Eric Van Lustbader – Der Kaisho. Ein Nicholas Linnear Thriller

Fernost-Thriller: Das Geheimnis des 6. Tores

Der versteckt lebende Mafiaboss Dominic Goldoni fällt einem bizarren Ritualmord zum Opfer. Diese Tat zeitigt wie ein Erdbeben weitreichende Folgen bei allen, die sie betrifft. Dominics Schwester Margarite, von ihm in die Geheimnisse der Familiengeschäfte eingeweiht, führt Dominics Herrschaft weiter. Dominics wichtigster Verbündeter in Asien, ein Mann namens Mikio Okami, sieht sich unvermittelt als nächstes Opfer. Okami ist der mächtige Boss aller Yakuza-Bosse. Doch wer ist der Auftraggeber des Killers? Okami fordert vom Sohn seines einst wichtigsten Freundes in Japan eine Ehrenschuld ein – von Nicholas Linnear, dem Weißen Ninja.

Der Autor

Eric Van Lustbader, geboren 1946, ist der Autor zahlreicher Fernost-Thriller und Fantasyromane. Er lebt auf Long Island bei New York City und ist mit der SF- und Fantasylektorin Victoria Schochet verheiratet. Sein erster Roman „Sunset Warrior“ (1977) lässt sich als Science-Fiction bezeichnen, doch gleich danach begann Lustbader (das „Van“ in seinem Namen ist ein Vorname, kein holländisches Adelsprädikat!), zur Fantasy umzuschwenken. Der Dai-San-Zyklus gehört dem Genre der |Sword & Sorcery| an und besteht aus folgenden Romanen:

Sunset Warrior (Ronin); Shallows of Night (Dolman); Dai-San; Beaneath an Opal Moon (Moichi); Beyond the Sea of Night (Der Drachensee).

1980 begann Lustbader mit großem Erfolg seine Martial-Arts-&-Spionage-Thriller in Fernost anzusiedeln, zunächst mit Nicholas Linnear als Hauptfigur, später mit Detective Lieutenant Lew Croaker: The Ninja; The Miko; White Ninja; The Kaisho usw. Zur China-Maroc-Sequenz gehören: Jian; Shan; Black Heart; French Kiss; Angel Eyes und Black Blade. Manche dieser Geschichten umfassen auch das Auftreten von Zauberkraft, was ihnen einen angemessenen Schuss Mystik beimengt.

Ab 2003 erschien bei uns die Kundala-Trilogie: „Der Ring der Drachen“, „Das Tor der Tränen“ und „Der dunkle Orden“. Da diese Fantasy ebenfalls in einem orientalisch anmutenden Fantasyreich angesiedelt ist, kehrt der Autor zu seinen Wurzeln zurück, allerdings viel weiser und trickreicher. Kürzlich hat er noch einmal eine Wendung vollzogen und schreibt nun die Thriller seines verstorbenen Kollegen Robert Ludlum fort, so etwa „Die Bourne-Verschwörung“. Zuletzt erschien 2007 der Mystery-Thriller [„Testamentum“ 3967 in der Art von Dan Browns „The Da Vinci Code“.

Der Kaisho“ bildet den Auftakt zu den Romanen „Okami“ und „Schwarzer Clan„, die alle bei |Heyne| erschienen sind.

Eric Van Lustbader auf Buchwurm.info:

[„Testamentum“
[„Der Ring der Drachen“
[„Der dunkle Orden“
[„Der Ninja“
[„Der Weiße Ninja“
[„Schwarzes Schwert“
[„Drachensee“
Und viele mehr.

Handlung

Minnesota

Auf seinen Einsatzbefehl hin dringt der Killer in die sorgfältig gesicherte Villa von Margarite Goldoni De Camillo ein. Nachdem er drei Leichen zurückgelassen hat, sperrt er Margarites Mann Tony DeCamillo gefesselt in einen Schrank ein, stellt etwas mit Margarites geliebter Tochter Francine an und nähert sich dann erst seinem eigentlichen Opfer. Margarite räkelt sich gerade im Schaumbad, als er sie überrascht und überwältigt.

