Arthur Conan Doyle – Die geheimnisvolle Kiste (Lesung)

Beklemmend: Terroristen an Bord?

Auf einer Seereise beobachtet der Schriftsteller Hammond zwei finstere Kerle, die sich an einer kleinen geheimnisvollen Kiste zu schaffen machen, die sie mit an Bord brachten. Für Hammond steht fest: Es muss eine Bombe sein. Zusammen mit seinem Freund Dick Martin versucht er die drohende Katastrophe zu verhindern und belauscht die Männer, fordert sie sogar mit Worten heraus. Schließlich muss er seine Feigheit überwinden und den Kampf mit ihnen aufnehmen. Da macht er eine überraschende Entdeckung.

Der Autor

Sir Arthur Conan Doylee lebte von 1859 bis 1930 und gelangte mit seinen Erzählungen um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes zu Weltruhm. Dabei begann der Mediziner, der eine eigene Praxis hatte, erst 1882 mit dem Schreiben, um sein Einkommen aufzubessern. Neben mystischen und parapsychologischen Themen griff er 1912 auch die Idee einer verschollenen Region (mit Dinosauriern und Urzeitmenschen) auf, die von der modernen Welt abgeschnitten ist: [„The Lost World“ 1780 erwies sich als enorm einflussreich und wurde schon dreizehn Jahre später von einem Trickspezialisten verfilmt.

Der Sprecher

Philipp Schepmann, Jahrgang 1966, erhielt seine Ausbildung als Schauspieler an der renommierten Folkwang-Schule in Essen. Er ist laut Verlagsangaben verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt in Bergisch Gladbach bei Köln. Schepmann arbeitet als Sprecher und Schauspieler für Film, Funk und Theater. Er hat u. a. die kompletten Narnia-Chroniken als Lesung aufgenommen (bei |Brendow|).

Regie führte die Übersetzerin Daniela Wakonigg, die Tontechnik und Musikeinspielungen steuerte Peter Harrsch.

Handlung

Es ist Mittwoch neun Uhr in der Frühe, als der Ozeandampfer „Sparta“ vom Bostoner Hafen aus in See stechen soll, um nach Großbritannien zu fahren. In letzter Sekunde springen noch zwei Männer an Bord, die dem Schriftsteller und Ich-Erzähler Hammond dadurch auffallen und in Erinnerung bleiben. Hammond ist eigentlich Brite von Geburt, wurde aber von amerikanischen Bürgern adoptiert und, nach Jahren an einem englischen Internat, in den USA zum Schriftsteller. Er bezeichnet sich selbst als neurotisch und ängstlich von Natur aus. Positiv zu vermerken ist jedoch seine Neugier auf charakteristische Gesichtszüge, quasi eines seiner Hobbys.

Da er gerne abseits steht, zieht er sich hinter einen Stapel Gepäck zurück. So ungesehen, wird er Zeuge des ersten Gesprächs, das die beiden Spätankömmlinge nahe seinem Ohr führen. Der Große nennt sich Flanigan und ist offenbar ein Ire, und von den Iren weiß alle Welt, dass sie mit allen Mitteln um ihre Unabhängigkeit von den Briten kämpfen. Der Kleine heißt Müller, ist offenbar ein Deutscher, und von denen weiß ja alle Welt, dass sie sozialistisch gesinnt sind (man denke nur an Marx, Engels und Lassalle).

Die beiden haben eine kleine, etwa 30 Zentimeter lange Holzkiste an Bord geschmuggelt, in die sie nun ein weißes Granulat schütten, woraufhin es darin klickt. Auf der Kiste sitzt ein speziell angefertigter Auslöser. O mein Gott, eine Höllenmaschine!, schießt es Hammond durch den Kopf, und seine Eingeweide scheinen sich zu verflüssigen. Während die beiden Terroristen unter Deck gehen, versucht sich Hammond, der Feigling, wieder in die Gewalt zu bekommen. Was soll er tun?

