Wolfgang Jeschke (Hrsg.) – Die große Uhr. Internationale SF-Erzählungen


Aus dem Innern der Uhr ins fernste Weltall: Zeit-Stories

Der SF-Freund findet hier Novellen und Kurzgeschichten von bekannten Autoren wie:

– Stephen Goldin
– James Gunn
– Norman Spinrad
– Howard Waldrop und
– Karl Michael Armer
– Alfred Andersch u.a.

Der Herausgeber: „Was wäre wenn…? Zehn Erzählungen, die um das Phänomen der Zeit kreisen: die Veränderbarkeit von längst getroffenen Entscheidungen, die Möglichkeit von Parallelwelten, von abweichenden Zukünften, von Zukünften, für die man die Weichen besser NICHT stellen sollte, von der Veränderbarkeit der Gegenwart durch Eingriffe in die Vergangenheit oder – noch besser – von Eingriffen in die Gegenwart, um eine bessere Zukunft zu sichern, solange es nicht zu spät ist.“

Darin verbirgt sich schon die Philosophie Jeschkes, dass heute der erste Tag der Zukunft sei. Aber was heißt dabei „heute“ und was „Zukunft“? — Er selbst hat diese Philophie mehrfach literarisch umgesetzt, so besonders in „Der letzte Tag der Schöpfung“ und in „Das Cusanus-Spiel“.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Er starb 2015.

Die Erzählungen

1) Langdon Jones: Die große Uhr (The great clock, 1966)

Der alte Mann erhebt sich in seiner engen Kammer, um sein Tagwerk zu beginnen. Er lebt in der Großen Uhr, und seine Aufgabe besteht darin, sie korrekt am Laufen zu halten. Er fettet die Räder, gießt Öl in Schmierstoffwannen, hämmert gegen Räder und stellt Gewichtsaufhängungen nach. Die Große Uhr tickt, aber er hat vergessen, wozu. Ein regelmäßiges Pfeifen erinnert ihn daran, dass er schon längst mit diesem oder jenem Arbeitsabschnitt fertig sein müsste.

Als er schon müde und ermattet ist, muss er noch die letzte Aufgabe erledigen: Er muss die Feder aufziehen. Das erfolgt durch das Drehen einer Kurbel und dauert normalerweise eine volle Stunde. Doch dann passiert es: Seine Hände rutschen und die Kurbel rutscht zurück, knallt ihm ans Kinn, dass er Sterne sieht und zurücktorkelt.

Da fällt es ihm ein: Er ist 25 Jahre alt und erst seit einem Jahr hier. Doch er denkt an die vielen anderen Skelette in seiner Kammer, bedeckt von Staub. Sein Haar – da, es ist schlohweiß! Seine Haut ist trocken und pergamentfarben wie die eines uralten Mannes. Er IST ein uralter Mann. Mit 25!

Wut packt ihn, und er schwingt seinen größten Hammer gegen eines der Zahnräder. Es gelingt ihm, einen Zahn herauszuschlagen. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten, denn der erste Schaden potenziert sich, die Zerstörung breitet sich wie eine Welle durch den gesamten Mechanismus aus. Das fortwährende Ticken der Großen Uhr verstummt, als ihre Trümmer ihn unter sich begraben. Die Welt, die die Große Uhr antrieb, kommt zum Stillstand…

Mein Eindruck

Die Welt als mechanisches Uhrwerk, das Leben als Versorgung und Pflege dieses Uhrwerks, die zur eigenen Zerstörung des Menschen führt – das ist die ultimative Kritik des nachdenklichen Menschen, der sich seines Rechts auf Selbstbestimmung entsinnt und nun auf Befreiung aus ist. Die ganze Geschichte ist eine einzige Metapher, wie ein Märchen. Denn wie könnte es sonst möglich sein, dass ein 25-Jähriger binnen eines Jahres zu einem uralten Greis altert?

Dies ist eine Erzählung aus dem Jahr 1966, als die Nachkriegsgeneration, musikalisch angeführt von den Beatles und Rolling Stones, alle Welt der Elterngeneration infrage zu stellen und sich auf neue, vielleicht uralte und verschüttete, zu besinnen. Stellenweise greift die Erzählung auch Charlie Chaplins kritischen Filme „Moderne Zeiten“ auf, als sich der Menschen im Räderwerk der Maschine verheddert und fortgetragen wird. Wer an „Hugo Cabret“ denkt, liegt auch nicht falsch, denn auch hier gibt es jemanden, der sich um die Uhrwerke kümmert.

Als Fan von Edgar Allan Poe musste ich bei der Schilderung des gigantischen Perpendikels, das unter unheimlichem Orgeln durch den Schacht saust, unwillkürlich an Poes meisterliche Erzählung „Die Grube und das Pendel“ denken. Das Pendel der Zeit ist das todbringende Instrument, das das menschliche Opfer bedroht. Höchste Zeit also für den Befreiungsschlag, der den Anfang vom Ende der Großen Uhr bedeutet.

Aber der Autor versäumt nicht, den Blick darauf zu richten, was die Große Uhr angetrieben hat: eine künstliche Welt. Vögel halten in ihrem Flug inne, Wasser fällt nicht mehr eine Kaskade hinab, wahrscheinlich geht die Sonne nie mehr unter. Die Uhrwerkwelt stoppt wie eine große Maschine, von der wir nicht ahnen, dass wir in ihr leben.

