Robert Charles Wilson – Darwinia

Das geschieht:

Im März 1912 ereignet sich das „Wunder“: Der Kontinent Europa verliert sein bekanntes Gesicht. Während die Topografie erhalten bleibt und alle Flüsse oder Berge noch dort zu finden sind, wo man sie seit jeher kannte, verschwinden Tiere, Pflanzen und Menschen spurlos. Die Städte, Industrielandschaften oder Felder Europas werden ersetzt durch eine bizarre, außerirdische Wildnis, bevölkert von seltsamen, meist sechsbeinigen und in der Regel giftigen Kreaturen.

„Darwinia“ wird das neue Land genannt; ein halb spöttischer Versuch, jenes auf seine Weise völlig ausgewachsen aus dem Nichts entstandene Land zu begreifen, das Charles Darwins epochale, gerade erst halbwegs akzeptierte Lehre von der allmählichen Entstehung und evolutionären Veränderung der Arten Lügen zu strafen scheint. So ist denn auch der alte, halb wissenschaftliche, halb religiöse Streit zwischen den Darwinisten und den „Naochiten“, nach deren Überzeugung Darwinia wie einst die Welt überhaupt in einem einzigen Schöpfungsakt entstand und sich seither nicht mehr verändert hat, wieder aufgeflammt. Die Evolution wird bestritten, Fossilien gelten als göttliche Spielerei, und da die Naochiten nicht nur über eine kopfstarke Anhängerschar verfügen, sondern die Darwinisten fanatisch verfolgen, droht die Forschung auf ein totes Gleis zu geraten.

Verhängnisvoll könnten auch die politischen Konflikte enden, die mit dem Ende des alten Europa einhergehen. Die vom „Wunder“ nicht betroffenen USA streben die Weltherrschaft an. Sie erheben Anspruch auf Darwinia, seine Bodenschätze und Ressourcen. Dieser wird ihnen zwar von den Exilregierungen der ehemaligen europäischen Staaten streitig gemacht, die jedoch nicht über die Macht verfügen, die hegemonialen Ansprüche der Vereinigten Staaten zurückzuweisen.

Im Jahre 1920 macht sich eine große amerikanische Expedition auf, die „Alpen“ Darwinias zu erkunden. Geleitet wird sie vom prominenten aber unbeliebten und dogmatischen Preston Finch, einem Erz-Naochiten, mehr Kirchenmann als Forscher. Als Fotograf geht der abenteuerlustige Guilford Law mit auf die gefährliche Reise. Ihm kommen bald Zweifel über die echten Ziele der Finch-Expediton. Vieles deutet darauf hin, dass sie als Spionagemission unterwegs ist, um das Terrain für eine Eroberung durch die USA vorzubereiten. In London entdeckt Laws Gattin, dass die Briten sich ihrerseits heimlich rüsten, um die Amerikaner aus Darwinia zu vertreiben. Diese werden niemals freiwillig das Feld räumen, sodass ein Krieg bevorsteht.

Als dieser schließlich ausbricht, erreicht er schnell auch die Finch-Expedition. Zu den wenigen Überlebenden gehört Guilford Law, doch er ist für sein Leben gezeichnet. Außerdem verfolgt ihn ein Phantom: der Geist eines anderen Guilford Law, der behauptet, in einer gewaltigen Völkerschlacht umgekommen zu sein, die man den „Ersten Weltkrieg“ nannte …

Geniale Einfälle & Bocksprünge

„Darwinia“: Das ist eine Wundertüte hinreißender Einfälle und gleichzeitig ein beinahe tragisches Mahnmal für tausend verschenkte Möglichkeiten. Es wird gekrönt durch den Beweis für die altbekannte Tatsache, dass ein Geheimnis umso nachhaltiger wirkt, je länger es gewahrt bleibt.

Die Ausgangsidee ist ebenso simpel wie genial: Tilge Europa von der Weltkarte und beobachte was geschieht! Gleichzeitig wird die Geschichte in einer Vergangenheit angesiedelt, die nostalgisch den Geist von H. G. Wells und Jules Verne atmet. Doch Nostalgie ist es nicht, die Wilson verbreiten will. „Darwinia“ ist kein „Steampunk“-Abenteuergarn, sondern soll auch in die Weiten einer metaphysischen Science Fiction vorstoßen.

