Dean Vincent Carter – Im Auge des Bösen

Ashley Reeves ist ein junger Journalist, der für das Magazin „Missing Link“ Artikel über seltsame oder angeblich ausgestorbene Kreaturen verfasst. Sein aktueller Auftrag führt ihn nach Aries Island, einer kleinen Insel. Inmitten eines abgelegenen Sees haust dort der ehemalige Chirurg Reginald Mather, der sich nach eigener Auskunft als Insektenforscher betätigt und etwas Einmaliges präsentieren möchte. In seinem Besitz hat er angeblich ein Exemplar der legendären „Roten Ganges“. Diese tropische Moskitoart erreicht die Größe einer Menschenhand und ist damit eindrucksvoll genug, Reeves auf Mathers Insel zu locken.

Dieses Verb wird hier mit Bedacht gewählt, denn Mather ist in der Tat nicht an dem Journalisten, sondern am Menschen Reeves interessiert. Er soll sein Blut für die Rote Ganges vergießen, die er wirklich vorfindet. Das Tier ist gefährlich, sein Stich tödlich – und es ist womöglich gar kein Tier, sondern die Inkarnation einer treulosen Frau, die vor vielen Jahren von ihrem Gatten verflucht und in eine Riesenmücke verwandelt wurde! Mather steht unter ihrer geistigen Kontrolle und führt ihr menschliche Opfer zu.

Zu spät merkte Reeves, was ihm blüht. Ein vergeblicher Fluchtversuch endet in der Erkenntnis, dass Mather zu allem Überfluss ein psychopathischer Serienmörder ist. Mensch und Moskito setzen ihm zu. Als ob das nicht schon mehr als genug wäre, kündigt sich auch noch ein zweites Tiermonster an. Außerdem hat Mather Komplizen, die genau diesen Zeitpunkt gewählt haben, sich gegen ihren Meister zu wenden. Wohin Reeves auch flüchtet, Aries Island wird ihm zur Todesfalle, die ihn nicht mehr freigeben will …

Eine Frage sei vorweg beantwortet: Jawohl, dieser Roman liest sich genauso bescheuert, wie es obige Inhaltsskizze andeutet. Es liegt zum einen am Plot. In der Geschichte des Horrors gibt es aberwitzig viele abstruse Ausgangsideen. Menschen haben sich nach dem Willen von Buch- und Drehbuchautoren u. a. mit Riesenaffen, wandelnden Leichen, Mörderspinnen und anderen Ungeheuerlichkeiten herumplagen müssen; das hat immer dann geklappt, wenn Story und Figuren „funktionierten“.

Dean Vincent Carter führt uns eindringlich vor Augen, dass man den gewünschten Gruseleffekt keinesfalls mit einem Riesenmoskito erreicht, auch wenn oder gerade weil er von einem vietnamesischen Frauengeist besessen ist. Auch wenn das Untier groß wie ein Vogel ist und Giftsäure spritzt, wirkt es nie Furcht erregend, sondern einfach nur lächerlich. Beginnt dann der erwähnte Geist, sich telepathisch mit seinen Sklaven in Verbindung zu setzen, ist es endgültig vorbei mit jeglicher Schauerstimmung.

Die will sich ohnehin kaum einstellen, weil Carter für seine Geschichte keinen durchgehenden Spannungsbogen findet. Er reiht Episode an Episode, verliert den ohnehin dünnen roten Faden immer wieder aus den Augen, verliert sich in Nebenhandlungen. Wo er nicht mehr weiterweiß, zieht er einen weißen Hasen aus dem Hut, führt plötzlich neue Personen ein, lässt seine Figuren in Geheimgänge stolpern oder sonstige, nie stimmig ins Gesamtgeschehen integrierte Ereignisse geschehen. Wieso taucht kurz vor dem Finale plötzlich die von Reeves heimlich umschwärmte, für den Roman bisher völlig irrelevante Fotografin Gina auf der Insel auf? Weil Carter meint, ein „love interest“ ins Spiel bringen zu müssen, das er in Gefahr bringen und von seinem Helden retten lassen kann. Hier schimmert das Klischee besonders deutlich durch das dünne Handlungsgerüst.

Wie im modernen Horrorfilm sollen die Effekte die platte Handlung und die rudimentäre Figurenzeichnung (s. u.) ausgleichen. Liebevoll-detailliert ausgemalte Säureattacken der Spukmücke, vivisektionistische Metzeleien des Dr. Mather, gleich mehrere Stürze in einen mit verwesenden Leichen gefüllten Schacht und andere Splattereien gibt es genug, doch auch hier gilt, dass dem (noch unerfahrenen) Verfasser fast jeglicher Sinn für Atmosphäre und den Aufbau von Spannung abgeht.

