Thiemeyer, Thomas – Nebra

Kaum jemand würde die kleine sächsische Stadt Nebra kennen, wäre dort nicht 1999 die nach dem Ort benannte „Himmelsscheibe von Nebra“ von Raubgräbern gefunden worden. Das rund 3600 Jahre alte Artefakt ist von unschätzbarem Wert, bereits seine Fundgeschichte ist ein Krimi. Über Mittelsmänner wurde die Scheibe illegal weiterverkauft, bis die Schweizer Polizei sie im Jahr 2002 bei einem fingierten Kauf sicherstellen und an das Land Sachsen-Anhalt zurückgeben konnte. Heute wird die Scheibe als Prunkstück im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle ausgestellt, von einem ungefähren Versicherungswert von 100 Millionen Euro wird gemunkelt.

Mittlerweile ist es eher ruhig geworden um die Himmelsscheibe, die gründlich untersucht wurde und zu zahlreichen Spekulationen verleitet hat. Denn die weltweit älteste Darstellung des Nachthimmels mit ihren Mond-, Sternen- und Sonnensymbolen, rund 200 Jahre älter als die ältesten bekannten ägyptischen, ist in ihrer Deutung nach wie vor umstritten und gibt den Archäologen Rätsel auf. Eine der faszinierendsten Theorien stammt von der an der Erforschung beteiligten Archäologin und Spezialistin für Religionen der Bronzezeit, Miranda Aldhouse-Green: Die Häufung religiöser Themenkreise wie Sonne, Sonnenwenden, Sonnenbarke und Mond sowie der Plejaden stelle eine Sammlung verschiedener europäischer (Anmerkung: Die Sonnenbarke steht eher in ägyptischer Tradition) religiöser Symbole dar und könnte einem europaweiten, komplexen Glaubenssystem angehören und eine heilige Botschaft repräsentieren.

Da man die Himmelsscheibe von ihrem Fundort am Mittelberg aus an dem ca. 85 Kilometer entfernten Berg Brocken im Harz justieren und so zur Beobachtung von Sommer- und Wintersonnenwenden nutzen kann, bot sich für den Autor Thomas Thiemeyer eine blendende Gelegenheit, ein archäologisches Rätsel mit einer geballten Ladung Mythologie und Abenteuer zu verbinden. Der Brocken ist bekannt für die Walpurgisnacht und Hexensabbat. Der christliche Versuch, das heidnische Beltanefest durch das Überstülpen eines christlichen Feiertags, eben den der heiligen Walburga, zu assimilieren und in Vergessenheit zu bringen, war bis heute nicht völlig erfolgreich.

Hier setzt Thiemeyer an: Auch im Jahr 2008 gibt es den heidnischen Kult noch. Der ganze Harz ist auf den Beinen und bereitet sich auf eine groß angelegte Walpurgisnacht vor, ein großes Fest für den Tourismus und ein Gräuel und Frevel für die Sekte. Doch die Sterne stehen günstig, zudem wurde die fehlende Himmelsscheibe mittlerweile entdeckt. Mit ihrer Hilfe will man die Tore zur Hölle öffnen und strafende Dämonen entfesseln. Blitze, Hagel und Wetterleuchten rund um den Brocken sind nur der Anfang … Unfreiwillig im Mittelpunkt steht die aus Thiemeyers erstem Roman [„Medusa“ 482 bekannte Archäologin Hannah Peters, die zu diesem Zeitpunkt versucht, die Geheimnisse der Himmelsscheibe von Nebra zu lüften.

_Ein Riesenbrocken Spaß, Spannung, Mythologie, Archäologie und Abenteuer_

Thomas Thiemeyer (* 1963) studierte Kunst und Geologie in Köln und machte sich sowohl als Schriftsteller als auch Illustrator einen Namen. Das kommt auch der Gestaltung von „Nebra“ zugute, denn das Cover hat der Meister, wie bereits bei „Medusa“, „Reptilia“ und „Magma“, selbst gestaltet.