2) Wolfgang Altendorf: Der Delegierte (1976)

Im Jahr 1987 nimmt der Buchhandelsvertreter Albrecht Krahe einen Anhalter mit, der auch von Pforzheim nach Freudenstadt will. Es ist mitten in der Nacht und mitten im Schwarzwald. Der Fremde behauptet, er kommen aus dem Jahr 2187 und habe den Motor von Krahes Wagen mit einem kleinen Gerät kurzgeschlossen. Mit einem anderen gerät könne er die Schwerkraft aufheben – und demonstriert dies auch. Krahe, unerschrocken, macht es ihm nach und findet das Schweben recht angenehm. Fortan hat er keinen Anlass, an den Angaben des Fremden aus der Zukunft zu zweifeln. Außerdem liebt er Science Fiction.

Er fragt den Fremden, der statt eines Namens nur eine Nummer trägt, nach der Zukunft, wie er in die Vergangenheit reiste und was der Anlass seines Besuchs sei. „Im Jahre 1998 wird ein Wahnsinniger ein Kernkraftwerk am Rhein in die Luft jagen, damit eine Kettenreaktion auslösen und den fruchtbarsten Streifen Land in Europa auf Jahrtausende unbewohnbar machen“, antwortet der Fremde.

In Freudenstadt setzt Krahe den Fremden vor einem Hotel ab und fährt nach Hause. Als er auf dem Beifahrersitz die Akte entdeckt, die der Fremde offenbar vergessen hat, öffnet er den Ordner und entdeckt den Namen des wahnsinnigen Bombenlegers: Es ist sein eigener…

Ein Jahr später soll ein Gutachter im Auftrag des Untersuchungsrichters beurteilen, was von dem Tonband zu halten ist, auf dem Krahe sein Erlebnis aufgezeichnet hat. Dass die Sache ziemlich ernstzunehmen ist, dürfte wohl an der Tatsache abzulesen sein, denkt der Gutachter, dass sich Krahe noch in derselben Nacht im Wald erhängte…

Mein Eindruck

Geschichten über Zeitreisende – wie in „Parallele Spiegel“ weiter unten – gibt es reichlich, doch die wenigsten machen sich Gedanken darüber, wie der Vorgang an sich bewerkstelligt werden könnte. Um Ernsthaftigkeit und Plausibilität bemüht unternimmt es der Autor, den Vorgang mit „responsiver Lichtgeschwindigkeit“ zu erklären. Das habe ich als Nichtphysiker zwar nicht verstanden, aber darum geht es in der Geschichte auch nicht.

Der Fremde aus der Zukunft gehört wohl einer Art Zeitpatrouille nach dem Vorbild von Poul Andersons Zeit-Polizisten an. Seine Aufgab: den Wahnsinnige stoppen, bevor er im Jahr 1998 – also ein gutes Stück in der Zukunft – ein AKW in die Luft jagt. Auch das ist wohl nicht das Thema, sondern nur der Plot. Das Thema kommt vielmehr in dem langen Dialog zwischen Fremdem und Ich-Erzähler zur Sprache: das Gesicht der Zukunft.

Der Erzählstil ist bemüht sachlich, nahezu bürokratisch und trocken. Deshalb wäre es in meinen Augen ganz willkommen gewesen, wenn wenigstens die Rahmenhandlung eine Pointe enthalten hätte. Da diese fehlt, war ich enttäuscht. Der Stil nähert sich Stanislaw Lems frühen Mainstream-Romanen, doch fehlt jegliche satirische Absicht, jeder hintersinnige Humor. Kein Wunder, dass man von dem Autor Altendorf erst wieder 1983 hörte, als Heyne seinen SF-Roman „Das Stahlmolekül“ veröffentlichte (als Nr. 06/3967).

3) James E. Gunn: Verbrennt die Hexer (Witches must burn, 1956!)

Die Volkspartei, die von Senator Bartlett angeführt wird, macht die Wissenschaftler dafür verantwortlich, durch ihre Maschinen und Erfindungen Arbeitsplätze vernichtet und Arbeiter dem Elend ausgesetzt zu haben. Nun brennen die Universitäten und Forschungsinstitute, Intellektuelle werden von Bartletts Agenten wie bei einer Hexenjagd gesucht und gefangengenommen. Nicht etwa die Brandstifter werden als Verbrecher angeprangert, sondern die Wissenschaftler.

Dr. John Wilson ist fast als einziger der Zerstörung seiner Uni im Mittelwesten entkommen, indem er sich davonschlich. Nun versucht er sich nach New Orleans durchzuschlagen, stets auf der Flucht vor den Häschern Bartletts. Eine fesche Blondine spielt eine zwielichtige Rolle, als sie ihn in ihrem Cadillac-Cabrio mitnimmt. Zu zwielichtig für seinen Geschmack, findet er und setzt sich rechtzeitig ab.

Der einzige sichere Kontakt, den er zu den aufnahmebereiten südamerikanischen Staaten herstellen kann, entpuppt sich als Falle der Agenten. Er wird gefangen, doch dann taucht wieder Miss Pam Helmand auf. Ist sie wenigstens diesmal auf seiner Seite?

Mein Eindruck

Der Plot klingt stark nach einer Story aus den goldenen vierziger Jahren, als der Chefredakteur John W. Campbell vorgab, was seine Autoren zu liefern hatten. Doch die Zeiten haben sich beträchtlich geändert. In der Story von James Gunn, einem der großen Chronisten der SF, hat die Technik fast völlig abgedankt. Es gibt nur ein einziges neues Gerät, das Wilson einsetzen kann: Es alarmiert ihn, wenn konkrete Gefahr droht.

