Parker, Robert B. – Thin Air – Ein Spenser-Krimi

_Unter Räubern: Jungfer in Not befreit sich im Do-it-yourself-Verfahren_

Die junge Frau des Bostoner Cops Frank Belson ist spurlos verschwunden und Privatdetektiv Spenser soll sie finden. Seine Ermittlungen führen ihn bis nach Los Angeles und wieder zurück ins verregnete Massachusetts, in eine aufgegebene Industriestadt namens Proctor, vom lieben Gott verlassen, von irischen Cops verkehrsgeregelt und von zwei rivalisierenden Latino-Gangs beherrscht. Hier irgendwo könnte Lisa St. Claire, Belsons Gattin, über deren Vergangenheit so wenig bekannt ist, stecken. Oder auch nicht.

Titel der Übersetzung: „Brutale Wahrheit“ (1996 bei Rowohlt).

_Der Autor_

Der US-Autor Robert B. Parker, 1932-2010, gehörte zu den Topverdienern im Krimigeschäft, aber auch zu den fleißigsten Autoren – er hat bis zum seinem unerwarteten Tod im Januar 2010 über 50 Romane veröffentlicht. Am bekanntesten sind neben der „Spenser“-Reihe wohl seine neun „Jesse Stone“-Krimis, denn deren Verfilmung mit Tom Selleck in der Titelrolle wird gerade vom ZDF gezeigt. Parker lebte in Boston, Massachusetts, und dort oder in der Nähe spielen fast alle seine Krimis.

„Jesse Stone“-Krimis:

1) [„Night Passage“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6811
2) [„Trouble in Paradise“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6816
3) [„Death in Paradise“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6815
4) [„Stone Cold“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6810
5) [„Sea Change“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6812
6) [„High Profile“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6813
7) [„Stranger in Paradise“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6814
8) „Night and Day“
9) „Split Image“

Die „Sunny Randall“-Reihe:

1) [„Family Honor“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6831
2) [„Perish Twice“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6832
3) [„Shrink Rap“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6833
4) [„Melancholy Baby“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6834
5) [„Blue Screen“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6835
6) [„Spare Change“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6852

Unter anderem in der „Spenser“-Reihe, die 39 Romane umfasst, erschienen:

[„Paper Doll“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6818
[„Stardust“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6819
[„Potshot“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6821
[„Walking Shadow“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6820
[„Widow’s Walk“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6826
[„Chasing the Bear“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6837
[„Hundred Dollar Baby“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6838
[„Taming a Sea-Horse“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6839
[„Bad Business“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6840
[„Back Story“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6842
[„Painted Ladies“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6843
[„Cold Service“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6844
[„The Professional“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6866
[„Playmates“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6867
„Hugger Mugger“, „Small Vices“ …

Und viele Weitere.

Außerdem schrieb Parker ein Sequel zu Raymond Chandlers verfilmtem Klassiker „The Big Sleep“ (mit Bogart und Bacall) „und mit „Poodle Springs“ einen unvollendeten „Chandler“-Krimi zu Ende. „Gunman’s Rhapsody“ ist seine Nacherzählung der Schießerei am O.K. Corral mit Wyatt Earp und Doc Holliday, ein klassischer Western.

_Handlung_

Frank Belson ist ein Inspektor der Bostoner Mordkommission, mit dem Privatdetektiv Spenser schon seit 20 Jahren zusammenarbeitet. Als Belson ihm also sagt, dass seine junge Frau Lisa St. Clair verschwunden sei, macht sich Spenser Gedanken: Er war ihr Brautführer bei der Hochzeit. Frank will Lisa, seine zweite Frau, jedoch erst einmal alleine suchen.

Sorgen macht sich Spenser jedoch, als Belson mit drei Einschüssen im Rücken im Krankenhaus landet, und zwar auf der Intensivstation. Offenbar hat jemand etwas gegen Belsons Schnüffelei einzuwenden. Sein Freund beauftragt ihn explizit damit, mit der Suche fortzufahren. Leichter gesagt als getan, denn Frank weiß über seine junge praktisch nichts, außer dass sie als Radio-DJ gearbeitet hat – Prinzip Tabula rasa.

Ist Lisa entführt worden? In ihrer Wohnung fehlt zumindest die Handtasche, ebenso ihr Adressbuch. Auf dem Anrufbeantworter sind vier Nachrichten, darunter von einem Arzt, einem College, einer Freundin und einem fremden Mann. Im College hört Spenser erstmals von Lisas abgelegtem Freund Luis Deleon und von Lisas Freundin, dass Lisa mit Luis geschlafen haben muss, bevor sie Frank Belson heiratete. Aber woher stammt dieser Luis?

