Eric Van Lustbader – Der Ninja (Nicholas Linnear 01)

Ein eklatanter Fall von Zensur

Im New York des Jahres 1980 prallen zwei Kontinente und Kulturen aufeinander, als auf Long Island ein Ninja, ein japanischer Auftragskiller, eine Spur von Leichen zurücklässt. Nur Nicholas Linnear kann ihn aufhalten: Er ist aufgewachsen in Japan und in die Kunst und Kampfmethoden eines Samurai wie auch in die eines Ninja eingeführt. Er hat soeben in Justine Tomkin die Liebe seines Lebens gefunden. Als er dem Ninja in die Quere kommt, gerät Justine in Lebensgefahr …

Der Autor

Eric Van Lustbader, geboren 1946, ist der Autor zahlreicher Fernost-Thriller und Fantasyromane. Er lebt auf Long Island bei New York City und ist mit der SF- und Fantasylektorin Victoria Schochet verheiratet. Sein erster Roman „Sunset Warrior“ (1977) lässt sich als Science Fiction bezeichnen, doch gleich danach begann Lustbader (das „Van“ in seinem Namen ist ein Vorname, kein holländisches Adelsprädikat!), zur Fantasy umzuschwenken. Der Dai-San-Zyklus gehört dem Genre der Sword & Sorcery an und besteht aus folgenden Romanen:
Sunset Warrior (Ronin), Shallows of Night (Dolman), Dai-San; Beaneath an Opal Moon (Moichi); Beyond the Sea of Night (Der Drachensee).

1980 begann Lustbader mit großem Erfolg seine Martial-Arts & Spionage-Thriller in Fernost anzusiedeln, zunächst mit Nicholas Linnear als Hauptfigur, später mit Detective Lieutenant Lew Croaker: The Ninja; The Miko; White Ninja; The Kaisho usw. Zur China-Maroc-Sequenz gehören: Jian; Shan; Black Heart; French Kiss; Angel Eyes und Black Blade. Manche dieser Geschichten umfassen auch das Auftreten von Zauberkraft, was ihnen einen angemessenen Schuss Mystik beimengt.

Die Kundala-Trilogie ist Fantasy, mit SF-Elementen kombiniert: „Der Ring der Drachen“, „Das Tor der Tränen“ und „Der dunkle Orden“. Da diese Fantasy ebenfalls in einem orientalisch anmutenden Fantasyreich angesiedelt ist, kehrt der Autor zu seinen Wurzeln zurück, allerdings viel weiser und trickreicher. Kürzlich hat er noch einmal eine Wendung vollziehen und schreibt nun die Thriller seines verstorbenen Kollegen Robert-Ludlum fort, so etwa „Die Bourne-Verschwörung“.

Handlung

Nicholas Linnear hat die Schnauze voll: Er ist zwar erst sieben Monate bei der Werbeagentur seines Mentor Sam Goldmans, doch trotz seines Erfolges gibt ihm die Arbeit nicht das, was er sucht, Unrast erfüllt ihn. Auch die kurz danach angebotene Tätigkeit an einer Uni befriedigt ihn nicht. Er soll den Studenten als Fachmann etwas über den Fernen Osten erzählen, doch die professoralen Kollegen beleidigen und schneiden ihn. Ein Chinese hält ihn sogar für einen Malaiien, nur weil er angeblich aus Singapur stammt.

So ein Schwachsinn! Nick wurde in Singapur gezeugt, ist aber in Japan aufgewachsen, wo sein britischer Vater Colonel Denis Linnear in der Militärregierung der Alliierten arbeitete. Japan sollte wiederaufgebaut werden, um als Bollwerk gegen den Kommunismus zu dienen – ein Irrweg, wie der Colonel erkannte. Nicks Mutter Cheong ist eine Chinesin aus Singapur, die bei dessen Rückeroberung ihren ersten Gatten, einen Soldaten, verlor und davon sehr erschüttert wurde. 1963, nach dem Tod seiner Eltern in Tokio, kam Nick nach New York zu Sam Goldmans, einem alten Freund des Vaters. Sam sieht ihn ungern ziehen.

Während Nick nach seiner Bestimmung sucht, lernt er am Strand von Long Island, unweit seines Domizils (er ist Housesitter), eine junge Frau kennen. Sie nennt sich Justine Tobin, doch später erzählt man ihm, dass es sich um Justine Tomkin, die Tochter des bekannten Ölmilliardärs Raphael Tomkin, handelt. Doch sie hasst ihren Vater, der sie gängelt, ebenso wie ihre Schwester Gelda. Sie malt lieber, ein streunender Bohémien. Was Gelda treibt, weiß sie nicht.

