Ian McDonald – König der Dämmerung, Königin des Lichts

Drei Frauen im Kampf mit der irischen Vergangenheit

Eines der überraschendsten und schönsten Leseerlebnisse der neunziger Jahre hat mir der phantastische Roman des Nord-Iren Ian McDonald beschert. Es ist eine rätselhafte, poetische Geschichte von drei wunderbaren Frauen. Sie beginnt 1913, als die junge Emily mythische Figuren zum Leben erweckt, die fortan sie und ihre Nachkommen Jessica und Enye begleiten. Die drei Frauen dringen in das dunkle, lebendig gewordene Reich ihres Unterbewusstseins ein, das ihre reale, hektische Welt des 20. und 21. Jahrhunderts überlagert und verändert.

Auf unterschiedliche Weise versuchen Emily und ihre Nachfahren sich der Mächte der eigenen Traumzeit zu erwehren. Während die eine den mythischen Wesen nachgibt, versucht die andere, ihnen zu entkommen. Die dritte, Enye, hingegen bekämpft sie mit Drogen, Wut und einem Samurai-Schwert.

Der Autor

Der 1960 geborene Nordire Ian McDonald schreibt seit 1982 erfolgreich Science Fiction und Fantasy. In „Rebellin des Glücks“ (Out on blue six“, 1989) ist McDonald in diesem, seinem zweiten Roman noch reichlich epigonal, ebenso wie in Roman Nr. 1 – „Straße der Verlassenheit“ (Desolation Road, 1988; dt. bei Bastei) und Nr. 4, „Herzen, Hände und Stimmen“ (Hearts, Hands and Voices, 1992; dt. bei Heyne als Nr. 06/5009, 1993).

Lediglich der Fantasyroman „King of Morning, Queen of Day“ (1991, dt. bei Bastei-Lübbe) ist völlig eigenständig gelungen, ähnlich wie seine jüngsten Erfolge „Chaga oder das Ufer der Evolution“ (1995) und dessen Fortsetzung „Kirinja“ (1998, dt. 2000). Seine letzten bei uns veröffentlichten Romane waren „Narrenopfer“ (Sacrifice of Fools, 1996, Heyne Nr. 06/5981, 11/1998), „Necroville“ (1994, Heyne 1996 als Nr. 06/5461) udn die LUNA-Trilogie.

Wem „Chaga“ und dessen Fortsetzung „Kirinja“ gefallen haben, der sollte auch den Kurzroman „Tendeléos Geschichte“ lesen, die in der Anthologie „Unendliche Grenzen“ von Peter Crowther enthalten ist (Bastei-Lübbe, 2002). Tendeléo erzählt vom Chaga in den Jahren 2010 bis 2015.

1) Strasse der Verlassenheit (1988)
2) Rebellin des Glücks (1989)
3) König der Dämmerung, Königin des Lichts (1991)
4) Herzen, Hände und Stimmen (1992)
5) Necroville (1994)
6) Chaga oder das Ufer der Evolution (1995)
7) Narrenopfer (1996)
8) Kirinja (1998)
9) Cyberabad
10) Die LUNA-Trilogie

„Viele Romane und Geschichten sind vom Nordirlandkonflikt geprägt, sehr häufig werden Interessengegensätze und Auseinandersetzungen zwischen Volksgruppen geschildert, die sich in Herkunft oder Religion unterscheiden. Beispielsweise handelt sein Roman „Narrenopfer“ von einem Konflikt zwischen Menschen und als Flüchtlingen eingewanderten Außerirdischen. In „Herzen, Hände und Stimmen“ prallen zwei Lebensweisen aufeinander, eine biologisch verwurzelte und eine technisch orientierte, wobei es angesichts der Frage, welche besser sei, keine Antwort gibt. Ein weiteres wiederkehrendes Thema bei McDonald ist der Konflikt zwischen High-Tech-Entwicklungen und den Verhältnissen in Entwicklungsländern.

Der Chaga-Zyklus (bislang bestehend aus der Kurzgeschichte „Zum Kilimandscharo“, den Romanen „Chaga“ und „Kirinya“ sowie der Novelle „Tendeléo’s Story“) schildert, wie biologische Pakete auf der Erde einschlagen und Zonen eines wild wuchernden fremden Lebens entstehen lassen, in denen die irdische Ökologie komplett absorbiert wird. Die Art und Weise, wie Menschen und Staaten damit umgehen, ob sie die Alien-Biologie als tödliche Bedrohung sehen oder als Chance für ein AIDS-Heilmittel begreifen, interessiert den Autor sehr. Die Reaktionen verraten viel über soziale Strukturen, Macht und Diskriminierung.