Captain Quirk von der Mordkommission, Franks Chef, hat die Fakten: Luis Deleon ist ein ganz schwerer Junge, der schon mehrere Male vor Gericht stand, u. a. wegen Vergewaltigung, aber seltsamerweise nie verurteilt wurde – die Zeugen zogen stets ihre Aussage zurück. Luis scheint mit seiner Hispano-Gang die eine Hälfte der heruntergekommenen Industriestadt Proctor zu beherrschen, während ein Typ namens Freddie Santiago die andere Hälfte sowie den Bürgermeister und die Polizei beherrscht. Luis wird nachgesagt, so Quirk, er zeige Anzeichen von paranoider Schizophrenie – ein netter Bursche …

Quirk weiß auch, wer Lisa St. Clair in Wahrheit ist: Abgesehen davon, dass es für ihre Jahre vor 1990 keine Einträge gibt, heißt sie offenbar Angela Richard und stammt aus Los Angeles, wo sie einem zweifelhaften Beruf nachging: Als Prostituierte und Pornodarstellerin. Soll Spenser das seinem Freund berichten? Besser nicht.

Zusammen mit seiner Freundin Susan Silverman, der Psychotherapeutin, fliegt Spenser nach L.A., um mit seinem Kontaktmann Samuelson vom LAPD zu sprechen. Und um Chollo zu kontaktieren, den spanisch sprechenden Killer, der ihm schon mehrfach beigestanden hat. Zusammen können sie es vielleicht wagen, Luis Deleons Hauptquartier in Angriff zu nehmen, um die dort vermutete Lisa herauszuholen. Aber sie werden Hilfe brauchen. Illegale Hilfe …

_Mein Eindruck_

Zunächst dachte ich – ähnlich wie einer der Kritiker – die Handlung dieses „Spenser“-Krimis würde den üblichen Verlauf nehmen: Eine Dame zweifelhaften Rufes verschwindet, Spenser muss sie unter großen Mühen finden und stößt auf unappetitliche Details; aber natürlich muss er sie vor sich selbst retten, weil sie sich mit einem Mann zweifelhaften Rufes eingelassen hat. So lief das schon in der „April Kyle“-Trilogie („Ceremony“, „Taming a Sea-Horse“ und „Hundred-Dollar Baby“) sowie in „Stardust“.

Auch die andere Hälfte des Plots meinte ich bereits zur Genüge zu kennen, nämlich die Belagerung und Erstürmung der „Festung“ eines Verbrechers, ähnlich wie in „Cold Service“ (das allerdings erst zehn Jahre später veröffentlicht wurde). Dabei bieten Spenser und seine jeweilige Gefährte, sei es Hawk, sei es Chollo, auch die Hilfe anderer Elemente wie etwa Polizisten oder gegnerische Verbrecher auf.

Um die Wahrheit endlich zu verraten: Ganz so läuft es diesmal in „Thin Air“ nicht, aber der Plot ist nicht weit davon entfernt. Die Burg wird belagert, um die „Jungfer in Not“ vor Blaubart zu retten. Doch die Jungfer ist längst keine mehr, und der Blaubart entpuppt sich als etwas anderes. Aber Spenser und Chollo erstürmen die Burg mit einem Trick und einer Ablenkung dennoch. Gerade noch rechtzeitig, bevor das Gebäude in sich zusammenbricht.

|Selbstherapie|

Das Besondere an der weiblichen Hauptfigur in „Thin Air“: Lisa St. Clair alias Angela Richard hat in Kalifornien eine Psychotherapie durchlaufen und sich selbst viel besser kennengelernt. Sie war auf dem Weg der Selbstverbesserung, um nicht auf den Strich gehen und Pornos drehen zu müssen. Sie heiratete sogar einen Cop, um aus dem Sumpf der Halbwelt herauszukommen. Nun hat diese sie wieder zurückgeholt, in Gestalt von Luis Deleon. Als geschulte Therapierte ist Lisa jedoch in der Lage, Luis‘ Psyche und Motive zu durchschauen. Und Luis hat eine Therapie offenbar dringend nötig …

|Das Leben als Film|

Lisas Erlebnisse in dem Gefängnis, in das Luis sie in seiner „Burg“ steckt, machen fast ein Drittel des Romans aus und sind kursiv gesetzt, also leicht zu erkennen. Ihr Blick ist subjektiv und dieser fällt auf das Auffälligste, was ihr Zimmer vorzuweisen hat: Bildschirme! Und auf jedem der Bildschirme sind die Filmszenen zu sehen, die Luis mit ihr in der Hauptrolle gedreht hat, selbst jene, als sie gefesselt und geknebelt im Lieferwagen ihres Entführers lag.

