Von seinem Vater, einem verrückten Wissenschaftler, wurde Francis Ackerman jr. systematisch in den Wahnsinn getrieben. Er entwickelte sich zu einem gänzlich gnadenlosen Serienkiller, der seine Opfer scheinheilig die Chance bietet, ihr Leben im Rahmen eines ‚Spiels‘ zu retten. Selbstverständlich achtet Ackerman darauf, dass der Vorteil ausschließlich bei ihm bleibt. So zieht er seit seiner Flucht aus einer Anstalt für geistesgestörte Kriminelle eine breite Blutspur durch die USA.
Marcus Williams ist ein ehemaliger Cop, der zum Henker an einem besonders abscheulichen Schurken wurde und von dieser Tat verfolgt wird. Aktuell versucht er den Neuanfang und hat sich eine kleine Farm etwas außerhalb des Städtchens Asherton gekauft. Sogar zwischenmenschlich blüht Marcus auf, seit er die hübsche Kellnerin Maggie vor einer Horde geiler Säufer retten konnte. Zwar ist sie die Tochter des örtlichen Sheriffs, doch dem gefällt, wie Marcus mit den Strolchen umgesprungen ist.
Die kleine Welt zerbricht, als Ackerman nach Asherton kommt. Er schlachtet Marcus‘ Nachbarin ab, lässt sich aber von Sheriff Hill erwischen, der ihn jedoch nicht an die Justiz weiterreicht. Marcus kommt ihm auf die Schliche. Hill offenbart sich ihm als Mitglied einer Vigilantentruppe, die Kapitalverbrecher jagt und richtet, wenn diese dem Gesetz durch die Maschen schlüpfen. Marcus verweigert solcher Selbstjustiz seine Zustimmung. Es kommt zum Kampf mit Hill, dem Marcus knapp entwischt, während Ackerman sich befreit und seinen Amoklauf fortsetzt.
Nun ist auch Marcus auf der Flucht. Trauen kann er niemand, denn nicht nur der Sheriff, sondern auch seine Leute gehören zu den Vigilanten, die zudem Rückendeckung und Hilfe durch hohe Regierungsmitglieder erfährt. Das FBI ist allerdings informiert und ermittelt bereits. Marcus gerät zwischen die Fronten, und auch Ackerman will wissen, was und wie ihm geschieht …
Blut – Tempo – Spannung … Logik!
Mit diesen vier Worten und in genau dieser Reihenfolge lässt sich rekonstruieren, was Debüt-Autor Ethan Cross durch den Kopf gegangen sein muss, als er sich entschloss, nicht nur einen Thriller zu schreiben, sondern im Alleingang die Neuschöpfung dieses Genres zu versuchen. Andere Autoren beschränken sich auf einen Serienkiller, eine Verschwörung oder einen Handlungstwist. Cross beschließt, alle Mittel gleichzeitig zum Einsatz zu bringen.
Das Ergebnis ist ein Roman, der den Ehrgeiz des Verfassers mindestens so deutlich werden lässt wie sein Scheitern. „Ich bin die Nacht“ ist die Bestätigung der alten Weisheit, dass ein gut gezielter Schuss meist besser trifft als eine in die Dunkelheit geschickte Breitseite. Cross erzählt weniger eine Geschichte. Er versucht sich an der Kombination von Einfällen, die sich einer stringenten Handlung verweigern. Man kann leicht erkennen, welche Kapitel dem Verfasser den meisten Spaß bereitet haben. Gleichzeitig offenbart sich ebenso deutlich, wo er leeres Stroh drosch, um lust- und ideenlos einen roten Faden zu stricken, der diese Ideeninseln miteinander verbindet.
