WARNUNG: Dieses Buch widmet sich der kulinarischen Lust am Fleische, und zwar einer sehr speziellen Variante solcher Wonne: Menschenfleisch. Sittlich und moralisch ist das Thema ein Tabu und nicht für zartbesaitete Gemüter geeignet. Dies ist die erste Anthologie dieser Art weltweit. Falls Sie zugreifen, dann tun sie es auf Ihre eigene Verantwortung! 13 Leckerbissen von H. P. Lovecraft, E. T. A. Hoffmann, Greg F. Gifune, Tim Curran, Edgar Allan Poe, Robert Bloch, David Case, Graham Masterton, Harlan Ellison, Anthony Boucher u. a. (Verlagsinfo)
Zwölf Geschichten und ein Romanauszug thematisieren die Lust auf Menschenfleisch:
– Greg F. Gifune: „Schnee-Engel“ (|Snow Angels|, 1999): Der liebende Vater tut alles für sein Töchterlein, das einen besonderen Geschmack entwickelt hat.
– E. T. A. Hoffmann: „Cyprians Erzählung“ (1821): Die glückliche Beziehung zu seiner jungen Frau erleidet nachdrücklich Schaden, als der Gatte Zeuge ihrer besonderer Diät wird.
– Harlan Ellison: „Auf der Suche nach dem verlorenen Atlantis“ (|She’s a Young Thing and Cannot Leave Her Mother|, 1988): Die Tochter kehrt heim und stellt ihrer Familie den Lebensgefährten vor – und das nächste Hauptgericht.
– Tim Curran: „Maden“ (|Maggots|, 2008): Sie haben ihn vor dem sicheren Tod bewahrt, aber dafür diktieren sie ihm, welche Nahrung er ihnen auszugraben hat.
– Anthony Boucher: „Sie beißen“ (|They Bite|, 1943): Er will eine alte Legende missbrauchen, um einen Mord zu tarnen, und stößt dabei auf deren wahren, zahnreichen Kern.
– H. P. Lovecraft: „Das Bild im Haus“ (|The Picture in the House|, 1919): Der alte Einsiedler steigert sich in eine abseitige Begierde hinein, bis er den Gedanken Taten folgen lässt.
– Edward Lee: „Madenmädchen im Gefängnis der toten Frauen“ (|Grub Girl in the Prison of Dead Women|, 1998): Zombies werden in dieser Gesellschaft nicht getötet, sondern als moderne Sklaven ausgenutzt, bis das Maß voll ist.
– David Case: „Der Kannibalenschmaus“ (|The Cannibal Feast|, 1994): Der alte Witz vom Missionar unter Menschenfressern erhält hier eine moderne aber für Ersteren weiterhin lebensverkürzende Interpretation.
– Robert Barbour Johnson: „Tief unten“ (|Far Below|, 1939): Tief unter der modernen Großstadt tobt ein erbitterter aber geheimer Krieg gegen kannibalische Ghule.
– Edgar Allan Poe: „Arthur Gordon Pym, der Kannibale“ (Auszug aus: |The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket|, 1838): Als den Schiffbrüchigen jede Nahrung ausgeht, wird ein Opfer zur Schlachtung ausgelost.
– Robert Bloch: „Das Festmahl in der Abtei“ (|The Feast in the Abbey|, 1935): Dem verirrten Reisenden tischen die verfluchten Mönche eine unvergesslich bleibende Mahlzeit auf.
– Brian McNaughton: „Lord Glyphtards Geschichte“ (|Lord Glyphtard’s Tale|, 1995): Ein Außenseiter entdeckt und kultiviert die ghulischen Wurzeln seiner Familie.
– Graham Masterton: „Eric, die Pastete“ (|Eric the Pie|, 1991): Kannibale Eric muss feststellen, dass er wider Erwarten nicht an der Spitze der Nahrungskette steht.
Wem’s schmeckt …
Menschen essen keine Menschen: Mit diesen vier Worten lässt sich ein (scheinbar) ewiges Tabu zusammenfassen. Der reale Verstoß sorgt für Ekelschauer und morbide Neugier gleichermaßen, womit er zur idealen Quelle für entsprechende Gruselgeschichten wurde, die seit dem 20. Jahrhundert zusätzlich in Filmbilder umgesetzt werden.