Nun geht Luis noch einen Schritt weiter und inszeniert sein und Lisas Zusammenleben als Filmromanze à la Hollywood. Er steckt sie in Südstaatenkostüme, um als Galan auftreten zu können. Er tritt als reicher mexikanischer Rancher auf – er ist ja Latino (eigentlich Puertoricaner). Fehlt nur noch, dass sie die Jane für seinen Tarzan spielen soll. Der Haken, sagt sie ihm, bei diesen Inszenierungen: Sie liebt ihn nicht, findet diese verlogene Maskerade zum Kotzen und will nach Hause!

|Schocktherapie|

Es kommt endlich, nach einer versuchten Vergewaltigung, zu einem Austausch von Geständnissen. Mit ihrem geschulten Blick erkennt Lisa die Wahrheit in Luis: Er überträgt einfach die Gefühle, die er für seine geliebte MUTTER hegte (und die an einer Überdosis starb), auf Lisa, ohne die Eigenständigkeit Lisas auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Der Haken an Luis‘ Verehrung für Mutter und Lisa: Beide waren Huren und alles andere als die Engel, für die er sie immer noch hält. Also muss sie etwas dagegen unternehmen …

|Der tägliche Rassismus|

Das vierte Element ist eindeutig Rassismus. Spenser stößt nicht nur in Proctor auf Schritt und Tritt auf das „Dilemma Amerikas“, wie der Autor es nennt: Dass die USA den Freiheitssuchenden eine Zufluchtsstätte bieten wollen, aber nicht verstehen, die unterschiedlichen Völkerschaften friedlich miteinander leben zu lassen. Im Gegenteil: Anglos und Latinos tun alles, um die Abgrenzung aufrechtzuerhalten, wobei die Sprachbarriere natürlich sehr hilfreich ist. Lisa hat diese Barriere überschritten und befindet sich nun quasi in Feindesland – in einem hispanischen Teil von Proctor, wo die Latinos am abweisendsten und stolzesten sind, sogar gegen ihre eigenen „Brüder“.

Freddie Santiago erklärt es Spenser: So etwas wie „die Altinos“ gibt es gar nicht. Schließlich kommen diese Menschen aus völlig unterschiedlichen Ländern, aus Puerto Rico oder Guatemala, aus Mexiko oder Kolumbien usw. Wie sollen sie da jemals zu einer Volksgruppe verschmelzen können? Da könnte man ja gleich verlangen, dass sich England und Norwegen zusammenschließen!

_Unterm Strich_

„Spenser“-Krimi Nr. 22 verbindet die bekannte Elemente Suche, Ermittlung, Action und menschliches Drama in neuer Variation. Statt die jammernde Jungfer in Not zu spielen, rettet sich die entführte Polizistengattin vor dem Blaubart selbst. Nicht etwa durch handfeste Prügeleien, sondern durch ein Gespräch, in dem sie durch psychologische Einsicht in ihren Entführer dessen grundlegenden Fehler erkennt und zur Sprache bringt. Mit anderen Worten: Sie therapiert ihn und rettet sich selbst aus der Patsche. Die handfeste Action, also den nötigen Rest, erledigen dann zu ihrer Zufriedenheit Spenser und Chollo. Doch Luis, den Entführer, erwartet ein weitaus traurigeres Schicksal als die Entführte.

Neben den Standardelementen wie Elementen und Action erwartet den Leser als eine unerwartete Zutat: Ungefähr ein Drittel des Romans wird von Lisas Erlebnissen bestritten, die in Kursivschrift gesetzt und somit von deutlich anderer Natur sind als Spensers Erlebnisse. Erst durch die Ergänzung der Informationen aus Lisas Erleben und Spensers Ermittlungsergebnissen ergibt sich ein vollständiges Bild von Lisas Leben. Der amerikanische Traum – sieht er wirklich so aus?

Ich habe für diesen Krimi zwei Tage mehr als sonst (einen Tag) gebraucht. Mit erschien das Thema nämlich zu abgedroschen und die Lösung des Konfliktes als zu lange hinausgezögert. Doch dann entpuppte sich Lisas Erzählstrang als weitaus aufregender und interessanter als erwartet. Sie ist weitaus aktiver, als das Klischee vom Gangsterweibchen es verlangt. Dem Autor gelingt es zudem, in uns Mitgefühl für den Entführer Luis zu wecken. Und der Showdown um Luis‘ Burg ist ebenfalls vom Feinsten.

|Taschenbuch: 293 Seiten
ISBN-13: 978-0425152904|
[Verlagshomepage]http://us.penguingroup.com/static/pages/publishers/adult/berkley.html

_Robert B. Parker bei |Buchwurm.info|:_
[„Der stille Schüler“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4066
[„Gunman’s Rapsody“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6836

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