Da begegnet ihm zufällig sein alter Freund aus Internatstagen Dick Martin. Der ist zum Glück das genaue Gegenteil unseres Neurotikers: heiter, zuversichtlich, zupackend – und gelassen. Er tut Hammonds unbewiesene Befürchtungen ab, will ihnen aber trotzdem nachgehen, um seinen Freund zu beruhigen. Zusammen wollen sie die beiden vermeintlichen Terroristen beobachten und wenn möglich sogar verbal herausfordern, damit diese sich als Übeltäter verraten.

Im Raucherzimmer setzt sich das dynamische Duo in die Nähe der beiden zwielichtigen Gestalten, um ihnen zu lauschen. Flanigan und besonders Müller führen seltsame Reden, worin sie das Erscheinen einer „geheimnisvolle Macht“ erwähnen, und zwar noch heute Nacht! Hammond wird schon wieder ganz anders, aber Martin weist darauf hin, dass es sich immer noch um ein Missverständnis handeln können.

Sie sehen die beiden Männer erst wieder beim Abendessen, wo sie sie in das Gespräch verwickeln, das der Kapitän des Dampfers, seinem Rang gemäß, leitet. Keck bringt Hammond die Sprache auf Terroristen, und der Kapitän tut diese Gefahr als vernachlässigbar ab, doch Flanigan verteidigt die Ehre der so genannten irischen „Freiheitskämpfer“ und spricht ihnen einen gewissen Mut im Kampf für ihr Ideal nicht ab. Hammond glaubt, dass sich damit Flanigan endgültig verraten habe. Doch wie sieht es mit der Verantwortung aus, die aus diesem Wissen resultiert? Liegt diese nicht in den Händen der ach so fähigen Schiffsoffiziere?

Auch der strahlende Sonnenuntergang beruhigt Hammonds Nerven und er tröstet sich mit Philosophie. Dick Martin, der sich mit Flanigan unterhalten hat, fordert Hammond direkt auf, sich an den Kapitän zu wenden. Doch der Hasenfuß will abwarten, bis der Schiffsführer seinen Disput über eine nautische Frage beendet hat, und lauert in einem Rettungsboot auf ihn.

Es wird Abend, es wird Nacht, und bevor sich Hammond an den Kapitän wenden kann, treten Flanigan und Müller direkt ans Rettungsboot, in dem Hammond lauert, und bereiten die „Sache“ vor, wegen der sie an Bord gekommen sind. Der Countdown beginnt: noch fünf Minuten. Sie ziehen die ominöse kleine Kiste hervor und stellen sie auf. Noch drei Minuten – es ist alles bereit für das große Ereignis.

Hammond schwitzt inzwischen bereits Blut und Wasser, und als der Countdown bei eineinhalb Minuten steht, springt er aus seinem Versteck, um die „Terroristen“ zur Rede zu stellen und aufzuhalten. Doch er kann das „Ereignis“ nicht mehr verhindern. Da passiert etwas völlig Unerwartetes…

Mein Eindruck

Diese Geschichte des Schöpfers von Sherlock Holmes und Dr. Watson ist eine der frühesten veröffentlichten Erzählungen Doyles, geschrieben nur kurze Zeit nach seinen eigenen Seereisen als Schiffsarzt. Sie erschien 1881 erstmals in der Weihnachtsausgabe der „London Society“ und wurde 1890 als Teil des Erzählbandes „The Captain of the Pole Star and Other Tales“ in Buchform verlegt.

Die Geschichte ist in zweierlei Hinsicht interessant. Erstens zeichnet Doyle mit der Figur des Hammond bereits den deduktiven Geist seines späteren Meisterdetektivs vor. Anders als in den Holmes-Storys werden diese Fähigkeiten hier jedoch satirisch gebrochen. Hammond ist kein Genie und mutiger Kämpfer, sondern ein neurotischer Anti-Held, und obwohl seine Schlussfolgerungen logisch einwandfrei sind, ist am Ende doch alles ganz anders, als er denkt. Immerhin teilt er mit Holmes das Interesse an „charakteristischen Gesichtszügen“, denn diese scheinen ihm Aufschluss über den Charakter eines Menschen zu geben.