Anders als der Vampir und ähnlich wie der Zombie gehört der Kannibale zu den Schmuddelkindern des Horror-Genres. Seine Ernährungsgewohnheiten sind einfach zu drastisch und verhindern die Aufwertung zur faszinierenden Identifikationsgestalt. Die seltene Ausnahme ist Hannibal Lecter, dessen Anziehungskraft aber eher auf seine Mischung aus kühler Eleganz und einfallsreicher Mordlust zurückgeht; außerdem bereitet er seine Opfer nach den Regeln der |Haut Cuisine| zu. Der ’normale‘ Menschenfresser bevorzugt die einfache Küche. Wer daran zweifelt, sei in dieser Sammlung explizit auf die Story von Tim Curran verwiesen, während David Case (*1937) eine schwarzhumorige (und auf den wenig überraschenden sowie müden Final-Gag geprägte) Variante präsentiert.
In der Furcht vor dem Kannibalen spielt sicherlich auch das Wissen um die nicht nur historische Tatsächlichkeit seiner Existenz eine gewichtige Rolle. Vampiren, dem Frankenstein-Monster oder Freddy Krueger werden wir niemals begegnen. Bei einem Menschenfresser ist dies zwar ebenfalls unwahrscheinlich aber eben nicht unmöglich. Herausgeber Frank Festa lässt dies nicht in Vergessenheit geraten, indem er zwischen den von ihm gesammelten Storys aus Zeitungsartikeln zitiert, die vom Kannibalen des 21. Jahrhunderts berichten. (Sie nutzen übrigens inzwischen das Internet.)
Es kann jedem zustoßen
In der Not frisst der Teufel Fliegen, lautet ein altes Sprichwort. Der Mensch geht da einen großen Schritt weiter. Was in der Seefahrt jahrhundertelang als „Gesetz der See“ zumindest geduldet und stillschweigend akzeptiert wurde, ist Ausdruck eines unbändigen Selbsterhaltungstriebes, der als Erklärung und Entschuldigung auch in den Geschichten dieses Sammelbandes immer wieder – ganz unmittelbar und zeitgenössisch bei Edgar Allan Poe (1809-1849) – zur Sprache kommt.
Dabei beziehen sich die Autoren gern auf historische Fälle. Greg Gifune (*1963) erinnert an kannibalische Ereignisse aus US-Pionierzeiten. Vor allem das Schicksal der Donner-Expedition, bestehend aus 87 Auswanderern, die im Winter 1846/47 in den Bergen der Sierra Nevada eingeschneit wurden, was 40 Männern, Frauen und Kindern das Leben kostete, ging nicht nur in die Geschichte ein, sondern wurde auch zum Mythos. Dieser Aspekt ist wichtig, da Fälle realen Kannibalismus‘ seit jeher nachträglich übertrieben und dramatisiert werden: Eine gute schreckliche Geschichte kann gar nicht schrecklich genug sein.
Harlan Ellison (*1934) bezieht sich in seiner Story (hinter deren pompösen Titel sich übrigens recht konventioneller Grusel verbirgt) auf die folkloristische Legende um den schottischen Räuber Alexander „Sawney“ Bean, der mit seiner degenerierten Familie angeblich im 15. Jahrhundert unvorsichtigen Reisenden auflauerte, um sie zu fangen und zu fressen. Tim Currans wahrlich apokalyptisches Kannibalen-Garn speist sich – der Kalauer sei gestattet – aus der belegten Katastrophe um den Untergang von Napoleons Grande Armée auf dem Russlandfeldzug von 1812.
Man kann sich daran gewöhnen
Immer wieder spinnen Autoren den Gedanken aus, dass der Verzehr von Menschenfleisch, der aus Not geboren wurde, den so Überlebenden ‚verdirbt‘. Er kommt auf den Geschmack und setzt Himmel & vor allem Hölle in Bewegung, um sich weiterhin mit der besonderen Kost zu versorgen (Gifune). Die Folgen sind grässlich (Curran), wobei Inzest und Degeneration als besonders drastische Nachwirkungen in Szene gesetzt werden (Gifune, Ellison, Anthony Boucher [d. i. William Anthony Parker White], 1911-1968; H. P. Lovecraft, 1890-1937). Hier macht sich offenbar die (falsche bzw. falsch verstandene) Auffassung bemerkbar, dass die ‚frühen‘ Menschen der Steinzeit allesamt Kannibalen waren und Zivilisation sich auch oder vor allem in der Überwindung dieser Unsitte zeigt.
