Durbridge, Francis – Paul Temple und der Fall Z

Eine Reise führt das Ehepaar Paul und Steve Temple nach England: Paul, der als Schriftsteller ebenso berühmt ist wie als Amateur-Detektiv, hat der berühmten Schauspielerin Iris Archer ein Theaterstück auf den schönen Leib geschrieben. Zu seinem Erstaunen sagt sie, die zunächst die Rolle der „Lady Seaton“ spielen wollte, nunmehr ohne Angabe von Gründen ab. Enttäuscht begeben sich die Temples auf einen längeren Urlaub, der sie nach Schottland in das idyllische Dörflein Inverdale führt.

Noch bevor sie ihr Ziel erreichen, werden sie von einem jungen, sehr aufgeregten Mann angehalten, der ihnen einen Brief übergibt, den sie unbedingt einem Mr. John Richmond in Inverdale übergeben sollen. Der hilfsbereite Temple schlägt ein – und wird neugierig, als ihn zwei zwielichtige Gestalten behelligen, denen er unbedingt besagten Brief aushändigen soll. Temple täuscht sie mit einem Trick und will in Inverdale Kontakt zu Richmond aufnehmen. Der entpuppt sich als Sir Graham Forbes, Chief Commissioner von Scotland Yard und ein alter Freund der Temples, der hier offenbar auf einer geheimen Mission ist. Im Gasthof „Royal Gate“ taucht darüber hinaus Iris Archer auf!

Wie der Zufall so spielt, sind die Temples genau dorthin gereist, wo ein international aktiver Spionagering sein Unwesen treibt. Die Kunde von einer angeblichen militärischen Wunderwaffe wurde ihrem Anführer – dem mysteriösen „Z.04“ – vom britischen Geheimdienst zugespielt, der sich tatsächlich aus der Reserve locken und den Erfinder nach Schottland verschleppen ließ. Dort hat er inzwischen seine Erfindung verbessert, die nunmehr funktioniert und auf keinen Fall das Land verlassen darf!

Temples Auftauchen sorgt für Nervosität unter den Spionen. Als er und Steve nur knapp einem Mordanschlag entgehen, schaltet sich der ergrimmte Detektiv in die Ermittlungen ein. Dank seiner Fähigkeiten entlarvt er allmählich die einzelnen Bandenmitglieder, zu denen auch Iris Archer zählt. Doch wenn es nicht gelingt, „Z.04“ die Maske vom Gesicht zu reißen, könnte der Coup der Spione noch gelingen …

Francis Durbridge gehört zu denjenigen Schriftstellern, die einst in Deutschland einen Ruf wie Donnerhall besaßen und deren Werke Rekordauflagen erzielten. Die heutige Generation eifriger Krimileser kennt ihn jedoch nicht mehr. Viele Jahre zurück liegt jene Ära, in der „Durbridge“ als Synonym für intelligente, sorgfältig produzierte TV-Mehrteiler – heute würde man von Mini-Serien sprechen – stand. „Das Halstuch“ oder „Melissa“ lockten in den 1960er Jahren – es gab damals nur zwei Fernsehsender – mehr als 90 Prozent der Zuschauer vor die noch schwarzweiß strahlende Röhre; kein Wunder, dass Durbridge den Deutschen als Gott seines Genres galt!

Das ist er nicht, wie sich bei nüchterner Betrachtung herausstellt. „Paul Temple und der Fall Z“ mag zwar nicht der beste Roman seines Verfassers sein, doch typisch ist er durchaus: ein Krimi, den wir heute gern „klassisch“ nennen, weil er in einer Art Operetten-Britannien spielt und sich die Figuren mit einem Spiel beschäftigen, das wir „Whodunit?“ nennen. Ein Verbrechen ist geschehen, dem sich weitere kriminelle Untaten anschließen. Im Wettlauf mit dem Bösen ermittelt in der Regel ein Detektiv – die Polizei begnügt sich mit der Rolle des Steigbügelhalters – und kann in letzter Sekunde den Fall lösen sowie den Täter oder die Täterin entlarven. Bis es so weit ist, konnten auch die Leser miträtseln; der Verfasser streute gut versteckt diverse Hinweise ein.

Die fallen hier freilich ein wenig zu deutlich aus, so dass man rasch merkt, wer sich als „Z.04“ tarnt. Ohnehin sollte man nachsichtig an die Lektüre dieses Romans gehen, um zum Schutze der Nackenmuskulatur allzu ausgiebiges Kopfschütteln zu vermeiden. „Paul Temple und der Fall Z“ wurde 1940 veröffentlicht und erzählt eine Spionagegeschichte. Eigentlich ist völlig klar, wer hinter den Spionen stecken muss: die Nazis, mit denen sich Großbritannien zu diesem Zeitpunkt bereits im Krieg befand. Doch davon lesen wir kein einziges Wort: „Paul Temple und der Fall Z“ spielt offensichtlich vor Ausbruch des II. Weltkriegs.