„Ich bin die Nacht“ soll wie ein Donnerschlag am Thriller-Himmel hallen. Man erkennt an, dass Cross sich mächtig ins Zeug legt. Enthusiasmus allein ersetzt dennoch weder eine solide Handlungsstruktur noch eine konturenstarke Figurenzeichnung. In beiden Bereichen legt Cross Bauchlandungen hin. Die Handlung bockt und springt wie ein gereizter Hammel. Es beginnt mit einer breit ausgemalten Splatter-Szene, die Ackerman beim Tücken zeigt. Dann lässt Cross seinen Killer im Regen stehen und beginnt noch einmal: Markus Williams tritt auf. Ihn formt der Autor offenbar nach dem Vorbild des Einzelkämpfers und modernen Ritters Jack Reacher. Wo dessen geistiger Vater Lee Child durch straffe Plots und entsprechende Spannungsbögen glänzt, reicht es bei Cross nur zum Imitat mit verlagsseitig behauptetem Event-Charakter. (Dem wird auch und gerade hierzulande mit einer Ausgabe Rechnung getragen, die u. a. durch ein schwarzes Cover mit schwarzem Buchstabenaufdruck und einen geschwärzten Buchschnitt um Aufmerksamkeit heischt.)
Ein Skizzenblock ist kein Roman
Im Mittelteil flüchtet Marcus ausgiebig vor Sheriff Hill und seinen Schergen. Immer wieder tappt er ihnen in die Falle, kann aber entkommen stets entkommen. Als künstliches Element der Spannungssteigerung führt Cross Marcus‘ Verweigerung des Schusswaffengebrauchs ein: Seit er die Kontrolle über sich verlor und einen üblen Drecksack hinrichtete, kann Marcus Lumpen nur noch verprügeln; gebrochene Knochen heilen wieder, so seine ‚Begründung‘. Diese Argumentation kennt man von besonders eindimensionalen Comic-Helden. Auch im B- oder besser C-Movie treten solche ‚Helden‘ auf. Natürlich kommen sie in höchster Not und gerade rechtzeitig zur Besinnung. Dann holen sie nach, was sie bisher unter dem Hohngelächter ihrer Gegner abgelehnt hatten, und rotten erst recht aus, was sich ihnen in den Weg stellt.
Diese infantile Eindimensionalität prägt das Gesamtgeschehen, das Cross so gern komplex gezeichnet sähe. Mit Begeisterung zieht er immer wieder neue Kaninchen aus dem Hut – so zahlreich, dass sie den Leser über den Haufen rennen. Überraschende Wendungen müssen gut vorbereitet werden und sollten die Handlung bereichern, statt sie zu ersetzen. Cross versucht, Twist auf Twist zu häufen. Wie erwartet ist das Resultat keine atemlose Spannung. Stattdessen bleibt dem Leser die Luft weg, weil Cross schamlos jede Logik hinter sich lässt. Er ist kein Jeffery Deaver oder Ridley Pearson, sondern nur ein James Patterson oder Steve Alten – Autoren, die Cross auf seiner Website als Vorbilder nennt.
Realitätssinn ist sicher keine Verpflichtung, der ein Thriller-Autor unterliegt. Selbst außerhalb jeder Bodenhaftung muss er jedoch den Anschein des Möglichen wahren. Cross schert sich entweder nicht darum, oder er hat keine Ahnung, wann er einen Gang zurückschalten muss. So werden seine Einfälle immer absurder, was umso peinlicher wirkt, als er seine Geschichte mit jenem Bierernst erzählt, der leicht in Lächerlichkeit umschlägt.
Kopie mit Kontrastverstärkung
Cross dankt vielen Personen, die ihn bei der Niederschrift seines Romanerstlings unterstützt haben. Gerade aus dem Verlagswesen habe er viel Unterstützung erfahren. Da fragt sich der Leser, was man dort in Cross gesehen hat. Möglicherweise ist er der ideale Autor für ein Publikum der eher simpel gestrickten Art. Mit grobschlächtigen „Torture-Porn“-Thrillern sind beispielsweise Chris Carter oder Anthony Zuiker erfolgreich. Hier wie dort ist die windschiefe Plot-Konstruktion nur provisorisches Fundament für grelle Effekte und bluttriefenden Schrecken mit Geisterbahn-Hautgout. Dafür gibt es Leser, und sie haben Geld in den Taschen.