Mit Ashley Reeves betritt einer dieser jungen Toren die Bühne, die von den dunklen Seiten des Lebens keine Ahnung haben, vom Verfasser ausführlich mit diesen konfrontiert werden und daran an Geist & Seele reifen (wobei der Körper diverse Beschädigungen erleiden muss). Reeves tritt an die Stelle des Lesers (oder der Leserin), der (oder die) in vergleichbarer Situation vermutlich wie er empfinden und handeln würde. Nun ist „Tor“ ein alter und vergleichsweise wertneutraler Begriff. Reeves ist hingegen – ganz modern – ein Trottel. Was immer ihm auch zustößt, man bangt oder fühlt nicht um ihn oder mit ihm, dem Mann ohne Eigenschaften, der unweigerlich in jede Falle tappt und sich auch sonst möglichst ungeschickt aufführen muss, um sich in spannungsförderliche Schwierigkeiten zu begeben.

Reginald Mather – Mückensklave, Serienmörder, „mad scientist“: Mit seinem Bösewicht will Carter sichtlich auf Nummer Sicher gehen. Nach einem schlimmeren Schurken wird man lange suchen müssen, so hofft wohl der Verfasser. Als Bruder im Geiste von Hannibal Lecter gibt sich Mather gleichzeitig dämonisch wie gedankenschwer, doch leider setzt ihn Carter so ungeschickt in Szene, dass er zum simplen Buhmann degeneriert.

Über die Unmöglichkeit, sich vor einer Riesenmücke zu fürchten, wurde weiter oben bereits sinniert. Werfen wir hier einen Blick auf den Geist, der in diesem Insekt gefangen sitzt. Eine undankbare Ehefrau aus dem frühzeitlichen Vietnam hat dieses Schicksal getroffen. Schon seltsam, dass es ihr so erging, denn ihr Wunsch war es nicht, nach ihrem Tod ins Leben zurückgerufen zu werden; der untröstliche Gatte war der Auslöser dieser Wiederkehr. Vermutlich war es diese Ungerechtigkeit, verbunden mit der Schrumpfung des Gehirns auf Mückenkopfgröße, die der „Roten Ganges“ den Masterplan zur Lösung von diesem Fluch eingab: Seit Jahrhunderten saugt sie sich in der Hoffnung, irgendwann einen Nachfahren des Gatten zu pieken, durch die Kontinente dieser Welt. Nur solches Blut verwandelt sie zurück, doch wäre das wünschenswert? Wenn Carter die Ganges über ihre wieder menschliche Zukunft reden lässt, dann fallen ihr ausschließlich Allgemeinplätze ein – sie sollte besser Mücke bleiben, während dem Gruselfreund geraten sei, im Buchladen besser eine große Fliegenpatsche als die Geldbörse zu zücken. (Die weitaus interessantere Geschichte wäre es gewesen, hätte Carter sie erzählt, wie die Ganges sich nach London durchgeschlagen hat – auch für einen Teufelsmoskito sicherlich eine abenteuerliche Expedition …)

Dean Vincent Carter wurde 1976 in den englischen West Midlands geboren; seine Kindheit verbrachte er in der Grafschaft Shropshire, das College besuchte er in Worcester, studiert hat er 1995-98. In diese Jahre fallen auch Carters ernsthafte Versuche, als Schriftsteller Fuß zu fassen, nachdem er schon in jungen Jahren und inspiriert von Stephen King erste (unveröffentlichte) Schreibversuche unternahm.

Die raue Realität außerhalb des universitären Elfenbeinturms empfing Carter ab 1999. Er nahm einen Job bei Transworld Publishers in Ealing, London, an und arbeitete in der Postabteilung. Nach einem mehrjährigen Intermezzo als Buchhändler daheim in Shropshire kehrte er 2002 zu Transworld zurück. Dort gelang es ihm, einen Redakteur auf eine Story aufmerksam zu machen, die er schon vor Jahren begonnen hatte und aus der unter fachkundiger Anleitung Carters Debütroman wurde: „The Hand of the Devil“, der in seiner deutschen Ausgabe den ebenso nichts sagenden Titel „Im Auge des Bösen“ erhielt und sehr schnell auch den Weg nach Dänemark und in die USA gefunden hat.

Wie sich die Grenzen zwischen den Medien heute vermischen, demonstriert Jungautor Carter auf seiner Website www.deanvincentcarter.com. Sehr ausführlich gibt er Infos & Fotos über Leben (kurz) und Werk (schmal) preis. Darüber hinaus gibt’s wie auf einer Film-DVD Features, die nicht Teil des Buches sind. Zum einen sind dies „deleted scenes“, also Kapitel oder Sequenzen, die es nicht in die endgültige Buchfassung geschafft haben (aber zu schade für den Papierkorb waren), sowie Zusatzmaterial („The Chronicles of the Ganges Red“), das sich im pdf-Format direkt und kostenfrei downloaden lässt. Mit vielen Hintergrundinfos füttert Carter natürlich auch die potenziellen Leser seines nächsten Romans an, der den Titel „Hunting Season“ tragen und sich um das Wüten eines Werwolfs drehen wird.

Taschenbuch: 304 Seiten
Verlag: Heyne
Auflage: 3. Juli 2006