Dies ist also der Aspekt, WIE die Geschichte erzählt wird. Der zweite Aspekt betrifft den Inhalt der Geschichte. Da es um vermeintliche Terroristen geht, entpuppt sich die Story als in höchstem Maße aktuell. Wie würde ich, als Zeitgenosse von Al-Qaida und Co., mich verhalten, wenn ich von einer Bombe erführe? Würde ich zur Polizei rennen, obwohl ich eventuell ein Hasenfuß bin? Oder würde ich mich den vermeintlichen Schurken heroisch in den Weg stellen, um ihnen bei ihrem Tun in die Hand zu fallen?

Anarchie!

Der Grund, warum der Ich-Erzähler überhaupt auf die Idee kommt, es könne sich bei der geheimnisvollen Kiste um eine Höllenmaschine handeln, sind nicht nur die aufgeschnappten Gesprächsfetzen, die aus dem Zusammenhang gerissen sind, sondern auch das allgemeine Wissen um sogenannte Terroristen. In Russland werden von Anarchisten Attentate verübt (denen später ein Zar zum Opfer fällt), in Deutschland gewinnen die Sozialisten unter Lassalle an Einfluss, in Irland sind die aufrührerischen Rebellen am Werk (die schließlich ihre Unabhängigkeit erkämpfen).

Das gesamte spätviktorianische Zeitalter ist im Umbruch. Auch in England dürfte es erhebliche Unruhen gegeben haben, und ein kurzer Blick in die Chroniken würde darüber Klarheit verschaffen, dass beispielsweise die Fabian Society, der H. G. Wells und George Bernard Shaw angehörten, sich für soziale Reformen einsetzte.

Aufklärung

Hammonds Furcht stützt sich also nicht auf Beweise, sondern a) auf die allgemeine Lage und b) auf aufgeschnappte und beobachtete Hinweise. Beide verursachen bei dem Neurotiker akute Paranoia. Er glaubt, noch heute werde der Untergang des Schiffes herbeigeführt (das hier für eine Nation stehen kann). Als am Schluss das Geheimnis gelüftet wird, sieht er sich natürlich blamiert. Die beiden Gentlemen Flanigan und Müller haben zwar etwas Bahnbrechendes vollbracht, doch hat es ganz und gar nichts mit Höllenmaschinen zu tun. Ein Zeitungsartikel setzt den Leser bzw. Hörer davon in Kenntnis, welche Bedeutung das Treiben der beiden Gentlemen hat. (Und wer das genau wissen will, der höre sich die Story an oder lese sie nach.)

Sherlock

Schon in dieser Story macht Doyle wie in vielen seiner Holmes-Storys deutlich, dass es nicht genügt, Hinweise und Indizien zu sammeln und sie mittels deduktivem Denken mit einer Bedeutung zu versehen. Nein, der Beweis muss erbracht werden, dass es sich wie gedacht verhält. Wie dieser Beweis zu erbringen ist, dafür gibt es verschiedene Mittel und Wege. Zum Glück wählt Holmes stets die aktive Vorgehensweise statt passiv herumzusitzen und auf Beweise zu warten, wie Hammond es tut.

Der Sprecher / Die Inszenierung

Philip Schepmann verfügt über eine ähnlich große Fähigkeit, seine Stimme zu verstellen, wie Rufus Beck. Jede Figur erhält so ihre eigene charakteristische Stimmfärbung, um sie kenntlich zu machen. Und das sind eine Reihe unterschiedlichster Stimmen. Flanigan spricht ebenso tief wie der Kapitän, doch grob und barsch, während der Kapitän voll Zuversicht und Autorität formuliert. Auch Dick Martin gehört in diese Kategorie.

Ganz anders hingegen die beiden nervösen Typen Hammond und Müller. Ihre Stimmlage ist etwas höher: Hammond klingt etwas quengelig, wohingegen Müller wieder ungehobelt und nervös lamentiert oder droht. Eine Frau kommt im ganzen Text jedoch nicht vor.