Ethan Cross hat womöglich nicht unbeholfenes Mittelmaß fabriziert, sondern eine Nische gefunden, in der er sich festsetzen und gedeihen kann. Für den notwendigen Dünger hat er gesorgt: Zwar gibt es eine monumentale Duell-Szene zwischen Marcus und Ackerman, der dabei den Kürzeren zieht. Erwartungsgemäß klingelt im Epilog Marcus‘ Telefon: Ackerman ist quicklebendig und muss weiter gejagt werden. Da Cross auch die „Special-Agent-Pendergast“-Serie von Douglas Preston & Lincoln Child studiert hat, munkelt er bedeutungsschwanger von einem unsichtbaren Band, das Marcus und Ackerman verbindet. Die Auflösung bleibt einem der Fortsetzungsbände um die ebenfalls etablierte „Shepherd Organization“ – eine Art S.H.I.E.L.D., unter dessen Schutz engagierte Lynch-Henker zusammenfinden – vorbehalten.
An diesem Punkt wird’s hässlich. Cross produziert lautstark moralheiße Luft, wenn er Marcus Williams als geläuterten Mann einführt, der bereut, das Gesetz in die eigene Hand genommen zu haben. Als solcher macht er Sheriff Hill immer wieder Vorwürfe und fällt ihm in den mörderischen Arm. Doch als Marcus erkennt, wer zur „Shepherd Organization“ gehört, ändert er seine Meinung: Wenn ehrenwerte Männer die Lynchjustiz befürworten, kann sie nicht falsch sein. Dieser Prozess wird in der Tat so plump beschrieben, wie er hier skizziert ist. Redet Cross denen das Wort, die der realen Politik, der Justiz und ihren Hütern Schwäche und Parteilichkeit vorwerfen? Falls dem so ist, wird der Erfolg durch eine Gesamtgeschichte torpediert, die nicht trivial genug ist, um als Trash zu unterhalten.
Autor
Warum wählt sich ein Mensch ein Pseudonym, das er überall lüftet? „Ethan Cross“ klingt nicht besser als „Aaron Brown“, wie unser Autor tatsächlich heißt. Nach eigener Auskunft unterwirft er sich bereitwillig einem Marketing, das einen „Ethan Cross“ nicht als Namen, sondern als „brand“ wahrnimmt: Der Leser achtet nicht auf den Titel oder liest gar den Waschzettel, sondern kauft einen „Ethan Cross“ und weiß damit, was ihn erwartet.
Eigentlich wollte Cross seit jeher Schriftsteller sein. Sein Lebenslauf ist schwierig zu rekonstruieren, da er – vor allem auf seiner Website – viel schreibt, dabei jedoch kaum etwas über sich sagt. Offenbar besaß Aaron Brown vor einigen Jahren einen Namen im US-Musikgeschäft; nach eigener Auskunft spielte er für diverse Bands Gitarre oder übernahm den Part des Lead-Sängers.
Ernsthaft als Schriftsteller versuchte sich Brown, nachdem er am „Thrillerfest“, einer Schreibwerkstatt in New York, teilgenommen hatte. Dort geben etablierte Autoren ihr Handwerk an den schreibenden Nachwuchs weiter. 2011 erschien „The Shepherd“ (dt. „Ich bin die Nacht“).
Mit seiner Familie lebt Ethan Cross im Städtchen Nokomis, US-Staat Illinois, wo er – als jüngstes von vier Kindern – auch geboren und aufgewachsen ist.
Taschenbuch: 398 Seiten
Originaltitel: The Shepherd (Stamford/Connecticut : Story Plant/Fiction Studio 2011)
Übersetzt von Dietmar Schmidt
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eBook: 480 KB
ISBN-13: 978-3-8387-4556-5
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Hörbuch-Download: 411 min. (gekürzt; gelesen von Thomas Balou Martin)
ISBN-13: 978-3-8387-7289-9
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Hörbuch: 6 CDs = 411 min. (gekürzt; gelesen von Thomas Balou Martin)
ISBN-13: 978-3-7857-4857-2
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