Tatsächlich steht die Technokratie, für die Campbell steht, nun in der Kritik. Gegen sie richtet sich der Zorn der Volkspartei. Wie Pam Helmand und ihr Mit-Agent Pike Wilson zu erklären versuchen, haben es die Technikforscher jahrelang versäumt, aus ihrem Elfenbeinturm mal aufs Volk zu schauen, um zu sehen, welche Folgen ihre Technologie hat. Nun seien Disziplinen wie Psychologie und Soziologie notwendig, um den Schaden wiedergutzumachen, kurzum: Einfühlungsvermögen.

Über diesen rationalen und leicht nachvollziehbaren Plot legt der Autor allerdings eine symbolistische Ebene, die auf den ersten Blick etwas frivol wirkt, aber nach etwas Nachdenken durchaus Sinn ergibt: Wissenschaftler und Intellektuelle als Hexer und Zauberinnen. So erscheinen sie dem einfachen Volk, und folglich sollten sie fortan auch so auftreten, so widersinnig das erscheinen mag. Aberglaube erscheint, nachdem die Vernunft abgedankt hat, und Figuren des Aberglaubens können sich nun am besten verständlich machen.

Bei John Wilson, der sich nun gar nicht mehr im Recht sieht, dauert es ein Weilchen, bis ihm diese ungewöhnliche Idee einleuchtet. Dann begibt er sich zur nächsten Polizeistation, wo sein Fahndungsfoto hängt, und stellt sich den „Hexenjägern“. Er ist bereit, dieses Kreuz auf sich zu nehmen – ein sehr ungewöhnlicher Schritt, der den Leser herausfordert, darüber nachzudenken.

4) Karl Michael Armer: Mit beiden Beinen fest auf der Erde (1977)

Colonel Arthur Ronneberger ist zusammen mit dem Russen Leontow auf dem Mond gewesen, doch das angepeilte Ziel, die Bergung einer russischen Kapsel, erreichten sie nicht. Dennoch will die NASA die Expedition um jeden Preis als Erfolg feiern und schickt Ronneberger von einer Pressekonferenz zur nächsten. Als die Fragen sich ständig wiederholen und immer dämlicher werden, verlässt Ronneberger genervt einfach das Podium. Als er in einer Talkshow mitten in der Sendung in Tränen ausbricht, reißt seinem Vorgesetzten der Geduldsfaden. Er gewährt ihm zumindest eine EHRENVOLLE Entlassung.

Etwas muss mit Art auf dem Mond passiert sein, ahnt auch seine Frau Donna, mit der er in ihr heimatliches Kaff im hintersten Kentucky gezogen ist. Artie besäuft sich ständig, bemitleidet sich, grübelt in sich hinein und brüllt sie an. Die Kinder hat sie bereits in Sicherheit gebracht, doch den Nachbarn kann man das Maul nicht verbieten. Sie lästern über Art. Bei einem Zwischenfall in einem New Yorker Hotel erblindet er: Er hat seinen schmerzenden Schädel in sein Spiegelbild gerammt…

Der Hirndoktor weiß Donna Übles zu berichten: Ihr Mann sei suizidgefährdet und schizoid veranlagt. Er wähne sich in einer anderen Welt und sei mit der hiesigen Realität denkbar unzufrieden. Die Lösung? Eine Gummizelle, sagt der Hirndoktor. Ronneberger hat alles über die Sprechanlage mit angehört und bekommt einen Tobsuchtsanfall.

In der Gummizelle erinnert sich Arthur immer wieder an jenen seligen Moment, den er auf dem Mond erlebte: Er schwebte schwerelos über den grauen Mondstaub – oder er fuhr das Mondmobil viel zu schnell. Mann, toll! Und über sich die schwebende Kugel der Erde – nur dass er sie in seinen Träumen mit seinem Gesicht versieht.

Die Zelle ist nicht schlimm, schließlich ist sie nur eine Abteilung der neuen Mondstation, schon klar, und gesichert gegen Meteoreinschäge. Wenn er nur den Ausgang fände! Dann würde wieder mit Leontow hinausspazieren auf die Mondoberfläche, um zu schweben…

Mein Eindruck

Diesmal geht es um eine andere Art von Zeitreise, nämlich um einen psychischen Übergang von einer Realität in eine andere. Für den „Patienten“ ist das allerdings keineswegs schlimm, sondern stellt eine Rückkehr in jenen Zustand der Glückseligkeit dar, den er auf einem anderen Himmelskörper erleben durfte. Als er schließlich vollends abhebt, ahnt er nicht, dass er aus einem Fenster im 12. Stockwerk springt…

Die Erzählung ist, wie bei Armer üblich, ungewöhnlich gut strukturiert. Der Marketingfachmann fügt Kapitelüberschriften ein, die einen kleinen Hinweis geben, um was es geht: Scherzo, Transition, Hiob und viele mehr. Auf dieser Metaebene kann man sich einen Reim darauf machen, was mit Ronneberger los ist.

Dass der passive Widerstand, den der Mondheld leistet, eine kritische Komponente hat, ergibt sich aus der Tatsache, dass er das PR-Spiel der Medien und der Presseabteilung der NASA nicht mehr mitspielt. Er kann Sinkgeschwindigkeit und Neigungswinkel im Kopf berechnen, aber alles, was die Presse interessiert, ist seine Hygiene (lies: Kacke) und das Zusammenleben mit einem feindlichen Russen an Bord der Raumkapsel – „human interest“ eben. Über dieses Stadium der Humanexistenz ist Ronneberger jedoch schon weit hinaus, seit er einen Moment der Transzendenz erleben durfte. Nicht die Erde ist seine seelische Heimat, sondern das Weltall. „Mit beiden Beinen auf der Erde“ – das ist dann wie die Rückkehr in die Hölle.

