Mark Haddon – Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone

Anrührend & radikal: Der Held, der bellt

Christopher Boone ist 15 Jahre, drei Monate und zwei Tage alt, kennt alle Primzahlen bis 7507 und verabscheut Unordnung und Überraschungen. Das Mathegenie hat jede Menge Zwangsneurosen, denn der Autist leidet unter dem Asperger-Syndrom. Als eines Tages Wellington, der Pudel, ich Nachbars Garten einem Attentat zum Opfer fällt, erhält Christopher Gelegenheit, seinem großen Vorbild Sherlock Holmes nachzueifern. Er muss den infamen Täter ermitteln.

Der Autor

Mark Haddon wurde 1962 in Northampton geboren, studierte am Merton College, Oxford, Literatur und lebt heute mit seiner Frau und seinen Kindern in Oxford. Er hat viele Jahre mit geistig oder körperlich behinderten Menschen gearbeitet. Für das Kinderprogramm der BBC hat Mark Haddon Drehbücher geschrieben, die ihm zweimal den begehrten BAFTA-Preis eintrugen. Mit dem Roman „Supergute Tage“ landete er auf Anhieb einen internationalen Bestseller und wurde in England mit dem renommierten Whitbread-Award ausgezeichnet. (Amazon.de)

Das Buch „Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone“ ist nur eines von 15 Kinder- und Jugendbüchern, die er verfasst hat. Es wurde zum internationalen Erfolg. Inzwischen erscheint das Buch in 24 Ländern, auch die Filmrechte sind verkauft. (abgewandelte Verlagsinfo)

Handlung

Christopher Boone steht im Garten der Nachbarin Mrs Shears. Ihr Hund Wellington, ein großer Pudel, wurde schnöde mit einer Mistgabel ermordet. Das findet Christopher nicht in Ordnung. Als Mrs Shears aufgeregt aus ihrer Haustür rauscht, hält er den armen Pudel in den Armen. Als Mrs Shears in anschreit, was er getan hat, lässt er den Hund fallen und rollt sich zu einer zitternden Kugel zusammen.

Damit hat Mrs Shears nicht gerechnet – und auch die Polizei hat damit ein Problem. Der erste Polizist, der ihn anfasst, weil er ihn für den Hundemörder hält, bekommt Christophers Eigenart am eigenen Leib zu spüren: Der Fünfzehnjährige zittert und schlägt dann blindlings zu. Er mag es überhaupt nicht, wenn man ihn anfasst, schon gar nicht Fremde.

Christophers Mutter ist seit zwei Jahren tot – „plötzlicher Herztod im Krankenhaus“, sagte ihm sein Vater damals. Infolgedessen muss sein Vater Ed ihn persönlich auf dem Polizeirevier von Swindon, das westlich von London liegt, abholen. In seiner Verwahrzelle hat Christopher bereits mehrere Pläne für einen Fluchtversuch durchgespielt. Schließlich ist er ein kluger Junge. Er kommt nur nicht mit seinen Mitmenschen zurecht.

Eigenarten

In späteren Kapiteln beschreibt Christopher, der dieses Buch schreibt und erzählt, von seinen Eigenarten. Es sind eine ganze Menge, und sie alle aufzuzählen, würde zu weit führen. Der Hauptunterschied besteht wohl darin, dass Christophers Gehirn wie eine Festplatte funktioniert, die nichts vergisst. Das scheint zunächst ein Vorteil zu sein, doch die Konsequenzen sind drastisch. Er bemerkt jede noch so kleine Einzelheit, kann aber nicht bewerten, ob sie unwichtig ist oder nicht. Folglich vergisst er nichts, sein Gehirn filtert nichts heraus, und schon in einer kleinen Menschenmenge kommt es zu einer Überladung mit Informationen. Um die Überlastung zu beenden, schaltet sein Gehirn einfach ab. Die Überlastung kann auch emotionaler Natur sein – siehe den Auftritt von Mrs Shears. Dann rollt sich der Junge einfach zu einer Kugel zusammen, wenn er nicht rechtzeitig ein Versteck findet.

Das Asperger-Syndrom bei Autisten erweist sich jedoch als Vorteil, wenn es um das Lösen kniffliger Aufgaben geht. Der Geist zieht sich stark von der Außenwelt zurück, um sich völlig auf ein Problem zu konzentrieren. Stunden können vergehen, ohne dass sich der Autist irgendwie rührt, doch dann hat er entweder die Lösung oder er wird gestört. Am liebsten beschäftigt sich Christopher mit dem Universum, der Zeit und der faszinierenden Welt der Zahlen.

