Kenneth J. Harvey – Die Stadt, die das Atmen vergaß

Das geschieht:

Bareneed ist ein Städtchen an der neuenglischen Atlantikküste, das seinen Namen – „Blanke Not“ – inzwischen zu Recht trägt. Die einst blühende Fischerei liegt am Boden, seit die schier unendlichen Kabeljau-Schwärme verschwunden sind. Arbeits- und Hoffnungslosigkeit machen den Bewohnern zu schaffen, Alkoholismus und häusliche Gewalt sind die Standarddelikte, wenn Polizist Brian Chase zum Einsatz ausrückt.

Seit kurzem geht zusätzlich das Gespenst einer unbekannten Seuche um. Kerngesunde Männer und Frauen leiden unter Attacken mörderischen Jähzorns, stellen plötzlich das Atmen ein und sterben; eine Ursache können die Ärzte nicht finden. Erst noch unbemerkt, dann immer offener mischen sich bewaffnete Soldaten ins Stadtbild. Sie scheinen Bareneed zu bewachen und seine Bürger an einem Verlassen des Orts zu hindern.

Von diesen Vorfällen erfährt der Fischereiinspektor Joseph Blackwood zunächst nichts. Er hat andere Sorgen, lebt seit kurzem von seiner Frau getrennt. Mit der achtjährigen Tochter Robin will er sich in Bareneed erholen. Robin verfügt über die Gabe des Zweiten Gesichts, was sie sehr viel deutlicher als der Vater erkennen lässt, dass es in dem Hafenort umgeht. Die vor anderthalb Jahren verschollene Jessica, Tochter der Nachbarin, sucht Robin heim und versucht sie in die Tiefen des Meeres zu locken, in denen sie offenbar ihr Ende gefunden hat.

Das Meer wird zur generellen Quelle des Schreckens. Die Leichen vor Jahrhunderten ertrunkener Seefahrer werden an den Strand getrieben, Albino-Haie, Nixen und andere Kreaturen erscheinen, Geister materialisieren sich in der Nacht und terrorisieren die Menschen. Eine Flucht ist unmöglich, denn das Militär hat Bareneed heimlich abgeriegelt. Jessica holt sich Robin, für Joseph brechen Stunden eines Grauens an, das nun offen die Herrschaft über den Ort antritt Y

Seltsam aber solide

Wenn sich ein von der Kritik anerkannter Literat in die niederen Gefilde der Unterhaltung begibt, erreicht er (oder sie) die risikoreiche Position zwischen Hammer und Amboss. Während der Umgang mit Worten meist nichts zu wünschen lässt, leidet die erzählte Geschichte oft arg unter der Unkenntnis des Verfassers, der die durchaus existierenden Regeln des gar nicht so simplen Entertainments entweder nicht kennt oder ignoriert.

Mit „Die Stadt, die das Atmen vergaß“ gelingt Kenneth J. Harvey der beschriebene Spagat beinahe über die gesamte Distanz eines ziemlich voluminösen Romans. Er verknüpft schriftstellerisches Geschick mit einer Story, die den Freunden phantastischer Geschichten einerseits gefallen dürfte, während sie andererseits spannend und ohne mutwillige, als ‚Kunst‘ gedachte stilistische Verfremdungen, sondern chronologisch und unter Einsatz bewährter, einfallsreich variierter Spannungseffekte erzählt wird.

„Die Stadt …“ ist trotz des ständigen Wirkens geisterhafter Elemente mehr Mystery als ‚richtiger‘ Horror. Für das seltsame Geschehen in und um Bareneed hat der Verfasser durchaus eine Erklärung. Sie wird freilich zum Hebel, der das Geschehen im Finale zum Kippen bringt. Die Auflösung soll hier nicht verraten werden. Soviel sei gesagt: Sie ‚funktioniert‘, stellt aber nicht wirklich zufrieden: ein altes Leiden von Geschichten, die Geheimnisvolles schildern, was in der Regel so lange klappt, bis der Handlungsknoten geschürzt wird.

Glücklicherweise sind mehr als 450 Seiten zu lesen, bis es ernst wird mit dem Finale. Harvey hält die Fäden bis dahin fest in der Hand. Geschickt schürt er die Spannung, die mit jedem seltsamen Ereignis zunimmt, und das Mysteriöse weiß er mit eindrucksvoller Prosa zu schildern: Der Leser ‚sieht‘, doch er und sie muss sich dennoch das Geschilderte aus den beschreibenden Worten des Verfassers zusammensetzen – und der liebt es mehrdeutig zu sein!

Mikrokosmos an Meeresküste

Wenn sich über Harveys Figurenzeichnung etwas Generelles sagen lässt, sollte es als Lob über die ‚lebensechte‘ Gestaltung aller auftretenden Personen formuliert werden. Hier fällt niemand aus dem Rahmen, entpuppen sich brave Bürger nicht als verkappte Serienkiller mit Dachschaden oder mutieren plötzlich zu Superhelden, die den Spukbolden tüchtig auf die Mütze geben. Harvey hat ein Händchen für die Charakterisierung seiner stolzen, störrischen, exzentrischen Küstenbewohner, was kaum verwundert, ist er doch selbst einer der ihren.