Nach einer ganzen Weile des Streitens erst erkennt Margarite die Tatsache an, dass der Killer die Oberhand hat. Er nennt sich „Robert“ und scheint asiatischer Herkunft zu sein. Er hat Francine, ihre geliebte Tochter, betäubt und an den Füßen an der Zimmerdecke aufgehängt. Der Schock lässt Margarite fast ohnmächtig werden. Dann tut sie, was Robert von ihr verlangt hat: Sie ruft ihren Bruder Dominic an, der im Rahmen eines FBI-Zeugenschutzprogramms versteckt in Minnesota lebt. Sie weiß, dass es eine tödliche Falle ist, in den sie ihn ruft, aber wenn sie die Wahl zwischen Dominic und Francine hat …

Ein FBI-Agent namens Will Lillehammer kontaktiert den Ex-Polizisten Lew Croaker (bestens bekannt aus „Der Ninja“), der Erfahrung mit asiatischen Killern hat. Denn sein Freund Nicholas Linnear hat ihm einiges von solchen Leuten erzählt und gezeigt. Als sie beide einen Ninja jagten, bekam Croaker selbst einen Eindruck von asiatischer Magie in Aktion.

Croaker akzeptiert das Angebot Lilllehammers und betritt wenig später einen grausigen Tatort. Dominic Goldoni wurde das Herz herausgeschnitten und am Nabel wieder angenäht. Alle seine Knöchel an Händen und Füßen sind um 180 Grad gedreht. Offensichtlich ein bizarrer Ritualmord. Wer würde so etwas Irres tun, fragt sich Croaker. Dann finden er und Lillehammer im Haus eine weitere Leiche…

Venedig

Nicholas Linnear, einer der zwei Geschäftsführer des amerikanisch-japanischen Elektronikkonzerns Sato Tomkin Industries, bekommt einen dringenden Anruf aus Venedig. Es ist die Einforderung einer Ehrenschuld, die sein Vater Colonel Dennis Linnear nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan einging. Mikio Okami, so weiß Nick, gehört der Unterweltorganisation der Yakuza an, doch welche Rolle er genau spielt, weiß er nicht, bis er Okami in Venedig trifft und dieser es ihm sagt: Okami ist der Boss der Bosse der Yakuza, der Kaisho.

Nick ist kein Freund der Unterwelt und fragt sich daher, warum er Okami helfen sollte, selbst wenn „giri“ die Einlösung der Ehrenschuld fordert. Okami sagt ihm erst einmal den Grund seines Hilferufs. Es ist die Ermordung Dominic Goldonis, der sein Freund und Verbündeter war. Nach der Ermordung weiterer Verbündeter in Japans Unterwelt durch seine ehemaligen Verbündeten, die „godaishu“, sieht sich Okami einem Vernichtungsfeldzug ausgesetzt, der seinen eigenen Tod zum Ziel hat. Jemand soll ihn also in naher Zukunft ausschalten.

Deshalb braucht er Nicks Schutz, denn er weiß, dass Nick in Schwertkampf und vielen asiatischen Kampftechniken ausgebildet ist. Außerdem verfüge Nick, der aus einer alten Linie von chinesischen Schamanen stammt, über gewisse, äh, esoterische Fähigkeiten. Nick ahnt, dass Okami von seiner Erfahrung mit einer übersinnlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit spricht. Doch Okami hält sich versteckt und Nick gelangt nur durch die Vermittlung einer geheimnisvollen Frau zum Unterweltboss. Als er sie trifft, trägt sie eine Maske – und er gibt sich selbst in einer Maske als der Gesuchte zu erkennen. Celeste ist eine Frau mit vielen Talenten. Unter anderem verfügt auch sie selbst über empathische Fähigkeiten und wird Nick damit aus der Patsche helfen.

Wenig später bemerkt Nick, dass er und Celeste verfolgt werden – von einem sehr gefährlichen Mann. Ist es der Killer Dominic Goldonis?

New York / Washington, D.C.

Unterdessen sieht sich der nordamerikanische Geschäftsführer von Sato Tomkin Industries, Harley Gaunt, einem politischen Angriff seitens eines nationalistischen Senators ausgesetzt. Senator Rance Bane gemahnt ihn an Senator Joseph McCarthy, und wie dieser ist er bestrebt, „unamerikanische“ Firmen zu eliminieren. Im Fall von Sato Tomkin zielt er auf die Verstrickung der Japaner in die Aktivitäten eines amerikanischen Unternehmens ab, das über modernes Computer-Knowhow, den Hive-Computer, verfügt. Was, wenn die Japaner den Hive-Computer selbst bauen wollen? Dann würden sie amerikanisches geistiges Eigentum stehlen, das der Regierung gehört.