Man muss allerdings schon genauer hinhören, um diese Unterschied im stimmlichen Ausdruck herauszuhören. Denn Schepmann tut alles, nur nicht übertreiben. Das überlässt er anderen Sprechern und tut es selbst höchstens in Kinderhörbüchern. In einer Erzählung über wohlerzogene Viktorianer ist Übertreibung jedoch in jedem Falle unangebracht.

Geräusche

Die vielfältigen Geräusche verleihen der Geschichte das Flair eines Kinofilms. Schon der erste Ton, den wir hören, ist das tiefe Nebelhorn eines Dampfers. Eine Schiffsglocke ertönt ebenso wie Möwengeschrei, später klappert Besteck auf Tellern, und im Raucherzimmer ist leise tickend eine Wanduhr zu vernehmen. An Deck selbst ist häufig eine steife Brise zu hören, wie es ja auch in der Realität der Fall wäre. Die Geräusche und Hintergrundstimmen – wie etwa amerikanisch quasselnde Passagiere – sind so dezent eingesetzt, dass sie niemals den Vortrag des Textes beeinträchtigen.

Musik

Die Musik ist ebenso dezent und steuert die Emotionen des Zuhörers auf fast unmerkliche Weise. Doch der Fachmann hört heraus, wann ein Moment heiter und dynamisch, ein anderer hingegen traurig, besinnlich oder gar verzweifelt klingen soll. Die Gemütlichkeit einer Schiffsreise wird ebenso ausgedrückt wie der dramatische Moment der vermeintliche Katastrophe oder vielmehr die Anbahnung desselben. Zum Einsatz kommen ausschließlich klassische Instrumente wie etwa Piano, Harfe und Oboe, aber auch ein Xylophon ist häufig zu vernehmen. Das Outro wird wieder von einem sanften Walzer bestritten.

Das Booklet

Das vierseitige Booklet erfreut mit umfassenden Informationen über den Autor Conan Doyle (s. o.) und einer Inhaltsangabe, die nicht zu viel verrät. Außerdem wird ein Interpretationsansatz geliefert, der dem einen oder anderen Literaturstudenten hilfreiche Hinweise liefern kann. Als i-Tüpfelchen verrät das Booklet auch, wann und wo der Text zuerst erschien und gedruckt wurde – so viel Service findet man bei Single-CD-Hörbüchern selten.

Unterm Strich

Die inszenierte Lesung lässt sich am ehesten als Vorstufe zu den Sherlock-Holmes-Geschichten verstehen, die den Autor später berühmt und wohlhabend machen sollten. Die Thematik ist durchaus aktuell, insofern als hier das Thema Terrorismus aufgegriffen wird – welches sich dann aber als völlig harmlos herausstellt. Der Ich-Erzähler wendet bereits Deduktion und Scharfsinn an, doch seine Befürchtungen werden von Leuten besänftigt, die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen, so wie später Dr. John Watson.

Der Unterhaltungswert ist nicht gerade hoch, denn so etwas wie dramatische Action gibt es lediglich am Schluss, und auch diese entpuppt sich als relativ unbegründet. So lässt sich die Geschichte am ehesten als eine Studie in Psychologie und Zeitstimmung – Freiheitsbewegungen, Anarchisten usw. – genießen und akzeptieren. Dass sie sprachlich gut formuliert und geschickt erzählt ist, versteht sich bei einem Autor wie Doyle fast von selbst. Die akustische Untermalung wechselt zwischen behaglicher Gemütlichkeit und dramatischer Bewegung, so dass für Abwechslung gesorgt ist.

Das Hörbuch wurde von Daniela Wakonigg und Peter Harrsch sauber produziert und mit einem informativen Booklet ausgestattet. Der Gesamteindruck ist tadellos.

Originaltitel: That little square box, 1881
Aus dem Englischen übersetzt von Daniela Wakonigg
55 Minuten auf 1 CD
ISBN-13: ‎ 978-3939932017

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