Sie verlieben sich leidenschaftlich ineinander. Sie ist fasziniert von seinen körperlichen Fähigkeiten: Kampfsport, Kriegskunst, er hat sogar ein „daisho“: ein Lang- plus ein Kurzschwert, was nur echte Samurai tragen dürfen. Das Langschwert wird als „katana“ bezeichnet und dient dem kenjutsu, dem Schwertkampf. Mit dem Kurzschwert begeht der ehrenhafte Samurai seppuku, rituellen Selbstmord. Nick übt täglich drei Stunden Kenjutsu, um in Form zu bleiben. Aber wie wir im letzten Viertel erfahren, hat er noch einiges mehr drauf: Er ist selbst ein Ninja. (Der Titel ist somit doppeldeutig.)

Da wird er von einem Gerichtsmediziner namens Vincent Ito, den er schon lange kennt, als Experte zu einem seltsamen Fall hinzugezogen. Ein Mann namens Barry Braughm wurde auf äußerst merkwürdige Weise getötet. Man hielt ihn zunächst für ertrunken, weil man ihn im Meer fand, doch Itos Kollege Doc Deerforth hat ein tödliches Gift im Körper gefunden und einen Metallsplitter im Brustbein. Der Splitter gehört zu einem Wurfstern, einem „shaken“, wie ihn Ninjas verwenden. Nick ist erschüttert. Ein japanischer Auftragsmörder macht die Insel unsicher?

Kurz darauf geschieht ein zweiter Mord. Dass es ein Mord ist, erscheint ziemlich offensichtlich: Der Lastwagenfahrer Billy Shawtuck wurde von einer „katana“ in zwei Teile geschnitten – mit einem einzigen Schwerthieb, der vom Hals zur Hüfte geführt wurde. Nun ist Nick auf der Hut, doch warnt er Justine nicht. Aber als ein schwarzes mit Blut gefülltes Fell mitten in der Nacht durch sein Fenster geworfen wird, kann er die Bedrohung nicht mehr vor ihr verbergen: Es ist eine Ninja-Botschaft. Hat der kommende Angriff etwas mit seiner japanischen Vergangenheit zu tun?

Mein Eindruck

Der Mega-Erfolg dieses Bestsellers löste eine Flut von Nachahmern und Trittbrettfahrern aus, und zwar nicht nur im literarischen Genre, sondern auch in Film, Video und auf dem gerade entstehenden Markt für Computerspiele. Die Attraktivität von fernöstlichen Kampfsportarten hatte Bruce Lee ausgenutzt, ebenso David Carradine in der TV-Serie „Kung Fu“ (im Part, den eigentlich Lee spielen wollte). Also war das Feld bereitet für den Auftritt von Nicholas Linnear und seinem Gegner, dem schwarzen Ninja.

Doch dieser Roman war selbst ein Wegbereiter für geringere Talente wie etwa Marc Olden („Giri“) und als solcher musste er eine ganze Welt neu erstehen lassen, um sie dem Leser des Jahres 1980 als fremdes Universum präsentieren zu können: Japan und das ganze restliche Südostasien. Der Anlass war aktuell, denn die Japaner schickten sich an, die ersten Firmen in den USA entweder zu übernehmen oder zu überflügeln. Toyotas und Hondas fuhren allenthalben schon auf amerikanischen Highways, und in Bruce Willis’ „Stirb langsam“ bauen die Japaner bereits Firmenzentralen an der Westküste.

Der reale Wirtschaftskampf zwischen Ost und West spiegelt sich im Roman selbstverständlich wider: Raphael Tomkin, der Nicks Arbeitgeber wird, steht für das Erbe der amerikanischen Fremdherrschaft über das 1945 besiegte Japan. Und der Ninja ist der Abgesandte von nie namentlich genannten japanischen Wirtschaftsbossen, die offensichtlich von Tomkin ausgebootet wurden, wie der Milliardär sich gegenüber Linnear brüstet.