Rance Bane lässt Gaunt ebenso vor einen Senatsausschuss vorladen wie dessen Chef Nicholas Linnear. Doch wo ist Linnear abgeblieben? Harry Gaunt wüsste es selbst nur allzu gerne, denn er sieht seine Felle davonschwimmen. Nur Nick kann noch seine Firma retten. Doch Nick ist mit anderen Aufgaben vollauf beschäftigt. Zum Beispiel mit der, am Leben zu bleiben und das seines Schützlings Okami zu erhalten.

Als Harley Gaunt den letzten Strohhalm sucht, der ihn und seine Firma vor dem Untergang bewahrt, lernt er Renata Loti kennen, eine etwa sechzigjährige Lobbyistin, die mit allen Wassern gewaschen zu sein scheint und ihn vor einem sehr gefährlichen Mann warnt, der für das FBI und eine dunkle Organisation arbeitet, die sich „Alices Spiegel“ nennt. Sein Name: Will Lillehammer …

Mein Eindruck

„Der Kaisho“ ist, was die Serienfigur Nicholas Linnear angeht, die direkte Fortsetzung zu „Der Weiße Ninja“. Ich kann daher jedem Leser nur empfehlen, sich mit der dortigen Transformation Nicks von einem unerschrockenen Krieger zu einem Zweifler und esoterischen Schamanen vertraut zu machen. Nun verfügt Nick zwar immer noch über die Kampfkunst eines Ninja und wird sie auch mehrmals während der Handlung einsetzen, doch mit seiner psychischen Kraft, die ja ebenso wichtig ist, ist es nicht weit her. Sein letzter Lehrmeister Kansatsu hat ihn nämlich von A bis Z betrogen und ihm die falschen psychischen Tricks beigebracht. Nun beginnt Nick in der Konfrontation mit Do Duc „Robert“ Fujiru, dem Mörder Dominic Goldonis, zu entdecken, dass er einen falschen Ausgangspunkt hat – und somit eine schwächere Position als Do Duc.

Der Killer

Do Duc hat Ähnlichkeit mit dem wahnsinnigen Killer in „Schwarzes Herz„, besonders durch das Setting seiner Herkunft in Vietnam ab 1965. In diesem Jahr ist Do Duc erst zwölf Jahre alt und tötet seinen „Wohltäter“, einen Franzosen, weil er glaubt, der habe Do Ducs Mutter prostituiert. Danach hat Do Duc keinen anderen Ort, wohin er gehen kann, als den Urwald. Im Dschungel begibt er sich zu den Nung und wird von deren Schamanen Ao in der Nung-Naturmagie ausgebildet. So wird Do Duc zu einem Messulethe, einem Schamanen, der über die gleichen psychischen Kräfte verfügt wie Nicholas Linnear.

Doch Do Duc hat mehrere schwere Verbrechen gegen die Tabus der Nung begangen. Er hat nicht nur seinen Lehrmeister Ao getötet, sondern auch dessen letztes Geheimnis an sich gerissen, das eigentlich niemand wissen darf. Do Duc hat sich zwischen die Menschen und die Götter gestellt und das verbotene sechste Tor auf dem Weg zum Nirwana durchschritten. Nun verfügt er über schier übermenschliche psychische Kraft, deren Reservoir er immer wieder auflädt, indem er das Ritual des sechsten Tores ausführt. Dies hat er mit der zweiten Leiche in Goldonis Haus gemacht. Und er hat vor, es an Nicholas Linnear ausführlich zu zelebrieren. Doch er hat die Rechnung ohne Margarite und Celeste gemacht.

Die Goldonis

Margarite ist eine wunderbare Schöpfung des Autors. Eine geborene Goldoni-Mafiaprinzessin, hat sie sich vom erstbesten „Ritter in schimmernder Rüstung“ verführen und heiraten lassen: Tony DeCamillo. Ein echter Macho-Sizilianer, der von ihr im Grunde nur eines will: Söhne. Sie hat ein Martyrium hinter sich, weil sie ihm nur eine Tochter und zwei Fehlgeburten beschert hat, als sie Robert, dem Killer begegnet. Da merkt sie, dass sie zu wesentlich mehr fähig ist, als Tonys Prügel zu ertragen.