5) Alfred Andersch: Ein Auftrag für Lord Glouster (1969)

An einer Berliner Würstchenbude vor dem Café Kranzler behauptet einer der Kunden, Graf Glouster aus dem 15. Jahrhundert zu sein. Heute am 13. Juni sei sein Geburtstag. Der erste Mann, der dies hört, fühlt sich veräppelt und zieht wütend ab, doch der nächste in der Reihe ist ein Anwalt. Dr. Bernheimer nimmt Glouster völlig ernst, denn er kennt sich mit englischer Familiengeschichte während des Hundertjährigen Krieges aus.

Interessant wird es, als herauskommt, dass Glouster Jeanne d’Arc gekannt hat – von ihrem Sieg bei Orleans bis zu ihrer Verbrennung in Rouen. Sie habe ihm einen geheimen Auftrag gegeben, flüstert Glouster. Welcher worin bestünde?, fragt Dr. Bernheimer. – Die Welt auf ihre Wiederkehr vorzubereiten…

Mein Eindruck

Andersch ist einer der wichtigsten Autoren der jungen Bundesrepublik gewesen, und wenn er in dieser Auswahl auftaucht, dann sollte man dem Text Beachtung schenken. Die Geschichte dient dazu, ein kommendes Großereignis auf spiritueller Ebene anzukündigen. Wie jeder weiß, betrachtete sich Jeanne d’Arc als Kämpferin für Gott, dessen Erscheinung sie in ihrem Dorf teilhaftig geworden war.

Sollte sie nun wiederkehren, so ist auch mit der Wiederkehr des Gottessohnes zu rechnen. Und in diesem Fall fällt Glouster sozusagen die Rolle des prophetischen Johannes des Täufers zu. Dass all diese großen Dinge an einer Würstchenbude ihren Anfang nehmen sollen, macht sie zwar quasi alltäglich, aber keineswegs banal. Die konsequente Fortsetzung lieferte der verfilmte Roman „Jesus liebt mich“ von Safier.

6) Fritz J. Schmidhäusler: Der TDB-Transmitter (1977)

Zunächst ist die Erfindung des Materietransmitters im Jahr 2154 überhaupt kein Erfolg: Man kann damit nicht durch die Zeit reisen, wie vielleicht gehofft haben. 2171 wird bekanntgegeben, dass damit nur ein Rauminhalt von 1 Kubikmeter (cbm) übertragen werden kann. Das reicht gerade mal für Kleinvieh – oder einen zusammengefalteten Menschen.

Als sich Jano Janowitsch übertragen lässt, stellt man erstaunt fest, dass er die Persönlichkeit von Jean-Louis Remonte angenommen hat, des Präsidenten der Kleinen Europäischen Union (KEU). Er hat also während der Übertragung fest an Remonte gedacht, der ihm die Hand gedrückt hatte, und übernahm dessen Erinnerungen usw.

Das ist endlich der Schlüssel zum Erfolg des Transmitters: Transmission de beauté (TDB)! Eine Frau braucht nur an Brigitte Bardot zu denken, schon sieht sie danach aus wie die Bardot. Gleichermaßen gilt dies für Männer, die aussehen wollen wie Paul Newman. Das Problem: Wenn alle so aussehen, verliert das Besondere daran seinen Reiz. Hoffentlich schafft der TDB auch dafür Abhilfe!

Mein Eindruck

In Superhelden-Serien wie „Perry Rhodan“, aber auch in „Star Trek“ spielen Materietransmitter eine wichtige Rolle, um die Helden schnell von A nach B zu bringen – oder auch, um Kopien herzustellen, etwa von reizvollen Damen. In diesem kurzen Text allerdings liegt eher eine satirische Absicht zugrunde: Der TDB-Transmitter sorgt für die universale, nein, uniforme Verbreitung von Schönheit – und führt so deren Abschaffung herbei.

7) Hugo Lindo: Parallele Spiegel (Espejos parallelos, 1963!)

Um 1978 wird die westliche Welt auf die Vielzahl von Nobelpreisen aufmerksam, die an Menschen aus Mittelamerika vergeben werden. Physiologen und Mediziner, Chemiker und Physiker erhalten Jahr für Jahr einen solchen Preis, Männer und Frauen. Diese Entdeckung, von der „Times“ 1991 hinausposaunt, führt zu einer kleinen Invasion von Experten aus West und Ost, die wissen wollen, wie das zugehen kann. Denn mit den wissenschaftlichen gehen auch technische und wirtschaftliche Errungenschaften einher. Die anderen Staaten wollen nicht ins Hintertreffen geraten.

Die Agenten führten zur Intervention, die Intervention zum Krieg, der Krieg zum atomaren Holocaust. Bevor es soweit kommt, entdeckt unser Chronist, dass seine Ex-Freundin Lupe Orizaba, die nun mit dem genialen Martin Arbeláez zusammenlebt, nicht aus seiner eigenen Zeit stammt, sondern aus dem 24. Jahrhundert. Und da sie die Enkelin seiner Urenkel ist, kann aus ihnen beiden auch nie ein Paar werden, sagt sie. Die seltsamen Schriftzeichen, die sie verwendet, sprechen die gleiche Sprache.