Doch in Japan ist Wirtschaft gleichbedeutend mit Krieg, ganz besonders dann, wenn sich die Wirtschaftsbosse als moderne Samurai verstehen, die erst dann Ruhe geben, wenn der Gegner besiegt ist. Und Tomkin hat sich mit einem besonders reaktionären „zaibatsu“ angelegt, einem Konzern, der Verbindung zu allen Arten von Kampfsportschulen (ryus) hat. Dieser uralte „zaibatsu“ war zum Beispiel für den Überfall auf Pearl Harbor verantwortlich. Der Auftritt des Ninja in New York ist nichts anderes eine Wiederholung jenes verheerenden Angriffs.

Die Kontrahenten 1: Nicholas Linnear

Ein Thriller ist nichts ohne die Kontrahenten und ihre Fähigkeiten, die sie schließlich zum finalen Showdown führen. Zunächst werden wir im Unklaren gelassen, wie gut Nick wirklich ist. Er kann Kenjutsu (Schwertkampf, auch mit Holzschwertern) und die Kunst aus drei ryus (Schulen). Im ersten kenjutsu-ryu traf er auf seinen jetzigen Gegner, doch schon im zweiten ryu trennten sich ihre Wege. Hier lernte Nicholas „haragei“, die Kunst, den Gegner mit einem erweiterten sechsten Sinn wahrzunehmen und ihn mit Griffen und Tritten außer Gefecht zu setzen.

Doch um in die dritte ryu eintreten zu wollen, musste sich Nicks Leben dramatisch verändern. Nachdem sein Jugendbegleiter und Cousin Saigo von der Bildfläche verschwunden war (um sich jenem „zaibatsu“ anzuschließen und ein Ninja zu werden), verliebte sich Nick in die schöne Yukio. Sie ist die Pflegetochter seiner Tante Itami und ihres Mannes Satsugai. Itami ist die Schwester von Cheongs erstem Gatten, und Cheong ist Nicks Mutter. Itami „Tante“ zu nennen, ist also zunächst nur eine notwendige Ehrenbezeigung statt ein Zeichen für Blutsverwandtschaft. Doch Itami fördert Nick, den Ausländer, den gaijin, auf außergewöhnliche Weise und konterkariert damit die Pläne ihres Mannes, der Saigo unterstützt. Diese Beziehungen werden bis in feinste Verästelungen erklärt, was die japanische Kultur von innen heraus verständlich macht.

Nick ist nicht nur von Yukios Schönheit verzaubert, sondern noch viel mehr von ihrer Sexbesessenheit. Sie vögelt ihn beinahe um den Verstand, und hätte er nicht eine so disziplinierte Ausbildung erhalten, so wäre der 17-Jährige ihr völlig verfallen. Aber so ist er zwiegespalten: Er liebt sie, fühlt sich aber von ihrem Nihilismus und ihrer Nymphomanie abgestoßen. Dieser Konflikt kulminiert während einer schicksalhaften Eisenbahnreise in den äußersten Süden Japans: Hier sollen sie Saigo besuchen, der sie eingeladen hat. Saigo ist Yukios Ex-Liebhaber, erfährt Nick zu seinem Entsetzen, und wie sich herausstellt, hat Yukio Saigos Ninja-Methoden nichts entgegenzusetzen. Sie wird seine willenlose Sklavin. Und da Nick noch über keine Ninja-Ausbildung verfügt, wird er von Saigo überwältigt – und ebenfalls vergewaltigt. Danach ist klar, welche Ausbildung Nick noch benötigt. Aber wird sie genügen?

Die Kontrahenten 2: der Ninja

Die meisten Leute stellen sich einen Ninja als einen schwarz gewandeten Schwertkämpfer vor, der dann auch noch auf theatralische Weise Wurfsterne einsetzt. Das ist auch für unseren Ninja zutreffend, aber noch nicht mal ein Zehntel dessen, was im Roman über ihn enthüllt wird. Die Ninja entstanden im frühen Mittelalter und wurden von den Samurai jahrhundertelang für die Drecksarbeit eingesetzt, die ihnen die Ehre und der Codex des „bushido“ verboten. Folglich entwickelten die Ninja-Schulen jede Menge Techniken, die nicht an den Samuraischulen gelehrt wurden und folglich verpönt waren.

