Garry Disher – Drachenmann (Inspektor Challis 01)

Heiße Zeiten in Waterloo

Im Peninsula District bei Melbourne herrscht kurz vor Weihnachten Hochbetrieb. Detective Inspector Hal Challis würde sich am liebsten ganz der Restaurierung eines alten Flugzeugs widmen. Dann aber wird eine junge Frau nachts auf dem Highway ermordet, kurz darauf geschieht ein zweiter Mord, ein anonymer Brief kündigt ein drittes Opfer an… (Verlagsinfo) Für „Drachenmann“ erhielt der Autor 2002 den Deutschen Krimi Preis.

Der Autor

Garry Disher (* 15. August 1949 in Burra, South Australia) ist ein australischer Schriftsteller.

Disher wuchs auf einer Farm auf. Er studierte an den Universitäten Adelaide, La Trobe, und Monash. Anschließend unternahm er Anfang der 70er Jahre ausgedehnte Reisen durch Europa, Israel und Afrika. Er war 1978/79 Australian Creative Writing Fellow an der Stanford University im US-Bundesstaat Kalifornien.

Garry Disher schreibt neben Prosa- und Kriminalromanen auch Kinder-, Jugend- und Sachbücher, etwa über australische Geschichte. Sein erster Roman erschien 1987. In Deutschland wurde er vor allem durch seine Kriminalromane bekannt, besonders durch die Reihen um den Berufskriminellen Wyatt und die um Inspector Challis. Sein Kriminalroman „Kaltes Licht“ (2019) stand auf Platz 1 der Krimibestenliste der zehn besten neuen Krimis im September 2019.

Disher lebt mit seiner Familie auf der Halbinsel Mornington im australischen Bundesstaat Victoria.

Romane

Wyatt-Reihe

1991 Kickback (Wyatt-Roman 1)
Gier, dt. von Gabriele Bärtels, Maas, Berlin 1999, ISBN 3-929010-49-6
1992 Paydirt (Wyatt-Roman 2)
Dreck, dt. von Bettina Seifried, Maas, Berlin 2000, ISBN 3-929010-72-0
1993 Deathdeal (Wyatt-Roman 3)
Hinterhalt, dt. von Bettina Seifried, Pulp 12, Pulp Master, Berlin 2002, ISBN 3-929010-73-9
1994 Crosskill (Wyatt-Roman 4)
Willkür, dt. von Bettina Seifried, Pulp 15, Pulp Master Berlin 2004, ISBN 3-929010-54-2
1995 Port Vila Blues (Wyatt-Roman 5)
Port Vila Blues, dt. von Ango Laina und Angelika Müller, Pulp 18, Pulp Master, Berlin 2006, ISBN 3-927734-34-9
auch: Vergeltung, gleiche Übersetzung, Knaur, München 2007, ISBN 3-426-62304-8
1997 The Fallout (Wyatt-Roman 6)
Niederschlag, dt. von Ango Laina und Angelika Müller, Pulp 23, Pulp Master, Berlin 2008 ISBN 978-3-927734-37-1
1997 (zusammen mit Shaun Tan) The Half Dead
2010 Wyatt (Wyatt-Roman 7)
Dirty Old Town, dt. von Ango Laina und Angelika Müller, Pulp 33, Pulp Master, Berlin 2013, ISBN 978-3-927734-46-3
2015 Heat (Wyatt-Roman 8)
Hitze, dt. von Ango Laina und Angelika Müller, Pulp 46, Pulp Master, Berlin 2019, ISBN 978-3-927734-95-1
2018 Kill Shot (Wyatt-Roman 9)
Moder, dt. von Ango Laina und Angelika Müller, Pulp 53, Pulp Master, Berlin 2021, ISBN 978-3-946582-06-9

Inspector-Challis-Reihe

1999 The Dragonman
Drachenmann, dt. von Peter Friedrich, Union, Zürich 2001, ISBN 3-293-00292-7
2003 Kittyhawk Down
Flugrausch, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2005, ISBN 3-293-00352-4
2005 Snapshot
Schnappschuss, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2006, ISBN 3-293-00363-X
2007 Chain of Evidence
Beweiskette, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2009, ISBN 3-293-00401-6
2009 Blood Moon
Rostmond, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2010, ISBN 978-3-293-00420-7
2013 Whispering Death
Leiser Tod, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2018, ISBN 978-3-293-00528-0.
2016 Signal Loss

Constable-Hirschhausen-Reihe

2013 Bitter Wash Road
Bitter Wash Road, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2016, ISBN 978-3-293-00500-6
2019 Peace
Hope Hill Drive, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2020, ISBN 978-3-293-00563-1
2020 Consolation
Barrier Highway, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2021, ISBN 978-3-293-00572-3