In diesem unseren Lande wurde besonders im Bereich der ‚leichten Lektüre‘ gern ausgeblendet, was auf die unschöne Episode des „III. Reiches“ verwies. So mancher zeitgenössische Serienheld gab den Nazis Saures, ohne dass man die womöglich darob eingeschnappten deutschen Leser damit nach 1945 konfrontiert hätte. Deshalb blieb auch dieses Buch im Gegensatz zu den meisten anderen Romanen der Temple-Serie in den 1960er und 70er Jahren ohne Eindeutschung. Erst 2006 wurde „Paul Temple und der Fall Z“ zum ersten Mal in Deutschland veröffentlicht; die deutschen Leser verkraften es nunmehr, dass ihre Landsleute einst nicht wohlgelitten waren, weil sie einen Weltkrieg entfesselt hatten …

Allerdings gibt es Indizien dafür, dass sich Durbridge selbst einer gewissen Realitätsflucht schuldig gemacht hat. Er war kein Enthüllungsschriftsteller, sondern ein „professional writer“, der sein Publikum primär unterhalten wollte. Nur so lässt sich die Naivität des Plots erklären (oder entschuldigen), den er uns in „Paul Temple und der Fall Z“ präsentiert. Seit John Buchans Geheimagent Richard Hannay 1915 in „The Thirty-Nine Steps“ (dt. „Die 39 Stufen“) Spione durch Schottland jagte, hat sich im Agentengeschäft offenbar nicht viel getan. Die Organisation des „Z.04“ besticht durch ihre vollkommene Realitätsferne; hier agieren Kino-Spione der B-Kategorie.

Ebenso kindisch gestaltet Durbridge auch sonst das ‚geheimdienstliche‘ Umfeld: Da erfindet ein Hobby-Genie in seinem Kartoffelkeller eine Superwaffe; er bietet sie dem britischen Kriegsministerium an, das ihn vor die Tür setzt, weil eine Kleinigkeit noch nicht funktionieren will; „Z.04“ schnappt sich den Erfinder und richtet ihm ein Labor in der schottischen Einöde ein, wo er sein Werk vollenden soll; die britische Regierung erfährt davon, weil der Bruder des Erfinders diesen nicht mehr besuchen darf; daraufhin schleust man einen Maulwurf ein, der zu den dümmsten seiner Branche gehört, und entsendet einen ältlichen Scotland-Yard-Beamten als Kontaktmann, der in einem geisterbahnhaften Gasthaus residiert; dieser hat wiederum keinerlei Bedenken, den Kriminalschriftsteller und Privatmann Paul Temple in die Ermittlungen zu integrieren.

Nein, diese ‚Geheimwaffe‘ und diejenigen, die sich darum balgen, sollte man als reine Mittel zum eigentlich Zweck betrachten. „Paul Temple und der Fall Z“ ist ein waschechter „Whodunit?“-Krimi, den Durbridge ein wenig ‚aufpeppen‘ wollte. Spionage ist in Kriegszeiten stets ein auch hinter der Front präsentes Thema („Feind hört mit“), so dass er sich darauf verlassen konnte, auch dann verstanden zu werden, wenn er das Thema eher abstrakt anging.

Dies bestätigt die Figurenzeichnung, die im klassischen Rätselkrimi seit jeher recht simpel und schematisch ausfällt. Das Verbrechen ist einerseits die Ausnahme von der Regel und andererseits eine sportliche Herausforderung für Menschen, die offenbar keine anderen Aufgaben und Sorgen haben. Paul Temple soll ein Schriftsteller sein, doch er findet immer die Zeit, durch die Lande zu reisen und Kriminalfälle zu lösen. Da er und Gattin Steve sich das leisten können, muss er wohl dennoch irgendwann arbeiten. Er sollte sich vielleicht stärker am Schreibtisch engagieren, lässt er sich hier doch gleich in zwei Fallen locken, auf die nicht einmal ein Krabbelkind hereingefallen wäre …

Müßige Kritik, die Figuren sollen und dürfen eindimensional wirken, denn sie spielen Rollen. Temple ist der Detektiv, der viel weiß, aber wenig sagt, Steve seine treue Gattin, die ihm den Rücken stärkt und hin & wieder gerettet werden muss, Iris Archer die große Diva in theatralischen Nöten, Sir Graham Forbes die knorrige Stütze des Empires, „Z.04“ und seine Kumpane vorbildliche Bösewichte, die nicht nur entsprechend reden und handeln, sondern auch finster aussehen – sie sind halt keine Gentlemen.

