Jule braucht nicht viel zum Leben. Alvus ist ihr Zuhause, ein kleines gottverlassenes Dorf irgendwo im Nichts. Das zumindest glaubt Jule, denn für sie existiert nur das: der kleine Teich, die Ziegen, mit denen sie den Stall teilt, die Dorfbewohner, die Mücken, die ihr den Arm zerstechen. Ihre Welt ist klein, sie reicht nur so weit, wie Jule blicken kann, und doch führt sie ein überaus zufriedenes Leben.
Im Dorf dagegen hält man sie für verrückt. Ist einfach eines Tages aufgetaucht, mit dieser riesigen Narbe am Kopf, und kann sich an nichts erinnern. Trotzdem scheint niemand beunruhigt genug, die Polizei zu rufen. Man kümmert sich um sein eigenes Leben, Jule wird geduldet, und keiner kommt auf die Idee, dass jemand sie vermissen könnte. Am allerwenigsten Jule selbst.
Jule könnte bis an ihr Lebensende so weiterleben, in ihrem eigenen kleinen Paradies, in dem sich alles fügt und die Dinge ihren Platz haben. Wäre da nicht … natürlich ein Mann. Wostok kommt aus dem Wald, aus diesem dunklen Nichts, direkt auf Jule zu. Sie verbringen eine gemeinsame Nacht und am nächsten Morgen schnappt er sich sein Moped und verschwindet wieder. Ohne ein Wort.
Doch Jule ist erwacht. Sie will diesen Wostok wiederfinden, will wissen, woher er gekommen ist, was sich hinter dem Wald befindet. Und so beginnt sie zu laufen. Der Waldweg wird bald zu einer asphaltierten Straße, die asphaltierte Straße führt in eine Stadt und als der LKW-Fahrer, der sie freundlicherweise mitgenommen hat, sie in diesem Betondschungel ausspuckt, weiß sie zunächst nicht, wohin sich wenden.
Jule jedoch ist ein Glückskind. Ihr scheint das Schicksal immer hold. Und so landet sie zunächst bei einer Gruppe Hausbesetzern, später dann bei einem Schnellimbiss. Die Jahre vergehen und aus dem Schnellimbiss wird ein Restaurant. Sie versteckt ihr verdientes Geld in einer Keksdose, weil sie nicht weiß, was damit anfangen, aber sie vergisst nie ihre Suche.
„Jules Suche“, der Debütroman einer jungen Schriftstellerin aus dem allertiefsten Osten, ist auf nur reichlich hundert Seiten vieles auf einmal, ohne je überfrachtet zu wirken. Er ist Entwicklungsroman, verfolgt er doch das Erwachsenwerden dieser geheimnisvollen Jule. Er ist Wenderoman, spielt sich doch die Handlung in den frühen 90er Jahren ab. Da sind die Anklänge des magischen Realismus, die Jules Geschichte zuweilen fast märchenhaft wirken lassen. Selbst einige versteckte religiöse Motive sind zu finden, wenn Jule zu Anfang des Buches in diesem paradiesischen Zustand von gleichzeitiger Ahnungslosigkeit und völliger Zufriedenheit lebt. Doch wie in der Bibel auch, kann es so nicht bleiben. Bei Jule zerstört der Einbruch von außen, nämlich Wostoks plötzliches Auftauchen, das Gleichgewicht ihres Lebens. Das Ereignis lässt sie erwachen – Wostoks Gegenwart erweckt ihren Geist, seine Berührung ihren Körper – und schickt sie auf die Suche.
Diese Suche scheint zunächst etwas diffus – sie sucht nach diesem Mann und nach dem, was sich außer ihrem Dorf in der Welt befindet –, doch wird bald klar, dass der Sinn ihrer Suche ein ganz anderer ist. Sie sucht ihren Platz und letztendlich sich selbst. Denn was ihr nicht bewusst war, ist die Tatsache, dass sie selbst verloren war.
Die Autorin erzählt die Geschichte einer jungen Frau vor dem Hintergrund der Wendezeit. Vieles ist mittlerweile über die DDR und über den Fall der Mauer geschrieben worden. Im Vergleich mit all den kuriosen, kritischen, reflektierenden, erschöpfenden Ansichten über die DDR und die Wendezeit wirkt „Jules Suche“ geradezu zurückhaltend. Die deutsch-deutsche Geschichte drängt sich nie in den Vordergrund, gleichzeitig fungiert sie aber auch nicht nur als Schablone, vor der die Charaktere agieren sollen. Die Wende ist etwas, das einfach passiert, das die Menschen überrollt, an Jule jedoch vorbeirollt. Für sie finden Politik und gesellschaftliches Leben nicht statt, und so nimmt sie zwar Veränderungen wahr, kann sie auch benennen, sie ist jedoch nicht fähig, diese Veränderungen bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen.
Ungemein knapp und ökonomisch werden Prozesse nachgezeichnet, die in den Jahren nach der Wende überall in Ostdeutschland zu beobachten waren: der rückkehrende Wessi, der die unbedarften Zonis übers Ohr hauen und den großen Schnitt machen will, der ABV, der plötzlich nichts mehr zu beobachten hat, der Aufsteiger, der die Gunst der Stunde nutzt. Sie alle sind versammelt und der Leser darf ihren Aufstieg (und Niedergang) verfolgen. Geradezu als Überdosis gestaltet Corinna Hein hier den ganzen Wahnsinn der 90er Jahre, konzentriert auf ein unbedeutendes Dorf irgendwo in Ostdeutschland.
Corinna Hein, Jahrgang 1977, hat einige Veröffentlichungen im Kurzgeschichten- und Lyrikbereich vorzuweisen. Ihr erster Roman, „Jules Suche“, hat im |Ronald Hande|-Verlag ein Zuhause gefunden, der einige Titel zum Thema DDR-Geschichte im Programm hat. Wie so oft bei kleinen Verlagen, darf man auch vom RH-Verlag keine Perfektion verlangen. Ein fähiger Lektor hätte den Text sicherlich noch an der ein oder anderen Stelle abrunden und schlichte Satzfehler korrigieren können. Trotzdem vermag das schmale Bändchen den Leser zu fesseln. Sprachlich einfach traumhaft, spickt Corinna Hein ihren Text mit Bildern, die erst im Kopf des Lesers ihre ganze Farbenpracht entfalten werden. Fast meint man, der Nebel der Geschichte würde schon über Jule und ihrem Dorf Alvus hängen, so verträumt und märchenhaft kommen manche Passagen daher. Doch dann werden lakonisch und mit messerscharfer Zunge Lebensschicksale rezitiert und man realisiert, dass man sich doch fast noch im Hier und Heute befindet.
Jule hat ihre Unschuld verloren, und diesen Riss kann auch alles spätere Glück nicht kitten. Ihre Reise ist exemplarisch für eine ganze Generation, und doch bleibt sie als Einzelschicksal märchenhaft schön. Definitive Leseempfehlung!
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