist flott erzählt und wartet mit zahlreichen Wendungen auf. Der Unterschied zu den oben genannten Vorbildern besteht nicht nur in der romantischen Liebe zu einer nicht ganz unschuldigen Physikerin, sondern auch in den zahlreichen komischen Aspekten, die Joel, der hinterlistige Spaßvogel, seinen Kalamitäten abringt. Und deren gibt es etliche, angefangen vom missglückten Transit, den seltsamen Gesprächen mit diversen KIs, den Köpfen von IT, den Levantinern und den Gehinnomiten bis hin zu Moskitos, die Joel auf den Kopf pissen.

Im 22. Jahrhundert sind ja nicht bloß die Autos intelligent und alle Menschen verdrahtet, sondern die Tiere alle genmanipuliert. In diesem recht interessanten, aber nicht allzu umwerfenden Szenario – das durch zahlreiche Fußnoten erklärt wird – nehmen sich genmanipulierte Moskitos nicht allzu seltsam aus. Sie reinigen die Luft und stoßen das „Abwasser“ als Mikropisse wieder aus. Die Folge sind durchnässte Menschen und ein ständiger (pissgelber?) Nebel über einer Stadt, sei es New York City oder L.A. Dieses drastische, unappetitliche Detail gehört zum typischen New Yorker Humor, nach dem Motto: „Wenn du das nicht aushältst, Mann, dann such dir gefälligst ne andere Stadt.“

Man kann sich als Leser auf die grausige Verschwörung innerhalb von IT konzentrieren oder auch auf die metaphysischen Aspekte der Wiederauferstehung aus dem Zwischenspeicher. Einiges an Spannung gewinnt Joels Geschichte aber aus der relativ schrägen Ermittlung dessen, was mit ihm passiert ist und wer dafür zur Rechenschaft gezogen werden muss. Die Wahrheit kommt, wie es sich für einen Krimi gehört, nur in kleinen, nicht sonderlich appetitlichen Häppchen ans Tageslicht.

Das Beste an dieser Geschichte war jedoch die total schräge Welt des 22. Jahrhunderts, die der Autor beschreibt. Da steckt einiges an Überlegung drin, wenn man mal drauf achtet: Allein die Folgen der Teleportation für das Verkehrswesen sind enorm – außer in der Levante, versteht sich. Damit die Welt nicht zu fremdartig und verstörend wirkt, hat der Autor seinem Helden einen sehr sympathischen Retro-Tick verpasst: Er liebt Popsongs der achtziger Jahre. Hier darf spaßeshalber jeder Nostalgiker den Kapitelüberschriften den zugehörigen Popsongs zuweisen – eine kleine Rätselübung fürs Hirntraining, über die sich Joel königlich freuen würde.

Für die ellenlangen Fußnoten in der ersten Buchhälfte und die Druckfehler gibt es Punktabzug.

Hardcover: 414 Seiten
Originaltitel: he Punch Escrow, 2017;
Aus dem US-Englischen von Bernhard Kempen
ISBN-13: 9783453319288

www.heyne.de

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