Doch der nun ausgelöste nukleare Weltkrieg löscht die Hoffnungen und Entwicklungen des 20. Jahrhunderts aus. Missbildungen treten in Mittelamerika massenhaft auf. Die Übertragung der Kultur des 24. aufs 20. Jahrhundert hat verheerende Folgen: Eine neue Steinzeit bricht an, und alles beginnt noch einmal von vorne. Es ist, als spiegelte sich das 24. im 20. Jahrhundert und das 20. im 24., wie parallele Spiegel, unendlicher Abfolge…

Mein Eindruck

Ein Glück also, dass unser Chronist seinen Asimov, Heinlein, Bradbury und Borges gelesen hat. Denn sonst hätte er womöglich den Verstand verloren. Die Kenntnis der „Fantascienza“, wie sie in Italien genannt wird, verhilft ihm zu einem größeren Bezugsrahmen, um die Phänomene einzuordnen – und die Folgen berechnen zu können.

Jetzt aber im Ernst: Der Autor aus San Salvador zeigt auf, was passieren könnte, wenn wir wirklich Entwicklungshelfer aus der Zukunft bekämen. Die Folgen sind hier negativ, werden aber von innerhalb der Welt heraufbeschworen. In der ähnlich gelagerten Novelle „Traubenlese“ von Moore / Kuttner reisen ebenfalls Leute aus der Zukunft ins 20. Jahrhundert, aber nicht um zu helfen, sondern um Katastrophen zu verursachen und sich an dem „Schauspiel“ zu ergötzen. Die Erzählung schildert dies anhand des Beispiels des Erdbebens von 1906, das San Francisco verwüstete.

8) Steven Utley & Howard Waldrop: Custers letzter Absprung (Custer’s last jump, 1976)

In einem alternativen Geschichtsverlauf haben die Südstaatler im Amerikanischen Bürgerkrieg eine schlagkräftige Luftwaffe aufgebaut, in der Flugzeuge aus den Niederlanden und den Preußischen Staaten eingesetzt werden. Unter ihrem Befehlshaber Moseby werden die Doppeldecker zur Verteidigung von Texas eingesetzt, aber auch im die Forts der Nordstaatler entlang der Westgrenze anzugreifen.

Hier, im Indianergebiet, kommt es zu einer historischen Begegnung: Moseby lernt Crazy Horse kennen, den Kriegshäuptling der Oglala-Sioux. Anders als seine Stammesbrüder hat Crazy Horse keinerlei Angst vor den „Donnervögeln“, sondern will lernen, sie zu steuern. Denn Crazy Horse ist zu diesem Zeitpunkt in den 1860er Jahren bereits darüber im Bilde, dass es die Nordstaatler, die „Blauröcke“, sind, die sein Volk vernichten wollen. Obwohl er dafür belächelt wird, nimmt Moseby Crazy Horse und dessen Freund Black Man’s Hand in die Fliegerschule auf. Als sein Ausbilder und Freund Neldoo Smith von Nordstaatlern abgeschossen wird, schwört Crazy Horse Rache.

Das Kriegsministerium der Union wird bestürmt, mehr Luftstreitkräfte in den Fernen Westen zu verlegen. Sobald der Krieg 1867 mit der Niederlage der Südstaaten beendet ist, kann es dies in verstärktem Maße tun. Sogar Zeppeline werden von Chicago aus gestartet, um den Roten Mann zu unterwerfen bzw. nötigenfalls auszurotten. Hier kommt George Armstrong Custer ins Spiel. Der Kriegsheld ist einer der jüngsten Generäle des Nordens und sucht weitere Gelegenheiten, sich hervorzutun. Er führt nun die 7. Luftkavallerie und als Fallschirmspringer das 505. Bataillon. Als die demokratische Partei ihm den Parteivorsitz und die mögliche Präsidentschaftskandidatur anbietet, sollte er einen Blitzkrieg gegen die Roten gewinnen, ist der Zeitpunkt gekommen.

Man schreibt den Juni 1876, als Custer von Osten mit seinen Fallschirmspringer und Luftschiffen das Lager der Sioux und Cheyenne am Little Big Horn River angreift. Gleichzeitig rücken von Süden und Norden Infanterie und Kavallerie an. Allerdings war die Aufklärung mangelhaft: Nicht 1000 Rothäute haben sich zusammengefunden, sondern zehnmal so viele. Sitting Bulls Sonnentanz-Vision von weißen Männern, die aus dem Himmel, um ihn zu töten, erfüllt sich. Doch anders als erwartet: Crazy Horse und Black Man’s Hand können sechs ihre in den Black Hills versteckten Flugzeuge flottmachen und die Zeppeline angreifen. Der Rest ist Geschichte.

Mein Eindruck

Diese „historischen“ Ereignisse werden zuerst etwas trocken in den Annalen der Smithsonian Institution“ wiedergegeben, dann aber durch einen Magazinartikel regelrecht zum Leben erweckt. Zu guter Letzt finden sich auch noch interessante Tagebuchaufzeichnungen eines gewissen Samuel Langhorne Clemens, der sich „Mark Twain“, nennt.

Mit der Absicht, eine Fortsetzung zu seinem Roman „Huckleberry Finns Abenteuer“ (1885) zu schreiben, besuchte er Oklahoma, das damals noch „Indianerterritorium“ hieß. Er traf Black Man’s Hand, den ehemaligen Luftkrieger, und erhält von ihm aus erster Hand einen Bericht über den Luftkrieg im Fernen Westen und das ruhmreiche Ende von Häuptling Crazy Horse. –

Geschichten über alternative Geschichtsverläufe sind eine Spezialität des SF-Herausgebers Wolfgang Jeschke, und „“Custers letzter Absprung“ ist ein Paradebeispiel für diese Disziplin der Phantastik. Die beiden bekannten US-Autoren spielen die Möglichkeiten durch, was passiert wäre, wenn Flugzeuge, Luftschiffe und Maschinengewehre schon 40 bis 50 Jahre früher entwickelt worden wäre. Es wird Benjamin Franklin als Erfinder erwähnt, aber auch die Firma Krupp, die Crazy Horses Eindecker baute und über Mexiko in die Südstaaten transportierte. Das Modell aus dem Jahr 1882 ist im Luftfahrtmuseum der Smithsonian Institution ausgestellt – das ist der Aufhänger der wunderbaren Story.