Dazu gehört beispielsweise die Giftmischerei. Wie Nicks Freunde zu ihrem Leidwesen erfahren müssen, ist das – mitunter auch gasförmige – Gift in der Lage, ihre Nerven dergestalt zu lähmen, dass sie zwar den Ninja kommen sehen, aber keinen Muskel mehr rühren können, um sich gegen den tödlichen Zugriff zu wehren …

Eine weitere Technik, die der Ninja Saigo einsetzt, ist Hypnose. Anders als im Westen ständig abgewiegelt wird, wirkt diese Hypnose auch gegen den Willen des Opfers. Yukio wird eines ihrer Opfer. Sie sagt, Saigo benutze zudem auch Magie: „kobudera“. Und als Nick seinem Gegner in Südjapan folgt, ist dieser spurlos verschwunden, als habe es ihn nie gegeben. Als auch Justine dem Ninja in die Hände fällt, da muss es wohl „Magie“ sein, die dieser einsetzt, um einen besonders perfiden Plan gegen seinen Feind ins Werk zu setzen.

Denn was Nick sich nicht einzugestehen wagt und wovor er sich insgeheim fürchtet: Der Ninja hat es nicht nur auf Tomkin abgesehen. Dieser gehört zum geschäftlichen Teil seines „Besuchs“. Nein, diese Mission ist auch höchstpersönlich Nicholas Linnear gewidmet. Denn Saigo hat immer noch eine Rechnung mit Nick offen. Und Nick mit Saigo. Sein Vorteil: Saigo ahnt nichts von seiner eigenen Ausbildung zum Ninja.

Das Finale – nur eines?

Das Aufeinandertreffen ist unausweichlich. Die historische Dimension wurde bereits angedeutet. In Nick selbst findet der Konflikt zwischen dem modernen Amerikaner und dem traditionsbewussten Japaner statt. Durch den ganzen Roman hindurch wechseln sich die historischen Kapitel mit denen der Gegenwart ab. Erst als wir Nick zur Gänze kennen gelernt und über das tragische Ende seines Lebens in Japan im Jahr 1963 Bescheid wissen, können wir begreifen, welcher Wandel im Nick des Jahres 1980 vor sich gehen muss, bevor er sich dem Ninja stellen kann. Die Opfer, die dieser Gegner zuvor fordert, verpflichten Nick zur Vergeltung. Nur so kann er sein „Karma“ erfüllen. Oder er verliert seine Ehre und verlässt den „Weg des Kriegers“, den Codex des „Bushido“. Täte er dies, müsste er „seppuku“ begehen.

In raffinierter Weise ist das Finale ein dreifaches. Aber ich darf nicht mehr verraten, ohne die Spannung zu zerstören. Nick findet jedoch in dem New Yorker Polizisten Lew Croaker einen couragierten Partner, der ihm mehr als einmal zur Seite steht und der sich selbst zu einem „runden Charakter“ innerhalb des Buch entwickelt.

Croaker will nicht nur Tomkin wegen Mordes an einem Model vernichten, er verliebt sich auch in dessen Tochter Gelda, die eine weitere, wichtige Nebenfigur ist, durch die indirekt Raphael Tomkin als das sichtbar wird, was er ist: ein inzestuöser Kinderschänder, Ausbeuter, Tyrann usw. Natürlich überrascht es uns in keiner Weise, als er mit dem Ninja einen Deal abschließen will, um sich gegen Nick abzusichern, sollte dieser weitergehende Ambitionen haben (und um einen potenziellen Schwiegersohn loszuwerden). Vom ehrenhaften Weg des Kriegers hat dieser Mann keine Ahnung.

Durch diese Helfer und Verräter ist das Endspiel also völlig offen. Genau so muss es sein, um höchste Spannung zu erlauben. Doch es kann Nick passieren, dass er zwar den Endkampf gewinnt, aber dabei das Kostbarste verliert, was er bislang errungen hat: Justine selbst.

Die Übersetzung

Hier wurde Zensur geübt. Obwohl der Klappentext den Roman als „erotischen Thriller“ anpreist, so ist doch seltsamerweise von Erotik keine Spur zu finden. Das ist im Original aber ganz anders. Ein direkter Vergleich offenbart, dass der Übersetzer gleichzeitig als Zensor am Text wütete. Schon auf Seite 38 geht es damit los: Wo der Absatz mit „sie stöhnte abermals, hob sich ihm entgegen“ endet, geht das Original noch zwei lange Absätze weiter – mit einer Sexszene, die man sich expliziter kaum wünschen kann. Dennoch ist sie – im Original – geschmackvoll ausgeführt. Dieses hässliche Spiel wiederholt sich gleich nochmal auf Seite 40, als Justine ihrem Nick einen bläst, aber in der Übersetzung kein Wort davon zu lesen ist.