Wer sich sonst im Umkreis der Hauptfiguren tummelt, ist schlicht im Geiste und für manche proletarische Drolligkeit gut. Die Figuren – man sollte besser von ‚Darstellern‘ sprechen – müssen vor allem gut unterscheidbar sein. Hier verrät „Paul Temple und der Fall Z“ deutlich seine Herkunft: Durbridge hat diese Geschichte (übrigens gemeinsam mit Charles Hatton) ursprünglich nicht als Roman, sondern als Hörspiel erzählt, das von der BBC ausgestrahlt wurde. Dies erklärt die kammerspielähnliche Struktur oder die nur andeutenden Landschaftsbeschreibungen, die wohl erst später dort eingefügt wurden, wo der Verfasser dies für notwendig hielt. Die unerhörte Glaubwürdigkeit, die John Buchan im weiter oben genannten Thriller „Die 39 Stufen“ auch deshalb erzielte, weil er die schottische Landschaft quasi zur Hauptfigur machte, geht „Paul Temple und der Fall Z“ völlig ab – nicht unbedingt zum Nachteil dieses Buches, das als charmant-naive (und gut übersetzte) Krimi-Unterhaltung aus einer versunkenen Ära des Genres durchaus seine Meriten hat.

Francis Henry Durbridge wurde am 25. November 1912 in Hull (Yorkshire) geboren. Er studierte Englisch an der Birmingham University und arbeitete für kurze Zeit als Börsenmakler, bevor er sich als Schriftsteller etablierte. 1938 debütierte er mit „Send for Paul Temple“, dem Roman zu einer sehr erfolgreichen und auch außerhalb England gern verfolgten Hörspiel-Serie um Paul Temple, Schriftsteller und Detektiv, die von der BBC bis 1968 gesendet und von Durbridge geschrieben wurde.

Vier Paul-Temple-Filme kamen zwischen 1946 und 1952 in die Kinos, doch es waren typische B-Produktionen – billig und ohne Raffinesse hergestellt. Erfolgreicher war die für das Fernsehen konzipierte Serie um den Undercoveragenten Tim Frazer, die Durbridge in den 1960er Jahren mit diversen Co-Autoren verfasste.

Als Schriftsteller konnte Durbridge seine Arbeit als Hörspiel- und Drehbuchautor nie verhehlen. Seine Romane sind dialoglastig. Die Figuren gehören der gehobenen Mittelklasse an und haben erstaunlich viel Zeit, sich neben ihrer offenbar kaum Anforderungen stellenden Brotarbeit detektivisch zu betätigen. Gern bediente sich Durbridge auch des Plots vom unschuldig Verdächtigten, der sich in einer teuflischen Verschwörung gefangen sieht.

Auch in Deutschland konnte sich Durbridge einen Namen machen. Nach seinen Drehbüchern entstanden verschiedene TV-Mehrteiler, die aufgrund ihrer sorgfältigen Machart und Durbridges Meisterschaft, die Handlung genau dann abzubrechen, wenn es besonders spannend wurde – das Prinzip des Cliffhangers – zu sogenannten „Straßenfegern“ wurden und mehr als 90 Prozent der damaligen Fernsehzuschauer vor die Bildschirme lockte.

Mehr als dreißig Romane schrieb Durbridge, wobei er sich oft auf seine Drehbücher stützte. Wegen seiner Meriten als TV-Magnet wurden die meisten seiner Thriller in Deutschland veröffentlicht. In den späten 1970er Jahren ließen sowohl Durbridges Produktivität als auch die Anziehungskraft seiner Werke nach. Nach längerer Krankheit starb Francis Durbridge am 11. April 1998.

|Die Paul-Temple-Romane:|

(1938) Send for Paul Temple (kein dt. Titel)
(1939) Paul Temple and the Front Page Men (dt. „Paul Temple und die Schlagzeilenmänner“/“Paul Temple und der Klavierstimmer“)
(1940) News of Paul Temple (dt. „Paul Temple und der Fall Z“)
(1944) Paul Temple Intervenes (kein dt. Titel)
(1948) Send for Paul Temple Again! (dt. „Paul Temple jagt Rex“)
(1957) The Tyler Mystery (dt. „Vier mussten sterben“)
(1959) East of Algiers (dt. „Die Brille“)
(1970) Paul Temple and the Harkdale Robbery (dt. „Banküberfall in Harkdale“)
(1970) Paul Temple and the Kelby Affair (dt. „Der Fall Kelby“)
(1971) The Geneva Mystery (dt. „Zu jung zum Sterben“)
(1972) The Curzon Case (dt. „Keiner kennt Curzon“)
(1986) Paul Temple and the Margo Mystery (dt. „Der Hehler“/“Paul Temple und der Fall Margo“)
(1988) Paul Temple and the Madison Case (dt. „Paul Temple und der Fall Madison“)
(1989) Paul Temple and the Conrad Case (kein dt. Titel)

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