Bemerkenswert ist die zutreffende Verwendung beglaubigter Ereignisse aus den Indianerkriegen wie etwa den Überfall auf ein Indianerlager am Washita River – auf US-loyale Indianer wohlgemerkt. In der Alternativversion ist es Custer, der den Überfall mit seinem Fallschirmjägern durchführt und 300 Indianer sowie 500 Pferde massakriert. Dennoch bleibt der Eindruck, dass die Autoren sorgfältig recherchiert haben.

Das Elend der Indianer wird noch durch Mark Twains Eindrücke von Black Man’s Hand eindrucksvoller untermauert. Der Gefangene hat weder Fußbekleidung noch eine Decke, um sich zu wärmen. Zum Glück zeigt sich Twain streitbar und sarkastisch wie eh und je.

Den krönenden Abschluss bildet die fiktive Bibliografie zu diesen Beiträgen. Hier finden sich illustre SF-Autoren wie E.R. Burroughs (der Schöpfer des TARZAN), L. Sprague de Camp, Fletcher Pratt usw., aber auch eine gewisse „Lotte Reifenstiel“ alias Leni Riefenstahl, die einen Roman oder Film mit dem Titel „Die schönen Wilden in ihren fliegenden Kisten“ anno 1933 veröffentlicht hat.

9) Stephen Goldin: Der letzte Geist (The last ghost, 1971)

Seit 5000 Jahren gibt es den Tod nicht mehr, denn die Bewohner der Erde (die es sich leisten können), laden ihren Verstand auf Speicher herunter und leben dort weiter. Doch hin und wieder treten technische Pannen auf, und so kommt es, dass SIE im Reich der Toten landet. Hier trifft sie auf den letzten Geist, der noch aus der Ära vor dem Download übriggeblieben ist.

Sein einsamer Verstand, der äonenlang durch keine Begegnung stimuliert wurde, ist schwach und löchrig und weiß nur eines: Er sehnt sich nach etwas. Doch er hat vergessen, was das sein könnte. Die Begegnung mit IHR verläuft daher ziemlich frustrierend. Eigentlich soll er ja hier im Totenland als Führer dienen, aber er hat vergessen, wohin.

Als die Panne behoben wird, merkt sie, dass sie sich wieder aus dem Totenland zurückziehen muss. Sein Geheimnis bleibt ihr daher für immer verborgen…

Mein Eindruck

Diese kurze Story, die für den NEBULA Award nominiert war, könnte man gut als Schauergeschichte einstufen, gäbe da nicht das winzige Detail mit dem Download des Verstandes auf Speicher. Das ist eine nahezu hellseherische Vorausdeutung auf das, was heute der Fall ist. Zwar stecken die Nutzer von Facebook immer noch in verletzlichen Bio-Körpern, aber ihren Verstand laden sie in vielerlei Hinsicht auf ihre Facebook-Account als Timeline herunter, um sie mit anderen Nutzern zu teilen.

Die Weiterentwicklung ist natürlich das Kopieren, Manipulieren und Missbrauchen von Verstandes-Downloads. Dies hat Richard Morgan in seiner Trilogie über das „Unsterblichkeitsprogramm“ ausgezeichnet beschrieben.

10) Norman Spinrad: Der Weg der Flamme (Riding the torch, 1973)

2040 Raumschiffe befinden sich auf dem Flug ins Irgendwo. Die Tiefe des Alls, so hoffen sie, soll ihnen eine zweite Erde bescheren, ein zweites Eden. Vor über 500 Jahren haben ihre Vorfahren es fertiggebracht, ihre heimatliche Erde in einem atomaren Holocaust zu vernichten. Die Saatschiffe bringen die letzten Überlebenden erst zu den näherliegenden Sternen. Doch alle Planeten, die diese umkreisen, haben sich bislang als unbewohnbar erwiesen. Das macht aber keine Angst, denn vor der Flotte erstreckt sich die bunt wie ein Regenbogen schillernde Grenzschicht aus zusammengedrängten Wasserstoffatomen. Jeder Tag bietet ein fröhliches Farbenspiel…

Die Flotte ist in deutliche Gruppen gespalten. Da sind einmal die ganz normalen „Trecker“, die einfach nur Party nach Party feiern, einander mit Senso-Programmen unterhalten und künstliche Umgebungen erschaffen. Zu ihnen gehören die Künstler Jofe D’Mahl und seine Geliebte Jiz Rumoku, die ein ganzes Schiffsdeck für sich beansprucht, das sie als künstlerischen Spielplatz benutzt. Jofe hingegen ist eine Art Autor-Regisseur, der Senso-Filme erschafft. Per eingepflanztem Senso-Modul kann jeder „Zuschauer“ mit allen Sinnen an diesen Ereignissen teilhaben.