Sonstige

1987 Steal Away
1987 The Stencil Man
1996 The Sunken Road
2000 From Your Friend, Louis Deane
2001 Past the Headlands
Hinter den Inseln, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2003, ISBN 3-293-00319-2
2001 Moondyne Kate
2002 Maddie Finn
2017 Under the Cold Bright Lights
Kaltes Licht, dt. von Peter Torberg, Union, Zürich 2019, ISBN 978-3-29300550-1

Handlung

Im Peninsula District bei Melbourne herrscht kurz vor Weihnachten Hochbetrieb. Detective Inspector Hal Challis würde sich am liebsten ganz der Restaurierung eines alten Flugzeugs widmen. Sie nennen ihn den „Drachenmann“, nicht weil er dubiosen Umgang mit Drachen hielte, sondern weil sein Oldtimer-Flieger den Beinamen „Dragon“ trägt. Es ist eine sehr seltene Maschine. Dass er in der Lage ist, sie Stück für Stück zu restaurieren, verrät seine Fähigkeit zu ruhigem, methodischen und geplanten Arbeiten.

Diese Eigenschaft kann er in seinem neuesten Fall bestens gebrauchen. Zwei junge Frauen wurden auf der Mornington-Halbinsel ermordet, und ein Brief, den er für authentisch hält, kündigt einen weiteren Mord an. „Kymbly Abbott, das Opfer Nr. eins, verließ eine Party in Frankston in der nacht zum 12. Dezember, wurde gesehen, wie sie am Beginn des Peninsula Highway eine Mitfahrgelegenheit suchte, und schließlich am nächsten Morgen vergewaltigt und erwürgt neben der Straße gefunden.

Nicht ganz eine Woche später, am 17. Dezember, zeichnete die VAA den Notruf einer gewissen Jane Gideon auf, deren Wagen zusammengebrochen war. Das Band (des Auto-Notdienstes) deutet auf die Gegenwart einer weiteren Person hin. Gideon war nicht mehr da, als die Polizei und der VAA-Mechaniker eintrafen, und ihre Leiche wurde am Mittwoch am Rand des Devil Bend Reservoir (Stausees) aufgefunden.“ (S. 105) „Wir wissen, dass die beiden Frauen nicht am Fundort ermordet wurden. Nicht im Freien, denn die einzigen Spuren von Gras und Schmutz stammen von dem Ort, an dem sie gefunden wurden.“ (S.106) „Alles, was wir haben, ist ein Satz Geländereifenspuren von dem Fahrzeug, mit dem Jane Gideons Leiche transportiert worden sein muss.“

Diese Reifenspuren erweisen sich im Verlauf der Ermittlung als sehr wichtig, denn sie passen zu einem Wagen, das sich ein Exsträfling ausgeliehen hat und auf den Namen seiner Schwester hat eintragen lassen, weshalb der Jeep auch ganz woanders geparkt ist. Nur durch seine methodische Hartnäckigkeit gelingt es Challis, die Fehler auszubügeln, die seine Beamten fortwährend machen. Denn dieses Team ist alles andere als optimal.

Einer der älteren Beamten ist für seine Pedanterie bekannt und bei den Einheimischen verhasst. Die mauern, sobald er nur den Mund aufmacht. „Die Polizei, dein Freund und Helfer? Nur über meine tote Leiche!“ Die jüngsten Polizistinnen werden untergebuttert oder geschnitten, eben weil sie erstens weiblich und zweitens jung sind. Dabei befinden sich unter ihnen die klügsten Köpfe mit den schärfsten Augen. Nur Challis scheint diesbezüglich keine Vorurteile zu haben, und das, obwohl er fast von seiner Ex-Frau erschossen worden wäre.

Dass eine Serie von Brandanschlägen auf Briefkasten-Boxen die Bürger aufbringt, könnte zur Verwirrung der Lage beitragen. Aber es stellt sich heraus, dass die beiden Brandstifter alles andere als ein Herz und eine Seele sind. Der psychopathische Brandstifter ist selbst eine Art Drachenmann, denn er liebt das Feuer gar so sehr. Dass er im Auftrag einer Immobilienmaklerin ausbaldowerte Villen ausräumt (siehe den Anfang des Wyatt-Krimis „Gier“), stellt sich erst sehr spät heraus.

Und wer fährt noch so spät durch die Nacht in einem größeren Fahrzeug, in dem sich ohne weiteres eine Frauenleiche unterbringen ließe? Verdächtig sind eine Menge Leute, und das wiederum zeigt die dunkle Seite von Waterloo nahe Melbourne. Er bekommt Verstärkung aus Rosebud und Mornington, und sogar das ferne Melbourne zeigt bald Interesse. Schließlich macht sich eine Mordserie alles andere als gut in den Annalen der Polizei…


Mein Eindruck

Verlag und Kritiker sind voll des Lobes, und der Deutsche Krimipreis 2002 geht voll in Ordnung. Der Autor idealisiert nicht, wenn er die Kleinstadtgesellschaft des modernen Australien schildert. Die Figuren sind echte Charaktere, die mit anderen auf eine Weise interagieren, die ihren Gemütszustand ebenso hervortreten lässt wie ihren Intelligenzquotienten.