In dem Roman „River of Gods“ schildert McDonald ein in Einzelstaaten zersplittertes Indien des Jahres 2047, in dem Künstliche Intelligenzen auf Techno-Hinduismus treffen. Auch die Texte des Erzählungsbandes „Cyberabad Days“ spielen in dieser Welt.“ (Wikipedia.de)

Handlung

Der dreiteilige Roman erzählt von drei Generationen irischer Frauen. Von Emily, die im idyllischen edwardianischen Zeitalter um 1913 lebt; von Jessica, die im Dublin der 1930er Jahre lebt; und von Enye, die in der Jetztzeit den Kampf fortsetzt, den ihre Vorgängerinnen, Verwandte begonnen haben.

Denn die Klosterschülerin Emily ist damals auf mystische Weise eine innige Verbindung mit dem strahlenden keltischen Lichtgott Lugh , dem titelgebenden „König des Morgens“, eingegangen und eine Art Königin des Elfenreichs geworden, doch mit steinernem, eifersüchtigem Herzen. Niemand darf ihre Liebe gefährden, auch nicht ihr Vater, der als Astronom einen sehr seltsamen neuen Kometen beobachtet hat: Er veränderte beim Vorbeiflug seine Helligkeit und bremste ab…

In den 1930er Jahren begegnet Jessica einer (weiteren?) Inkarnation dieses Krieger- und Lichtgottes und muss sich zwischen seiner Liebe und dem Menschsein entscheiden. Ihre Tochter Enye bekämpft in der nahen Zukunft mit einer cyberpunkmäßigen Spezialausrüstung die Gestalten des Chaos, die von der ewigen Königin Emily in unsere Realität ausgesandt werden. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod…

Mein Eindruck

Die Art, wie McDonald diese Geschichten erzählt, ist deren Inhalt jeweils völlig angemessen. Emilys Anderswerden und Übergang in die Anderswelt wird in Form eines Brief- und Tagebuchromans geschildert – eine ebenso liebenswürdige, persönliche wie ausgestorbene Kommunikationsform. (Sie erinnerte mich an die Heldin von Robert Holdstocks Roman „Lavondyss„. Und als Holdstock-Fan habe ich mir deshalb das Buch auch besorgt.)

Jessicas Part mit dem Titel „Mythenlinien“ hat eher das etwas spröde Flair der Sozialreportagen und -dramen ihrer Zeit, zum Beispiel von Sean O’Casey oder George Orwell. Wichtigster Unterschied: Irland ist eine von Großbritannien unabhängige Republik.

Enye tritt im vierten Buchteil auf, der den hebräischen Titel „Shekinah“ trägt. Shekinah bzw. Schechina bedeutet die „Einwohnung bzw. Wohnstätte Gottes“, dem katholischen Tabernakel vergleichbar. Dieser Titel weist also weit über das Hier und Jetzt hinaus.

Enyes Zweikämpfe mit geifernden Monstern, die ihre Vorfahrin Emily aus der Anderswelt entsendet, passen in die Welt des Cyberpunk a SHADOWRUN-Zyklus.

Welch ein Spektrum an Welten und Erzählweisen! Und alle in überzeugendster Weise präsentiert. Einmal angefangen, konnte ich den Roman kaum einmal aus der Hand legen. Seine Gestalten werden mir noch lange in Erinnerung bleiben. Am Schluss bringt Enye eine Tochter zur Welt. Dreimal darf man raten, wie sie das Kind nennen wird. So gelangt die Geschichte wie in einem Zirkel zurück an ihren Anfang.

Die Übersetzung

Michael Kubiak hat zwar gute Arbeit geleistet und auch den ironischen Humor gut eingefangen. Aber ab S. 27ff übersetzt er den Ausdruck „Heckler“ aus unerfindlichen Gründen nicht. Ein „heckler“ ist ein spöttischer Zwischenrufer. Dieser tritt während des Vortrags von Mr. Desmond, dem Astronomen, auf.

Taschenbuch: 507 Seiten
Originaltitel: King of Morning, Queen of Day, USA 1991.
Aus dem Englischen von Michael Kubiak.
ISBN-13: 9783404201907

www.heyne.de

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