An Bord der Hauptschiffe befinden sich die „Buddler“, wie Jofe diejenigen Typen nennt, die unbedingt eine Welt haben wollen, die sie besiedeln und nach ihrer Vorstellung gestalten wollen. Ihnen entgegengesetzt sind die „Raumtaucher“, die die Erkundungsschiffe bemannen, mit denen der tiefe Raum, die Sterne und deren Planeten auf Bewohnbarkeit und Leben abgetastet werden. Die „Raumtaucher“ sind ein seltsames Völkchen, findet Jofe. Sie verbergen irgendein Geheimnis…

Kurz nachdem Haris Bandoora, ein Sprecher der „Raumtaucher“ die Entdeckung einer erdähnlichen Welt verkündet hat, startet Jofes neuestes Meisterwerk „Die Wandernden Holländer“. Beeindruckt von dessen Qualität und Aussage fordert Bandoora Jofe heraus, doch selbst mal ein Scoutschiff zu besuchen, um die „Raumtaucher“ näher kennenzulernen. Wer weiß – es könnte sich ein Motiv für sein nächstes Werk ergeben.

Trotz des ihm bewussten Risikos, das er hinsichtlich seiner geistigen Gesundheit eingeht, nimmt Jofe die Herausforderung an. Sein Ego ist riesig, denn es ist alles, was er hat. „La réalité, c’est moi!“, sagt er im Still des legendären Sonnenkönigs. Zunächst wundert er sich, dass diese Raumtypen eigentlich gar nichts Sinnvolles tun, denn alle Systeme sind vollautomatisiert. Statt dessen faseln sie etwas vom „Ruf der Leere“. Was das sein soll, fragt sich Jofe ein ums andere Mal.

Einer der Raumtaucher hat den „Ruf der Leere“ gehört. Was jetzt, fragt sich Jofe. Er und Bandoora begleiten den Mann durch die Schleuse und schauen zu, wie der Mann, gehüllt nur in seinen Raumanzug, sich in die leere Schwärze hinausgleiten lässt. Die Scoutschiffe sehen die schillernde Seifenblase der Trecker nicht: Sie nehmen das Weltall so dar, wie es ist: leer, schwarz, gesprenkelt mit fernen Sternen.

Eines Tages ist es soweit. Jofe hört selbst den „Ruf der Leere“ und macht sich bereit, einen Tag im Nichts zu verbringen. Eine der Raumtaucherinnen fleht ihn demütig an: „Erlösen Sie uns, D’Mahl! Nehmen sie diese Bürde von uns!“ Was sie meint, ist die Diskrepanz zwischen der niederschmetternden Wahrheit, dass es keine einzige Erdwelt gibt, und der Selbsttäuschung, dass die Galaxis voll davon sei, wie die Trecker und Buddler glauben.

Der Tag, den Jofe in der umfassenden Leere des Alls verbringt, verändert ihn unwiderruflich. Doch wie soll dies den anderen Treckern helfen? Der „Ruf der Leere“ würde sie allesamt in den Wahnsinn treiben…

Mein Eindruck

Dies ist alles andere als ein Stück Pulp Fiction. Ursprünglich in Robert Silverbergs Anthologie „Threads of Time“ veröffentlicht, packt die Geschichte Jofe D’Mahls das Problem aller Generationenschiffe an der Wurzel an: die Frage nach der Selbstberechtigung dieses Trecks zu den Sternen.

Angesichts der unendlichen Ungastlichkeit des Alls scheint der Treck von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Da es kein Ziel gibt, das er erreichen könnte, ist der Treck nur eine Selbsttäuschung, der sich die Siedler hingeben. Sie sind die „Wandernden Holländer“ der Legende, wie D’Mahl es in seinem Sensofilm ausdrückt. Oder doch nicht?

Lehre der Leere

In einer Abfolge von plastischen Bildern malt der Autor ein Panorama der Wirklichkeit, der sich die Trecker und Buddler verschrieben haben. Als Antithese lässt er sodann seine Hauptfigur D’Mahl eine völlig entgegengesetzte Realität erkunden, nämlich die der „Raumtaucher“.

Die Lehre der Leere, so findet Jofe heraus, besteht darin, dass der Treck und alles Leben darin nur eine Verirrung, eine Laune der Natur darstellt. Und die wahre Natur, das ist die Leere. Nicht etwa das Nichts, denn dann würde auch die von Wasserstoff und Sternen erfüllte Leere nicht existieren. Leben, das wird Jofe hautnah klar, ist nur der Schmutzklecks, der zwischen der umfassenden äußeren und der ihn nun erfüllenden Leere hauchdünn existiert und sich für Gottes wahre Schöpfung hält, die dem Universum erst Sinn verleiht.

Nach dieser Abfolge von These und Antithese besteht Jofes Problem vor allem darin, eine Synthese zu finden. Seine neue Wahrheit würde die Trecker in den Wahnsinn treiben, nicht zuletzt seine Freundin Jiz Rumoku, die denkt, vor ihr liege das neue Eden, das man endlich besiedeln könne.

Synthese: Hiob

Doch dann stellt sich Jofe endlich den Konsequenzen, die sich aus dem Widerspruch des Erlebten ergeben. Wie schon in „Die Wandernden Holländer“ verarbeitet er seine Gedanken, Erlebnisse und Ansichten in eine fiktionale Form, die die Trecker ebenso verstehen können wie die „Raumtaucher“. Das Paradigma ist der biblischen Geschichte über den Mann namens Hiob entnommen, dessen Glauben an Gott auf die denkbar härteste Probe gestellt wird.

Doch diese Senso-Aufführung kommt keineswegs bierernst daher, sondern als lustige Farce. Gott, der alte Typ mit dem Rauschebart, wird von dem listigen Satan herausgefordert, Hiob zu prüfen. Hiob – das sind die Trecker, und Gottes ultimative Prüfung besteht in der Offenbarung, dass es keine zweite Erde gebe und auch nicht geben könne.

Das freut den Teufel ungemein, denn nun darf er auf etliche Seelen hoffen, die sich von Gott ab- und ihm zuwenden. Doch wer das Spiel gewinnt, soll hier nicht verraten werden.