Die Dialoge, die 99 Prozent des Buches ausmachen, dienen dieser Charakterzeichnung. Deshalb sollte der Leser darauf achten, die Dialoge angemessen zu würdigen, denn sie SIND die Handlung. Weil eine ganze Menge Leute sprechen, ergeben sich eine Reihe von Handlungssträngen. Aber solange die Handlungsträger Polizisten sind, folgt man ihrem Tun gerne. Denn am Schluss zählen die Ergebnisse, die das Team erzielt. Weil nicht jeder Cop ein Teamspieler ist, kommt es zu Pannen und Fehlern. Und wie jeder gute Krimiautor legt auch Disher eine Reihe falscher Fährten aus. „Mit eleganten Tricks führt er den Leser leichthin an der Nase herum“, wie ein Kritiker schrieb.

Dieser Krimi wurde von Kritikern als „durchkomponierte Sinfonie“ und als „eine Art semidokumentarische Momentaufnahme modernen australischen Alltagslebens“ bezeichnet. Der Plot ist ausgetüftelt, aber das könnte manchen Krimi-Fan verschrecken statt anziehen. Wo bleibt die Action, mag er sich fragen. In der Tat hält sich die Action stark in Grenzen, und der beste Moment ist wohl eine Verfolgungsjagd in der Endphase.

Man könnte aber auch argumentieren, dass die Erzählung die Action ist: die Schnitte von Szene zu Szene erfolgen so schnell, dass der Leser gar nicht anders kann, als schnell zu lesen, um nicht den Faden zu verlieren. Das Ergebnis ist „eine flotte, aber nie gehetzte Dynamik in der Erzählung“, wie ein Kritiker schreibt. (Alle Zitate – und noch viele weitere – findet man auf der entsprechenden Buch-Webseite des Unionsverlags.) Maximal zwei Leseabende sind anzusetzen, mehr Zeit braucht man nicht zu investieren.

Das bedeutet aber auch, dass der Leser ständig dranbleiben muss, damit die Lektüre Erfolg hat. Er muss sich ständig die große Anzahl von Namen und Figuren merken, denn eine Figurenliste gibt es nicht. Auch wechseln manche Figuren ihre Identität. Wohl dem Leser, der sich von solchen Standardkniffen nicht aus dem Konzept bringen lässt. Er muss bedingungslos auf die Kunst des Erzählers / Autors vertrauen, schließlich doch noch eine Lösung zu präsentieren. Ich habe jedenfalls auf den „normalsten“, „gewöhnlichsten“ Bürger von Waterloo als Täter getippt, aber der Handlungsverlauf ließ mich zunehmend an meiner Wahl zweifeln. Er war’s dann doch.

Die Übersetzung

Der Übersetzer des Unionsverlags hat 2012 herausragende Arbeit geleistet. Ich durfte keinen einzigen Druckfehler notieren.

Unterm Strich

Weil fast der gesamte Text aus Dialogen besteht, lässt er sich rasend schnell bewältigen. Diese Dialoge haben es in sich, denn sie charakterisieren erstens den jeweiligen Sprecher – erfreulich viele Frauen – und vermitteln häufig Sachverhalte, Ansichten, Annahmen und Theorien, etwa zu Tätern, Tat- und Fundorten. Die Dialoge stellen also den eigentlichen Krimi dar, und wohl dem, der sich all die vielen Sprecher merken kann. Notfalls sollte man sich Notizen machen.

Auf den Seiten 105/106 werden die Fakten in der Mordserie rekapituliert, das ist schon mal eine große Hilfe, und der Leser kann sich seiner eigenen Schlussfolgerungen vergewissern. Ab diesem Punkt verzweigt sich die Ermittlung in mehrere Richtungen, aber weil Challis jetzt Verstärkung bekommen hat, schreitet die Ermittlung rasch voran. Dummerweise kommt es zu falschen Schlussfolgerungen, zur Festnahme unschuldiger Verdächtiger, zur Festnahme unerwarteter Bürger und zum Verlust von Unterlagen, wie es scheint. Kurzum: Es ist der ganz normale Wahnsinn, der sich vor dem Leser offenbart. Es kommt darauf an, wie Hal Challis die Nerven zu behalten und die Dinge zu nehmen, wie sie kommen. Mir selbst hat es ein wenig an Romantik und Erotik gemangelt. Die findet man in „Gier“.

Taschenbuch: 281 Seiten
Info: Dragon Man, 1999
Aus dem Australien-Englischen von Peter Friedrich
ISBN 9783293205604

www.Unionsverlag.com

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