Interessanterweise wird der darin mitschwingende wahre Kern vom rituellen Kannibalismus in diesen Geschichten kaum thematisiert: Wer einen Menschen isst, nimmt dessen geistige und körperliche Stärke in sich auf oder ehrt ein geliebtes Familienmitglied. Graham Masterton (*1946) erweitert diesen Aberglauben um ein sexuelles Element und schwelgt in einem Overkill blutrünstiger Szenen, die Jahre nach Überwindung des Splatterpunks eher zum Grinsen reizen: Perversion will nicht geklotzt, sondern gekleckert werden. Auch Edward Lee (*1957) hebelt die Wirkung seiner vom Thema interessanten Story durch ein ermüdendes Zuviel an listenhaft abgearbeiteten Scheußlichkeiten und Fäkal-Sprech aus. (Zombies sind außerdem keine ‚echten‘ Kannibalen.)
Schlechte Tischmanieren
Überhaupt stürzen sich vor allem die modernen, von der Zensur weniger in Zaum gehaltenen Verfasser auf das Element der ‚verbotenen‘ Nahrungsaufnahme. Weil manchen sogar der Kannibale an sich nicht grausig genug dünkt, wird er in die Nähe anderer Schreckensgestalten gerückt. In erster Linie bietet sich dafür der Ghul an, jenes leichenfressende, dämonische Ungeheuer, das im Grunde ein Horror-Import aus der persisch-arabischen Mythologie ist. E. T. A. Hoffmanns (1776-1822) Erzählung aus dem IV. Band der Sammlung „Die Serapionsbrüder“ erschien später zwar auch als „Der Vampyr“, trug ursprünglich jedoch keinen Titel und beschreibt eindeutig einen Ghul. Auch das Maden-Monster des nun schon mehrfach genannten Tim Curran teilt eher diese Herkunft. Robert Barbour Johnson (1907-1987) erstaunt und fasziniert mit einer frühen apokalyptischen Schilderung eines geheimen Krieges zwischen Menschen und Ghulen, bei dem die Grenzen zwischen den Fronten in schreckliche Auflösung geraten sind und die Leichenfresser zur „lost race“ umgedeutet werden.
Aus einem offenbar unerschöpflichen Schatz eingekaufter Storys von Brian McNaughton (1935-2004) steuert Herausgeber Festa eine weitere der locker miteinander verknüpften „Dark-Fantasy“-Geschichten bei, die mit dem für den Verfasser typischen Schwarzhumor das „Coming Out“ eines Ghuls schildert; im Kanon der sonst eher ‚realistisch‘ verankerten Sammlung bildet diese zu lange und oft nur klamaukige Story einen leichten Misston.
Ausgerechnet dem jungen Robert Bloch (1917-1994) – der später (s. „Psycho“) selten durch Zurückhaltung auffiel – gelingt mit einem Frühwerk die ideale, weil an schaurigen Details nicht geizende aber sich nicht bevorzugt darauf stützende oder gar beschränkende Verbindung mit einer spannenden Handlung. „Das Festmahl in der Abtei“ ist Blochs Reverenz an seinen Mentor, dem ebenfalls in dieser Sammlung vertretenen H. P. Lovecraft, erfreut aber durch eigenständige Ideen. Unter den modernen Autoren gelingt wohl Harlan Ellison der Ausgleich zwischen plumpem Horror und echten Schrecken am besten.
Diese Interpretationen spiegeln natürlich die (trotz aller Bemühungen um Objektivität) dominierenden Vorlieben dieses Rezensenten wider. Vor allem jüngere Leser mögen zu anderen Urteilen kommen. Sie könnten durchaus richtig liegen. Im Zeitalter epischer und endlos fortgesetzter Romane drohen die Vorteile der Anthologie in Vergessenheit zu geraten: Sie stellt ein Angebot dar, über den Tellerrand gehegter Lektüregewohnheiten und in andere Welten zu blicken. Dies wertet auch diese inhaltlich durchwachsene Sammlung auf und macht neugierig. Horror ist so viel mehr als Vampir-Brunst & Zombie-Geschnetzel; es kann nie schaden, so unterhaltsam wie hier auf diese Tatsache hingewiesen zu werden!
Taschenbuch: 320 Seiten
Originalausgabe
Übersetzung: Andreas Diesel (1), Jan Dugon (1), Gisela Etzel (1), Elke Hosfeld (3), Michael Plogmann (4), Ben Sonntag (1), Michael Weh (1)
ISBN-13: 978-3-86552-126-2
http://www.festa-verlag.de
Der Autor vergibt: