Dean R. Koontz – Der Geblendete

Thriller zwischen Religion und Quantenmechanik

Der Horrorautor versucht sich an einer Familiensaga, die mit einer makabren Farce kontrastiert wird: eine gewöhnungsbedürftige Mischung für alle, die von Dean Koontz kurze, knackige Horrorkost gewöhnt sind. Nie war der Unterschied zu Stephen King deutlicher zu sehen als an diesem Buch.

Handlung

Bevor Bartholomew Lampion am 6. Januar 1965 geboren wird, stirbt sein Vater Joe bei einem Verkehrsunfall auf dem Weg zum Krankenhaus, in dem seine Frau Agnes ihr Baby zur Welt bringen will: Barty. Agnes Lampion überlebt knapp.

Im Alter von drei Jahren müssen die Ärzte Bartys Augen durch eine vorbeugende Operation entfernen, um Krebs zu verhüten. Wiewohl augenlos, erlangt er mit 13 Jahren seine Sehkraft wieder – doch ohne dass ein himmlische Kraft eingreift: Er besitzt die Fähigkeit, sich das vorzustellen, was andere Bartholomews in parallelen Universen sehen können …

Bartholomews Name erschallt in den Albträumen des Serienmörders Junior Cain. Seit Junior seine bildschöne und vertrauensselige Ehefrau Naomi in einem spontanen Impuls – würde er es tun können? – von einem morschen Aussichtsturm gestoßen hat (ebenfalls am 6. Januar 1965), kennt er die Lust am Töten. Er fühlt sich dann wie der Herr seines Schicksals – nur so kann er die Lehren des Selbsthilfe-Psychoberaters „Caesar Zedd“ optimal umsetzen. Cain hat nämlich ein Problem: Er besitzt weder Moral noch Gewissen.

Doch Junior hat eine Nemesis, die ihn bei Tag ständig verfolgt: einen Polizisten und Ex-Pfarrer namens Thomas Vanadium, der ihm schwer auf den Senkel geht. Immer wieder tauchen bei Cain wie aus dem Nichts Vanadiums Markenzeichen auf: Vierteldollar-Münzen. Denn Vanadium hat wie Bartholomew einen guten Dimensions-Trick drauf.

Und nachts sucht Junior Cain der Name Bartholomews heim. Doch wer ist das? Ist es sein eigener Sohn, den er zeugte, als er einst eine junge schwarze Krankenschwester namens Seraphim White brutal vergewaltigte?

Auf seiner besessenen Suche nach Bartholomew findet er nach drei Jahren (also ’68) heraus, dass damals nicht ein Sohn, sondern eine Tochter namens Angel gezeugt wurde. Angel wächst nach dem Verkehrstod ihrer Mutter bei deren Schwester Celestina auf – beide sind Töchter des Erweckungspredigers Harrison White, der über Radio die Bartholomew-Legende im ganzen Westen populär gemacht hatte – was zu Bartys Namen und Cains Fluch führte.

Als Junior erneut in ihr Leben einzudringen versucht und Angels Pflegemutter erkennt, in welcher Gefahr sie beide schweben, flieht sie mit ihrer Tochter von Oregon nach Kalifornien und findet Obdach bei der gutherzigen Familie Lampion, die einen blinden Sohn hat. Er verfügt über außergewöhnliche Intelligenz und übersinnliche Fähigkeiten: Bartholomew.

Als Angel und Barty einander begegnen, erscheinen sie wie füreinander bestimmt. Alle, die Barty begegnen, lieben ihn. Alle außer Junior Cain …

Mein Eindruck

Die Erzählweise

Die Erzählweise scheint auf den ersten Blick nicht aus dem Rahmen zu fallen. Hin und her springt der Blickwinkel zwischen den Szenen mit dem durchgeknallten Junior Cain und jenen, in denen Bartys Familie Lampion oder Angel White auftreten. Cain ist die Verkörperung des amoralischen Bösen, Barty und Angel sind die guten Wunderkinder.

Und dann gibt es gibt noch andere Akteure, wie etwa Tom Vanadium und seine Freunde. Sie spielen die Schutzengel der beiden Wunderkinder, verfügen wie Vanadium ebenfalls über ausgefallene Fähigkeiten. Und da dieser breit angelegte Roman zudem eine Familienchronik ist, nimmt der Hintergrund der Familien wie auch des jeweils aktuellen Weltgeschehens einen gewissen Raum ein: dieses Webmuster ist recht komplex. Doch es wird in gemächlichem Tempo ausgebreitet, so dass der Leser immer weiß, woran er mit wem ist.

Ein wunderbarer, ein lächerlicher Schurke

Was mich von Anfang an störte, waren die eindeutigen, „sprechenden“ Namen: Vanadium ist eine der härtesten Werkzeuglegierungen. Lampion ist das französische Wort für „führende Leuchte“, etwa an einer Kutsche. „Cain“ verweist auf den alttestamentarischen Mörder seines Bruders Abel. Dieses Stilmittel verweist „Der Geblendete“ in das Genre der moralisierenden Chroniken, die mitunter auf biblischen Figuren wie etwa Judas oder Saulus/Paulus (vgl. Wunder von Damaskus) verweisen. Es gibt tatsächlich einen Freund der Familie Lampion, der Paul Damascus heißt! Für gute Literatur ist dies sicherlich reichlich platt.

Die schier unerträgliche Güte der Familien Lampion und White wird kontrastiert von Junior Cain, der weder Moral, Geschmack noch Gewissen kennt. Aber er hat Erfolg bei den Frauen und hält sich einiges darauf zugute – bis er von einem cleveren Transvestiten aufs Kreuz gelegt wird. Auch mit seinem Leben gemäß den Lehren von Caesar Zedd scheint Junior Erfolg zu haben. Doch wenn es darauf ankommt, sich zwischen Denken und Handeln zu entscheiden, zeigt sich in Zedds Gedankengebäude ein Widerspruch – natürlich im ungünstigsten Moment.

Vollends zur Farce wird Juniors Leben durch seinen Kunstgeschmack. Gute Kunst ist für ihn jene, die ihn verunsichert und in Frage stellt. Celestina White hingegen malt wunderschöne Bilder mit Naturmotiven – Cain ist dieser „Postkartenkitsch“ ein Gräuel. Während seine bevorzugte Kunst teure Augenwischerei ist, verkaufen sich Celestinas Gemälde praktisch von alleine. Wer hat nun Recht: die Kritik oder die Käufer? Symbolisch für Juniors Geschmack und Weltsicht steht seine wertvollste Skulptur: Die „Industriefrau“ besteht aus Schrott und kostete ein Heidengeld – für ihn großartige Kunst.

Trotz seiner vielbeschworenen Rationalität und Selbsthilfe-Psychologie ist Junior immer noch ein Kind: Er glaubt am Schluss an schwarze Magie, Reinkarnation („Bist du da drinnen, Naomi?“ fragt er Angel) und Transzendentale Meditation. Mit der Figur des Cain hat Dean Koontz das Motiv des Scharlatans weiterentwickelt: War es in „Stimmen der Angst“ noch der Psychiater selbst, der als Schurke seine Opfer zur Strecke brachte, so ist es nun der Jünger des Scharlatans Caesar Zedd, der stellvertretend Opfer fordert. Hier bringt Koontz wieder mal deutliche Kritik an Missständen der amerikanischen Kultur und ihren Medien (in jedem Wortsinne!) an.

Die „unerträglichen“ Guten

Den Kern der Familie Lampion, der eigentlichen Guten, bilden Bartys Mutter Agnes und ihre beiden Brüder Edom und Jacob. Alle drei hatten als Kinder unter der gewalttätigen Erziehung ihres Vaters zu leiden. Agnes‘ Rücken ist für immer von Narben entstellt. Jacob und Edom glauben heute nur noch an den Gott, der entweder menschliche (Jacob) oder natürliche (Edom) Katastrophen schickt, um die Menschen zu züchtigen. Diesem Pessimismus steht einzig und allein Agnes entgegen: Sie ist die Kuchenfee, denn in ihrer Nachbarschaft verschenkt sie selbstgebackenen Kuchen. Als Gegenleistung erhält sie Liebe und natürlich Geschenke.

Dass diesen Gutmenschen früher oder später etwas von Junior Cain angetan wird, erscheint von Anfang an unausweichlich. Doch warum muss Cain die ausführende Hand sein? Er kennt ja lediglich einen einzigen Namen: Bartholomew, sonst nichts. Er hat noch nie von den Lampions gehört. Und daher muss ich nun auf das tiefere Wirkprinzip im Handlungsverlauf zu sprechen kommen.

Zufall oder Quantenmechanik?