Gleichzeitig unterliegt Robert Charles Wilson der Versuchung, das Wunder Darwinia zu ‚erklären‘. Er versetzt damit dem bisher heraufbeschworenen Zauber beinahe den Todesstoß. Sicherlich liegt es auch an der Tatsache, dass dies abrupt geschieht und den Leser arg vor den Kopf stößt. Nachdem man sich behaglich eingerichtet hat in dieser parallelen Welt und sie gemeinsam mit ihren erschrockenen und faszinierten Bewohnern zu erforschen beginnt, blendet Wilson plötzlich um ins Weltall, wo er uns mit einer lupenreinen aber nur mäßig originellen Science-Fiction-Rahmenhandlung konfrontiert.

Worum geht es eigentlich?

Abgesehen davon, dass dieses Segment der „Darwinia“-Geschichte mit dem Auftauchen scheinbar über Raum und Zeit erhabener, tatsächlich aber recht hausbacken agierender Alien-Sphärenwesen in einem Winkel des „Perry-Rhodan“-Universums geboren sein könnte, bricht auch der Spannungsbogen jetzt, wo Schrödingers Katze aus dem Sack ist, jählings ab. Im nun anhebenden Spiel um (digitalen) Schein und Wirklichkeit bleiben große Vorbilder wie Stephen Baxter oder Iain Banks (oder gar Philip K. Dick) jederzeit unerreicht. Im Finale stehen sich wieder einmal „gut“ und „böse“ gegenüber.

Wilson scheint selbst nicht gewusst zu haben, welche Geschichte er eigentlich erzählen will. Am Anfang stand anscheinend der Einfall, Europa gegen Darwinia auszutauschen. Mit sichtlichem Vergnügen malt der Verfasser sich und seinem Publikum die so auf den Kopf gestellte Welt aus, verliert dann aber den Faden; ein Gebrechen, das u. a. auch Wilsons epochales Werk „Julian Comstock“ (2009) viel Kraft kostet und offensichtlich eine generelle Schwäche des Verfassers markiert.

Recht unmotiviert mutet in der zweiten Buchhälfte ein Sprung über 25 Jahre an; er erfolgt offenbar nur, um in neuen Darwinia-Reiseberichten zu schwelgen. Dramaturgisch nimmt er jedenfalls die Spannung aus dem Geschehen, zumal Wilson aufwändig eingeführte Handlungsstränge des ersten Teils stillschweigend unter den Tisch fallen lässt. Weitere Zeitsprünge lassen das Geschehen bis in die Gegenwart (des Jahres 1999) holpern.

Noch immer hat „Darwinia“ seine Momente, denn Wilson verfügt über ein ausgeprägtes Gespür für effektvolle Bilder, die sich nur nicht zu einem harmonischen Ganzen fügen wollen. „Darwinia“ fasert bis zum wenig überraschenden Finale immer weiter aus; nicht so schlimm, dass es die viel versprechenden ersten Kapitel vergessen macht, aber eben schlimm genug, so dass wir schließlich doch nur einen Science Fiction-Roman wie hundert andere gelesen haben.

Autor

Obwohl Robert Charles Wilson 1953 in Kalifornien geboren wurde, lebt er seit vielen Jahrzehnten in Kanada. Als SF-Autor wurde er bereits 1975 erstmals veröffentlicht; sein Debüt, die Kurzgeschichte „Equinocturne“, zeichnete er als „Bob Chuck Wilson“.

Weitere Storys und 1986 „A Hidden Place“, Wilsons erster Roman, folgten. Aufgrund seiner originellen Plots, der sorgfältigen Figurenzeichnung sowie eines ebenso anspruchsvollen wie lesbaren Stils erfreuten sich dieser und Wilsons nächste Romane steigernder Beliebtheit bei den Lesern. Dass die Kritiker ebenso begeistert waren, verdeutlicht ein wahrer Preisregen, der sich über Wilson bzw. seine Werke ergoss.

Seit „Darwinia“ hat Wilson weitere SF-Romane vorgelegt, die von der Kritik und seinen Lesern mit Begeisterung zur Kenntnis genommen wurden. Als bisheriger Höhepunkt seiner Karriere gilt die Monumental-Trilogie „Spin“ (2005-2011).

Website

Taschenbuch: 398 Seiten
Originaltitel: Darwinia (New York : TOR Books 1998)
Übersetzung: Hendrik P. u. Marianne Linckens
http://www.randomhouse.de/heyne

eBook: 602 KB
ISBN-13: 978-3-641-09396-9
http://www.randomhouse.de/heyne

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