11) Oliver Behnssen: Sieben Gedichte

Die Gedichte haben verschiedene Themen. Man kann sie nicht beschreiben.

Mein Eindruck

Die Gedichte sind meist leicht verständlich, aber natürlich in lyrischer Sprache verfasst, also mit Zeilensprüngen und so weiter. Muss man mögen.

Die Übersetzungen

Ich war zu meiner großen Freude entzückt von der nahezu makellosen Fehlerlosigkeit dieser Texte. Damals, kurz vor dem Jahr 1980, wurde offenbar noch für gutes Geld korrekturgelesen! Nach 1980 sahen die Texte, je nach Verlag, schon viel fehlerhafter aus. Pabel-Moewig ging wohl mit schlechtem Beispiel voran, wie die SF-Auswahlbände der PLAYBOY-Reihe belegen.

Unterm Strich

In dem vorliegenden Auswahlband haben mir am besten die Novelle „Custers letzter Absprung“ und der Kurzroman „Der Weg der Flamme“ gefallen. Letzterer erschien unter dem Titel „Flammenritt“ auch als eigenständiger Band bei Bastei-Lübbe. Bei Spinrad spielt der lange Zeitraum eine Rolle, über den hinweg sich der Exodus-Treck erstreckt, und ob er noch eine Zukunft hat. bei „Custers letzter Absprung“ verläuft die Geschichte gleich ganz anders: Was wäre gewesen, wenn die Südstaaten und die Indianer Flugzeuge gehabt? Die Erzählung bietet ein ungewöhnliches unterhaltsames, aber auch erkenntnisreiches Gedankenspiel.

Den übrigen Texten konnte ich nicht so viel abgewinnen, aber zumindest sticht die titelgebende Story durch Anschaulichkeit und Originalität heraus. Auch K. M. Armers Text wusste mich von seinem Thema, der Entfremdung eines Ex-Astronauten bis zur Schizophrenie – durchaus zu überzeugen. Zwei Besuche aus der Zukunft bieten „Der Delegierte“ und „Parallele Spiegel“. Der Text von Hugo Lindo faszinierte mich durch seine rätselhafte, reflektierende Verschachtelung, während Altendorf genau das Gegenteil anstrebt.

Stephen Goldins Story „Der letzte Geist“, die für den Nebula Award nominiert war, lässt uns nur einen winzigen Blick auf die Möglichkeiten erhaschen, die heute in aller Munde sind: Persönlichkeitsspeicherung und -übertragung. Spätestens seit Richard Morgans entsprechender Trilogie sind die Möglichkeiten dieser Technologie als einer großen Gefahr ausgelotet worden und erkennbar. Goldin zeigt aber, dass es einen erheblichen Unterschied bedeutet, einen traditionellen, analogen Verstand zu haben oder wie die Newcomerin einen neuartigen, bereits gespeicherten – die Begriffe „Tod“ und „Ewigkeit“ haben jeweils grundsätzlich andere Bedeutungen.

James Gunns Erzählung „Verbrennt die Hexer“ erscheint mir wie die fehlende Story, die Heinlein in seiner geschichte der Zukunft gelassen hat, immerhin 75 Jahre. Heinlein schildert in „If this goes on“ (1939, revidiert 1953) die Herrschaft des Priesterdiktator Nehemiah Scudder, der von Rebellen zu Fall gebracht werden soll. Gunn liefert quasi die Vorgeschichte, nach dem Motto: „Wenn das so weitergeht, könnte es so angefangen haben“.

Mich hat an der Gunn-Story beeindruckt, dass sich Gunn nicht mit revisionistischen Rachegedanken abgibt. Nein, John Wilson, der verfolgte Wissenschaftler, ist es, der sich ändern muss, um sich der neuen Gesellschaft anzupassen. Die dialektische Logik dahinter ist fordert den Leser zum Mitdenken heraus.

Die Geschichten von Andersch und Schmidhäuser sind amüsante Gedankenspiele, die hier ebenfalls ihre Berechtigung haben. Was wäre, wenn Jeanne d’Arc ihre Rückkehr und folglich auch die ihres Herrn Jesus Christus vorbereiten ließe? Second-Coming-Stories wie diese gibt es nur wenige, denn sie werden leicht in eine christlich-fundamentalistische Ecke gestellt.

Schmidhäuser ist da mit seinem TDB-Transmitter schon viel witziger: Die Übertragung von Schönheitsmerkmalen der Filmschauspieler erfolgt wie beim Friseur – und führt zur Abschaffung der Schönheit. Die sieben Gedichte von Jeschkes Haus- und Hofpoeten Oliver Behnssen regen die grauen Zellen, sofern man mit Lyrik überhaupt etwas anfangen kann.

Ergo

Mit zwei großen Highlights spricht dieser thematisch konzentrierte Auswahlband eindeutig SF-Fans und -Sammler an. Wer Spinrads „Flammenritt“ nicht einzeln kaufen will, bekommt hier eine deftige Zulage geboten. „Custers letzter Absprung“ ist eine wunderbare Erzählungen, die aus nicht weniger als vier Quellen schöpft – ein Fest für Kenner der US-geschichte des 19. Jahrhunderts. Die witzigen Einfälle in der komplett fiktiven Bibliografie sollte man sich unbedingt zu Gemüte führen. Leni Riefenstahl ist hier beispielsweise als „Lotte Reifenstiel“ verewigt.

Taschenbuch: 235 Seiten.
Diverse Übersetzer
ISBN-13: 9783453304345

www.heyne.de

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