Und als dann auch noch Lew Croaker ihr sein Verständnis und seine Bewunderung auf seine spezielle Weise zeigt und beweist, ist sie hingerissen von diesem Robert-Mitchum-Typ. Lew Croaker, mit seiner feingliedrigen mechanischen Hand, weiß auch mit Francines psychischem Problem, das sie zur Bulimikerin hat werden lassen, gut umzugehen. Margarite ist endlich in der Lage, sich von Tony DeCamillo abzunabeln und ihrer Bestimmung gemäß zu leben: als Mafiakönigin, als Nachfolgerin ihres Bruders Dominic.

Die Leonfortes

Doch die Leonfortes sägen bereits an Margarites Thron. Eine generationenlange Vendetta steht kurz vor ihrem Höhepunkt. Diesen Höhepunkt schildert der dritte Band der Okami-Trilogie „Schwarzer Clan“. Und dann wird auch erklärt, woher diese Vendetta rührt. Die Leonfortes, das sind Caesare und Frank an der Westküste, das ist bzw. war Johnny Leonforte in Japan (und noch woanders, aber das darf nicht verraten werden).

Und schließlich ist da noch Michael Leonforte, der intellektuellste und durchgeknallteste von allen. Denn Mick hat sich wie weiland Colonel Kurtz in „Apocalypse Now“ in den Dschungel abgeseilt, um mit den Nung einen Pakt einzugehen – er wird ebenfalls Messulethe – und gemeinsam mit Do Duc und dem Amerikaner Rock ein Drogenimperium aufzubauen. Dessen Zentrum, „Floating“ City“, bildet den Hauptschauplatz in dem Mittelband „Okami“. Wenn Mick Leonforte und Nicholas Linnear aufeinandertreffen, brennt buchstäblich die Luft. Der Entscheidungskampf zwischen den beiden Schamanen findet im dritten Teil der Trilogie, „Schwarzer Clan“, statt.

Es gibt, wie immer bei Lustbader, einige Joker im Spiel. Einer davon ist Mikio Okami selbst, aber auch die rätselhafte Celeste (deren Nachnamen wir lange Zeit nicht erfahren, aber wir können ihn uns bald denken) und schließlich Will Lillehammer. Dieser Vietnamveteran gehört der Geheimorganisation „Alices Spiegel“ an, die in Vietnam im Auftrag der amerikanischen Geheimdienste Drogen besorgte, und zwar im Hinterland Vietnams, im Goldenen Dreieck Burma – Thailand – Kambodscha/Laos. Außerdem werden massenhaft Waffen geschmuggelt. Lillehammers Codename war, wie angemessen, „Der verrückte Hutmacher“. Doch wer leitet die Geheimorganisation, die auch Politiker wie Senator Rance kontrolliert? Es ist die Schwarze Dame. Und bis zum Schluss wird nicht klar, wer sich hinter diesem Decknamen verbirgt. Denn derjenige welche ist eigentlich schon vierzig Jahre tot …

Rückblenden

Wie bei Lustbader üblich, erklären mehrere Rückblenden die Entstehung der Beziehungen zwischen den aktuellen Figuren. So hat etwa Lillehammer auch Do Duc kennengelernt, und zwar auf die unangenehmste Weise – in der Folter. Seine Peiniger, angeführt von Mick Leonforte, ließen ihn frei, um seinen Dienstherren als Warnung zu dienen, sie keinesfalls zu verfolgen. Jetzt ist Lillehammer natürlich sehr daran gelegen, sich an Do Duc zu rächen. Doch weil dieser ihn sofort erkennen würde, braucht Lillehammer einen Stellvertreter: Lew Croaker ist ideal dafür geeignet. Und um die Beute zu fangen, braucht man einen Köder: Margarite. Von hier ab wird es für alle Beteiligten ziemlich brenzlig …

Die Rückblenden erklären auch die Beziehung zwischen Mikio Okami, dem jungen Yakuza, und dem amerikanisch-britischen Colonel Linnear, die im Jahre 1947 zustande kommt. In den folgenden zwei Romanen wird diese Phase noch weiter ausgebaut und illustriert, so dass der Leser ein vollständiges Bild erhält. Es vervollständigt die Linnear-Rückblenden aus den Romanen „Der Ninja“, „Die Miko“ und „Der Weiße Ninja“.