Gibt es Gott oder gibt es den Zufall? Das ist die grundlegende Frage für einen Menschen, der sich wie Koontz mit Glaube und moralischen Fragen von Gut und Böse befasst. Wenn es Gott gibt, dann gibt es auch von ihm abgeleitete moralische Werte. Sie sind in den Lampions und Whites verkörpert. Gibt es ihn nicht, sondern nur den puren Zufall, dann gibt es keine Werte, da alles relativ ist und somit keinen Vorrang einnimmt, der moralisches Handeln erlauben würde. Für diese Weltsicht steht Junior Cain, der Serienkiller. Hier treten widersprüchliche Selbsthilfe-Leitsprüche an die Stelle der Zehn Gebote.

Doch was wäre, wenn der Zufall aufgrund der modernen Theorie der Quantenmechanik ein Werkzeug der Natur – und mithin eines lenkenden Gottes – wäre? Dann wäre auch Junior Cain ein notwendiger Bestandteil des göttlichen Plans und das Zusammentreffen mit den Lampions vorherbestimmt.

Das mit der Quantenmechanik ist natürlich eine wackelige Sache, und Koontz lässt Tom Vanadium die Theorie nur sehr verkürzt vortragen und erklären – um nicht zu langweilen. Laut Quantenmechanik existieren unendliche viele Paralleluniversen, und alle Teilchen sind miteinander – auch kausal – verbunden. Quod erat demonstrandum: Barty geht bei Regen da, wo es keinen Regen gibt und wird nicht nass. Angel sieht interessante Farben und Wesen aus anderen Dimensionen. Und ihrer beider Tochter Mary kann sogar zwischen den Dimensionen wechseln: Now you see her, now you don’t.

Was bedeutet dies für die beiden Seiten? Für Junior rein gar nichts, denn er hat davon keinen Schimmer und lässt sich von Zedds Leitsprüchen ebenso irreleiten wie von seinem Aberglauben. Er wird immer wieder Opfer des „Zufalls“, denn er weigert sich – gemäß den Lehren Zedds – aus der Vergangenheit zu lernen. Für die Lampions und Whites hingegen ist die Entdeckung der Paralleldimensionen und der Fähigkeit, damit etwas anzustellen, ein zunächst beängstigendes Wunder, das sie aber in ihr Weltbild und ihren Glauben integrieren können. (Redet die Bibel nicht die ganze Zeit von Wundern?)

Unterm Strich

Zunächst erfordert „Der Geblendete“ eine Umgewöhnung bei den Koontz-Fans. Dieser Roman ist noch breiter angelegt als „Stimmen der Angst“ und beschäftigt sich noch intensiver mit den Fragen der Religion, der Scharlatanerie und der moralischen Wertung. Bei bibelfesten US-Lesern dürfte er damit offene Türen einrennen.

Auch der Schurke im Stück ist gewöhnungsbedürftig: einen derart teuflischen, amoralischen Schwachkopf wie Junior Cain hat man bei Koontz – und allgemein im Horrorgenre – noch nicht gesehen. (Vanadium lässt zu Cain ein paar erhellende Worte fallen.)

Zum anderen ist der Roman, genau wie ein realistischer Roman, eine Chronik der Epoche, in der seine Handlung spielt: die Zeit von 1965 bis 1968 war wohl eine der aufregendsten Phasen in der Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Als Abspann empfindet man dann die Weiterführung der Chronik bis ins Jahr 2000, vorgeführt anhand der Familie Lampion & Co.

Fans des traditionellen Koontz werden noch mehr Probleme mit diesem Roman haben, als dies schon mit „Stimmen der Angst“ der Fall war. Positiv denken: Dieser Autor entwickelt sich wenigstens weiter, im Gegensatz zu so manchem Kollegen. Und er verfügt über einen feinen, vielseitigen Humor – diesen bringt die Übersetzerin gut ins Deutsche (mal abgesehen von den vielen Druckfehlern).

What the Dickens?***

Direkt nach diesem Roman folgte „Bote der Nacht“/“One Door away from Heaven“. Zusammen mit „Der Geblendete“ und „Stimmen der Angst“ bildet dieses Buch ein Trio in Koontz‘ Spätwerk, das in seiner epischen Breite und seinem moralischen Engagement an Charles Dickens erinnert.

Taschenbuch: 887 Seiten
Originaltitel: From the corner of his eye, 2000
Aus dem US-Englischen übertragen von Waltraud Götting
ISBN-13: 9783453869950

www.heyne.de

***: Im Deutschen so viel wie: „Was zum Geier?“