Doch die hier geübte Zensur gründet sich nicht nur auf die Schamhaftigkeit des Jahres 1981, als vielleicht strengere Vorschriften hinsichtlich der freizügigen Darstellung von Sex in Büchern herrschten (aber die „Emmanuelle“-Romane gab es ja auch ohne weiteres zu kaufen!). Die Zensur gründet sich auch auf eine allgemeine Kürzung des Textes. Dass dem so ist, zeigt das Fehlen eines Satzes auf Seite 42. Da beschreibt der Autor Nicks Blick durch den Dschungel eines Aquariums wie den eines „Primitiven auf eine eindringende Memsahib“. Dieser wunderschöne und aufschlussreiche Vergleich fehlt in der deutschen Version, die umso banaler klingt: „Nick betrachtete Justines Umrisse durch das Glas und das Wasser hindurch.“

Wusste der Übersetzer nicht, was eine „Memsahib“ ist – eine Angehörige der Kaste der Kolonialherren? Nein, denn es gibt noch viele weitere Kürzungen in kleinerem und größerem Ausmaß, die insgesamt den Text wohl um ein Zehntel schrumpfen. Nur so lässt sich erklären, dass das Original in seiner klein gedruckten Schrift 526 Seiten umfasst, in der größer gedruckten deutschen Ausgabe aber nur 472 Seiten! Also fünfzig Seiten weniger, obwohl doch die Erfahrung zeigt, dass die deutsche Version in der Regel um ein Fünftel bis ein Drittel länger ist als eine englischsprachige Vorlage.

Dem Leser sei daher eindringlich zur Lektüre des Originals geraten. Es verfügt sowohl über die lyrische Sprache, die sich an japanischen Haikus orientiert, wie auch über die erotische Komponente, die als ganz wesentlicher Faktor die japanische und die amerikanische Kultur, das menschliche Miteinander charakterisiert. Sie bildet das emotionale Gegengewicht zum Element des Kampfes. In der Übersetzung erscheint der Kampf als Selbstzweck, den Nick aufgrund der Ehre austragen muss. Im Original rächt sich Nick auch an dem Mann, der ihn vor siebzehn Jahren vergewaltigt und ihm seine Geliebte genommen hat.

Diese wichtige Szene sollte eigentlich auf Seite 358-359 deutlich beschrieben sein. Ein Vergleich zeigt, dass der deutsche Leser sich nur mit angestrengter Vorstellungskraft ausmalen kann, was der Zensor gestrichen hat. Auch Cheongs blutiges Ende auf Seite 378 ist entsprechend schamhaft gekürzt. Wen wundert’s.

Unterm Strich

Die deutsche Übersetzung dieses Martial-Arts-Klassikers bedeutet nicht nur eine Verstümmelung des zensierten Textes, sondern auch eine Entmündigung des Lesers. Der stellenweise lyrische Ton und die psychologischen Feinheiten werden uns ebenso vorenthalten wie die gewagte sexuelle Dimension der Handlung, die ein Gegengewicht zur Gewalt zwischen Ninja (= altes Japan) und Amerikanern, insbesondere Nicholas bildet. Nur so wird sichtbar, dass Nicholas die Vereinigung der besten Traditionen Japans und des dynamischen Amerika darstellt.

Der Roman delektiert sich somit nicht an der vordergründigen Konfrontation, sondern zeigt in Nicholas eine historisch begründete Synthese aus westlichen und fernöstlichen Traditionen und Sichtweisen, um eben diese Konfrontation zwischen Ost und West zu überwinden. Inzwischen sind wir ein Vierteljahrhundert später zur Einsicht gelangt, dass wir viel von Japan lernen können (z. B. „kaizen“) und dass wir noch viel mehr lernen müssen, wenn wir uns mit China beschäftigen. Da aber die japanische Kultur direkt von der chinesischen abstammt, wäre es nicht verkehrt, sich mit beiden zu beschäftigen.

Die vorliegende Übersetzung tut wenig, um diese Auseinandersetzung auf eine Weise zu ermöglichen, die dem Text angemessen ist. Vielmehr tut sie alles, um den Text einzudampfen und einseitig auf Konfrontation zu trimmen. Höchste Zeit, dass dem entmündigten deutschen Lesepublikum nicht länger der unzensierte Originaltext dieses großartigen Thrillers vorenthalten wird.

Broschiert: 473 Seiten
Originaltitel: The Ninja, 1980
Besprochene Auflage: 2001

Aus dem US-Englischen übertragen von Juscha Zoeller
www.heyne.de