Dass sich die amerikanischen Besatzer 1947 mit der japanischen Unterwelt wie auch mit den Kriegsverbrechern zusammentaten, mag den rechtschaffenen Zeitgenossen heute erstaunen. Beide Gruppen sollten den kommunistischen Feind in und um Japan herum bekämpfen. Dafür gingen die Amis einen Teufelspakt ein. Dass die Kriegsverbrecher davonkommen sollten, empörte Mikio Okami. Um dies zu verhindern, verbündete er sich mit Colonel Linnear, der mit Umsicht und Bedachtsamkeit die Machenschaften des Besatzungsgenerals Willoughby aufdeckte und zerschlug. Gleichzeitig verhalf er Okami zum Aufstieg unter den Yakuza und kontrollierte so die wildgewordenen Yakuza, die die „fremden Teufel“ hassten. Eigentlich ein geniales Bündnis.

Als die fünf kontrollierten Yakuza-Clans nun 1992 den Bund mit Okami aufkündigen, wenden sich die „godaishu“-Clans nicht nur gegen Okami, sondern auch gegen den Sohn des verhassten Colonels Linnear. Beide müssen sterben, um die alte Schande zu tilgen. Daher bleibt es bis zur letzten Seite spannend. Weil alle fünf ausgeschaltet werden müssen, bleibt dieser Handlungsstrang bis „Schwarzer Clan“ relevant.

Maskenspiele

Besonders gut gefiel mir das Spiel mit den Masken. (Eine Maske ziert passenderweise auch das Titelbild.) Obwohl es ein alter Theatertrick in der Komödie ist, setzt der Autor das Motiv effektvoll für seinen Thriller ein. Als sich Celeste und Nicholas erstmals begegnen, dienen ihnen die jeweils getragenen Masken als Erkennungszeichen. Besonders über venezianische Masken seit dem 15. und 16. Jahrhundert erfahren die beiden (und der Leser) sehr viel. Denn alle diese Masken sind vom Hersteller signiert. Die Spur führt zu der Firma „Avalon Ltd.“ in Paris. Sie entpuppt sich als etwas ganz anderes als erwartet: eine Tarnfirma Mick Leonfortes.

Dass sich auch der Killer Do Duc maskieren würde, hätte Nick eigentlich erwarten sollen, doch er wird überlistet, weil er dem Anschein traut, und zwar gleich zweimal. Später erinnert die Beziehung Do Ducs zu Nick an John Woos Film „Face / Off“ (mit John Travolta und Nicholas Cage). Der eine trägt des anderen Maske. Der halb betäubte Nick wird durch sein Antlitz, das ein anderer trägt, völlig desorientiert, und Do Duc macht sich durchs Tragen von Nicks „Gesicht“ bereits einen Teil seines Feindes zueigen. Der seelische Rest soll als nächstes folgen, und vielleicht sogar ein Häppchen Fleisch oder zwei. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Do Duc zu einem kannibalistischen Akt hinreißen ließe.

Die Übersetzung

Mehrfach habe ich mich über die vielen Druckfehler im Text geärgert. Die kleinen Fehler führe ich hier nicht auf, denn man findet sie in fast jeder Taschenbuchübersetzung. Die dickeren Brummer sollen aber nicht unerwähnt bleiben.

Auf Seite 125 steht der seltsame Satz: „‚Sure‘, sagte er und gebrauchte einen sehr wenigen Amerikanismen.“ Statt „sehr“ muss es wohl „seiner“ heißen. Streichungen und Kürzungen in Sätzen führen zu weiteren Desastern. Auf Seite 380 fehlt etwas in der Phrase „geheimes militärisches High-Material“. Ich vermute, dass das Wörtchen „Tech“ gestrichen wurde. Also müsste es richtig „High-Tech-Material“ heißen.

Auf Seite 439 fehlt wieder ein Wort. „Ihre dunkelblauen Augen hatten manchmal die unheimliche Fähigkeit, den Farbton der Umgebung; im Moment … “ Offenbar fehlt das Wort „anzunehmen“, damit ein vollständiger Satz daraus wird.