Er versetzt sich in diesen Menschenschlag hinein und schildert ihn weder nostalgisch verklärt noch komödienstadlhaft verkaspert, sondern nüchtern und unter Berücksichtigung weniger angenehmer Seiten, wozu ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Fremden und – damit verhängnisvoll verbunden – Veränderungen gehört. Weil Bareneed einen Mikrokosmos darstellt, kann das Verhängnis die Stadt in die Zange nehmen. Man redet nicht miteinander über Privates, wozu Gefühle aller Art gezählt werden, die zu zeigen als Schwäche gilt. Weil man sich nach außen isoliert, fällt es sowohl dem Grauen als auch dem Militär leicht, Bareneed zu isolieren, ohne dass der Rest der Welt davon erfährt.

Unterhaltungsschriftsteller lieben Menschen in der Krise. Leider gleiten sie in der Schilderung gern in die Untiefen des Klischees ab. Harvey beherrscht dagegen sein Handwerk. Seine Figuren leiden nicht demonstrativ. Ihre Gefühle sind nachvollziehbar und Teil der Handlung. Die Familie Blackwood wirkt lebensecht, Töchterlein Robin nervt nicht als disneyoides Retortenkind. Nachbarin Claudia, die sich nach dem Verlust ihrer Familie verhungern und verdursten lässt, wird durch das Erscheinen der Geister von Ehemann und Tochter nicht erlöst, sondern in neue Abgründe der Furcht gestürzt: Die Toten können von den Lebenden nicht lassen, denn sie sind überaus egoistisch in ihrer Einsamkeit und sehr zielstrebig in ihrem Bestreben, diese zu sich zu holen.

Die Unschuld des Bösen

Wenn jemand wenigstens annähernd begreift, was in Bareneed vor sich geht, so sind dies zwei absolut unterschiedliche Personen. Miss Eileen Laracy personifiziert das alte Bareneed, das im Einklang zwischen dem ‚richtigen‘ Menschsein und den Urmächten der Natur existieren konnte, während der von ‚außerhalb‘ stammende Lieutenant-Commander French zwar in der Lage ist, dieses Verhältnis theoretisch zu erfassen, ohne sich jedoch darauf einzulassen. So nimmt das Verhängnis seinen Lauf, um sich letztlich als selbstregulatives Instrument einer von der Zivilisation vergewaltigten Natur zu entpuppen. (Nun gut, soviel sei verraten, doch ich bin sicher, mich erforderlich nebelhaft ausgedrückt zu haben …)

Sucht man nach einer Schublade für „Die Stadt …“, so würde diese irgendwo zwischen Stephen King, Peter Straub und Clive Barker zu orten sein. Vor diesem Trio muss sich Harvey keineswegs verstecken, wäre da nicht das Finale, das nun doch literarische Höhen sucht, um sich aus der Falle zu befreien, in welche die Suche nach einer ‚realistischen‘ Auflösung – die es nicht geben kann – die Story stürzt. Nichtsdestotrotz ist Kenneth J. Harvey für einen ebenso anspruchsvollen wie unterhaltsamen Beitrag zum phantastischen Genre zu beglückwünschen. „Die Stadt …“ bleibt ein richtig gutes Buch abseits esoterischen Dummschwurbels oder allzu ausgetretener Genre-Pfade.

Autor

Kenneth Joseph Thomas Harvey (geb. 1962 in der kanadischen Provinz Neufundland und Labrador) listet in seiner Biografie die übliche bunte Mischung diverser Jobaktivitäten auf, die er vor seiner Schriftstellerlaufbahn durchlaufen hat. Also war er u. a. als Filmemacher, Designer, Magazinherausgeber, Koch, Show und Manager eines Vergnügungsparks tätig.

Daneben und inzwischen nur noch schrieb Harvey Gedichte, Kurzgeschichten, Essays und Romane, außerdem Artikel für die meisten kanadischen Zeitungen. Im Jahre 2000 gründete er „The ReLit Awards“, eine Einrichtung, die sich um den Vertrieb von Büchern kümmert, die von unabhängigen kanadischen Literaturverlagen herausgegeben werden. Harvey, der mit einer langen Reihe von Literaturpreisen bedacht wurde, lebt heute in Burnt Head, einer kleinen Küstenstand in Neufundland.

Über Leben (kaum) und Werk (recht fragmentarisch) informiert Harveys Website, eine Mischung aus Information und Webblog.

Gebunden: 576 Seiten
Originaltitel: The Town That Forgot How to Breathe (Vancouver : Raincoast Books 2003)
Übersetzung: Marlies Ruß
http://www.blessing-verlag.de

Taschenbuch: 576 Seiten
Originaltitel: The Town That Forgot How to Breathe (Vancouver : Raincoast Books 2003)
Übersetzung: Marlies Ruß
ISBN-13: 978-3-453-43256-7
http://www.heyne-verlag.de

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