Schriftstellerisch hat Thiemeyer sich seit „Medusa“ kontinuierlich weiterentwickelt. Nebra liest sich noch flüssiger als „Magma“ und ist noch packender und faszinierender als seine Vorgänger. Wie er die reiche Kultur und Geschichte Deutschlands als Grundlage seines Romans nutzt, ist wirklich großartig. Wer hätte gedacht, dass man babylonische, ägyptische, britisch-bronzezeitliche und andere mythologische Elemente stimmig in den Harz verlegen kann? Der Prolog um vier Jugendliche, die sich während einer Klassenfahrt in eine Höhle im Brocken verirren, von einer Art Wolfsmenschen gefangen und in ein heidnisches Ritual als Opfer eingebunden werden, ist nur der Beginn eines Ideenfeuerwerks, das seinesgleichen sucht. Ich fühlte mich spontan an Michael Crichtons „Eaters of the Dead“ erinnert, beziehungsweise an die bekannte Verfilmung „Der 13te Krieger“ mit Antonio Banderas.

Interessant dürfte auch ein Vergleich mit Dan Brown und Ken Follett sein, die einen ähnlichen Stil pflegen, zumindest, was die Länge der Kapitel und Wechsel der Perspektive angeht. „Nebra“ unterteilt seine 507 Seiten in 57 Kapitel. Liegt das Geheimnis moderner Romane etwa auch in Kürze und Abwechslung? Wegen der gelungenen Kombination von Fiktion und Deutung archäologischer Hinweise kann „Nebra“ hier punkten, die Geschichte entwickelt sich im Schneeballsystem zu einer wahren Lawine. Ständig erfährt man etwas Neues, Faszinierendes. Gelegentlich kann ein aufmerksamer Leser sogar den Charakteren voraus sein und Fakten und Verdachtsmomente erfolgreich kombinieren, was mir sehr gut gefallen hat.

Eine meiner Lieblingsfiguren war der pensionierte Kommissar Pechstein, der ein guter Freund des Polizeipräsidenten ist und seine ehemalige „Schülerin“ und Nachfolgerin Ida Benrath bei aller Freundschaft mit seiner väterlich-bevormundenden Art doch gehörig nervt und die Ermittlungen teilweise auch eher behindert. Glaubhafte und interessante Nebencharaktere geben „Nebra“ noch eine Extraportion Würze. Leider trifft das nicht auf die Hauptfigur Hannah Peters zu. Eine schöne, intelligente und leider auch komplizierte Frau, die gelegentlich doch sehr naiv ist, mag an und für sich eine interessante Figur sein, doch scheint das Genre Abenteuerroman zwischen zwei Extremen zu pendeln. Entweder hat man charismatische Über-Figuren wie einen Indiana Jones oder relativ austauschbare Stichwortgeber und Rätselknacker à la Robert Langdon. Letzterer musste in „Sakrileg“ seine geliebte Vittoria aus „Illuminati“ für ihre Forschung an einem ominösen Schwarm wandernder Rochen vor der indonesischen Küste aufgeben, während Hannah Peters ihr Ex- oder Möchtegern-Freund John nach wie vor hinterherhechelt. Ob es nun Hannah Peters, David Astbury oder Ella Jordan sind, die in Thiemeyers Romanen agieren, der Hauptcharakter ist grundsätzlich ersetzbar, denn es ist stets die fabelhafte Geschichte selbst, die fasziniert.

_Fazit:_

„Nebra“ könnte bereits im Frühjahr der Roman des Jahres 2009 sein. So viel geballte und intelligente Unterhaltung scheint nur Thiemeyer in Serie produzieren zu können, und wieder einmal übertrifft er sich selbst. Dabei ist er abwechslungsreicher als Dan Brown, der stets dasselbe grundlegende Schema neu aufkocht. Das Mythologie/Archäologiespektakel am Brocken ist zudem aktueller und innovativer als ein zugegeben gelungener Neuaufguss längst bekannter Gralslegenden. Kurz gesagt, wer Dan Browns Romane mag, der muss Thiemeyers Romane lieben; ich persönlich halte sie, wie erwähnt, in vielerlei Hinsicht für noch besser.

Tipp: „Nebra“ kaufen, „Google Earth“ installieren und sich die Gegend um den Brocken und andere Handlungsschauplätze des Romans ansehen und zusätzlich zur Lektüre kredenzen. Hannah Peters ist, wie vermutlich der Autor des Romans auch, von dem Programm begeistert.

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_Mehr von Thomas Thiemeyer auf |Buchwurm.info|:_

[Interview mit Thomas Thiemeyer 03/07 – »Magma ist großes Kino«]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=74
[Interview mit Thomas Thiemeyer 09/04 – »Am liebsten male ich groß, fett und in Öl.«]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=25
[„Medusa“ 482
[„Reptilia“ 1615
[„Magma“ 3415
[„Magma“ 4796 (Hörbuch)