Ebenfalls ein Opfer der Kürzungen ist der Satz auf Seite 520 „… Ahnung, dass er Margarite brauchte wie die Luft zum |Atem.“ Richtig muss es „Atmen“ heißen, aber das waren dem Korrektor wohl zu viele Buchstaben.

Die stilistische Krönung aller Flüchtigkeitsfehler findet sich schließlich auf Seite 512, denn da steht der schöne Satz: „Seinen wirklichen Familiennamen kennt nur |die| liebe Gott.“ Na, wir wissen, wie es richtig heißen sollte, schließlich ist hier nicht die Rede von Alanis Morrissette…

Unterm Strich

„Der Kaisho“ mag zwar ein sehr dicker Band sein, doch er legt die Fundamente für die restlichen beiden Bände, die etwas dünner sind (auch wenn der |Heyne|-Verlag durch Schriftgröße und Papierdicke dafür gesorgt hat, dass sie eine ähnliche Seitenzahl aufweisen). „Okami“ hat bei gleichem Schriftbild wie „Kaisho“ nur 522 Seiten, „Schwarzer Clan“ bei schmalerem Druckspiegel dann wieder 650 Seiten. Niemand sollte sich daher von der Lektüre abschrecken lassen.

Alle Fäden, die hier gesponnen werden, werden entweder hier zu Ende gebracht – etwa Do Duc – oder in den nächsten zwei Bänden wieder aufgegriffen und weitergesponnen. Die Vendetta zwischen Goldonis und Leonfortes, die Feindschaft zwischen Yakuza, Mafia und Linnear/Nangi/Croaker – alles findet ein konsequentes Ende. Der Leser kann nur hoffen, dass seine sympathischen Lieblinge überleben werden. Meine sind Linnear/Nangi/Croaker sowie Margarite Goldoni.

Lustbader liefert genau das, was ich von ihm erwartet habe. Fein dosierte Action, fernöstliche Mystik, Kampfkunst im Einsatz, weltumspannende Wirtschaftsintrigen, geheimnisvolle Frauen, eine Menge Sex – aber auch Poesie und ein Verständnis für Japan und den Fernen Osten. Die Lustbader-Romane, von „Der Ninja“ bis „Schwarzes Schwert“, haben mir ein Verständnis für Japan gegeben, das ich in dieser Tiefe nirgendwo anders gefunden habe – auch nicht bei Marc Olden („Giri“).

Der Autor thematisiert selbst mehrfach in „Kaisho“ das Unverständnis der Amis für die Japaner und zeigt auf ironische Weise, wie die Amis an der japanischen Mauer aus Höflichkeit, Ritual, Tradition und Zurückhaltung verzweifeln. Dass dieser „culture clash“ auch dramatische Formen annehmen kann, zeigt das Beispiel von Nicholas‘ amerikanischer Frau, der psychisch eh schon labilen Justine. Sie kommt in diesem Roman ums Leben, und Nick wird sich Vorwürfe machen, dass er nicht für sie da war, als sie ihn am meisten brauchte.

Doch er muss einem anderen japanischen Prinzip gehorchen, der Ehrenschuld des „giri“. Ein ziemlich fieser Schachzug des Autors, ihn weit fortzuschicken, so dass alles, was Nick je aufgebaut und gewonnen hat, in Gefahr gerät. Nick selbst verwandelt sich auf dieser Reise – siehe oben. Wer erfahren will, was aus unserem „Ninja“ wird, der sollte unbedingt die gesamte „Okami“-Trilogie lesen.

Die Übersetzungen

Wieder mal habe ich mich über die Mängel in der Übersetzung geärgert, aber damals, also 1994, waren sie in |Heyne|-Taschenbüchern gang und gäbe. Leider. Deshalb ziehe ich stets die Originalfassung vor. Bei der Übersetzung von „The Ninja“ wurde das Original um ein Drittel gekürzt und von allem entschärft, was das Buch damals zu einem Weltbestseller werden ließ. Auch bei „Die Miko“ ist das Original länger als die Übersetzung und man darf sich mit Fug und Recht nach dem Grund fragen, warum ein deutscher Verlag glaubte, derartig skrupellos mit einem Bestsellerautor verfahren zu dürfen.

Taschenbuch: 620 Seiten
Originaltitel: The Kaisho, 1993
Aus dem US-Englischen von Gottfried Röckelein.
ISBN-13: 9783453075344

www.heyne.de

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