Es liegt nahe, dass Christopher auf eine Sonderschule für körperlich und geistig Behinderte geht. Seine Schilderung der anderen Kinder ist erschütternd, umso mehr, als er selbst nicht wertet, was dort passiert. Da er ein ein Ass in Logik ist (s.o.), soll er in wenigen Tagen sein Abitur in Mathematik ablegen. Er freut sich schon sehr darauf, denn er will später die Uni besuchen.

Der Mordfall

Doch vorerst hält ihn die Ermittlung im Mordfall Wellington vom Lernen ab. Als sein Vater herausfindet, dass sich sein Sohnemann als Sherlock Holmes betätigt, verbietet er ihm, seine „Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken“. Eine Metapher, die Christopher gar nicht behagt: er mag keine Metapher, denn er versteht sie meistens nicht. Aber er gehorcht. Das kann nicht verhindern, dass ihm die alte Mrs Alexanders aus der Straße erzählt, dass der weggezogene Mr Shears ein Verhältnis mit seiner Mutters, Mrs Boone, hatte. Aber Mutter ist ja tot, also was macht es schon aus?

Doch dann macht sein wütender Vater, der auch dies herausfindet (Chris ist nicht so schlau, wie er glaubt), einen schweren Fehler. Er versteckt das Buch, an dem Chris schreibt, in seinem Schrank in einem Hemdkarton. Als er es nach langer Suche wiederfindet, stößt Christopher auf einen Stapel Briefe. Sie wurden alle in London abgeschickt. Und alle stammen von seiner Mutter. Und anhand des Poststempels kann er leicht feststellem, dass sie erst vor kurzem abgeschickt wurden…

Missing Mom

Sein Vater hat ihn angelogen! Seine Mutter ist gar nicht tot! Aber warum ist sie nie zurückgekommen, um ihren Sohn zu sehen? Sie lebt jetzt mit Mr Shears zusammen, erfährt er aus dem, was sie schreibt, und hat Chris Geschenke geschickt. Keines davon hat Chris erhalten. Als sein Vater nach Hause kommt und – nach einem Zusammenbruch seines Sohnes – gesteht, ihn belogen zu haben, erfährt Chris auch, wer Wellington auf dem Gewissen hat. Der Fall mag gelöst sein, doch nun gilt es, ein viel größeres Geheimnis zu lüften: Was ist aus Christophers Mutter geworden? Er beschließt, sie in London zu besuchen.

Es wird eine Odyssee des Schreckens…

Mein Eindruck

Die Story mag so manchen Leser an „Oliver Twist“ erinnern, der in die große Stadt kommt und dort eine Lektion in Überleben erhält. Doch würde lediglich die zweite Hälfte des Romans betreffen, während die Phase der Ermittlungen doch die erste Hälfte ausmacht. Obwohl sich Chris redlich bemüht, seinem großen Vorbild Sherlock Holmes nachzueifern, gelingt ihm nur eine tragikomische Parodie einer detektivischen Ermittlung.

Der Held als junger Hund

Chris kennt „Der Hund der Baskervilles“ auswendig und erklärt die Story haarklein. Es wird dem einfühlsamen leser klar, dass er sich mit dem Hund identifiziert: Der Hund ist unschuldiges Instrument eines bösen Herren, wird aber trotzdem als erstes bestraft – ist das vielleicht gerecht? Später file mir immer wieder auf, dass Chris die unverständigen Menschen, die ihn verkennen, anbellt, als wäre er ein Hund. Die Identifikation mit einem Hund geht also recht weit, ist fast schon kafkaesk. Das würde Stoff für eine tiefergehende Deutung liefern, die ich mir aber hier verkneife.

Chris ist ein tragikomischer Held, und auf diese Weise geht uns sein Schicksal zu Herzen. Wenn wir glauben, wir könnten ebenso gut ermitteln wie Holmes & Watson, so stellt sich für ihn selbst diese Selbsttäuschung als bitterer Fehlschlag heraus. Ja, die Tragik seines Schicksals verlangt es, dass er wie Ödipus, der seinen Vater rächen will, genau denjenigen als Täter ermittelt, der ihm geschworen hat, er würde ihn nie anlügen und ihm immer helfen.

Der Held als Ödipus

Wie Ödipus trifft Christopher Entscheidungen, die kein Wenn und Aber kennen, denn er kann nicht lügen und auch nicht betrügen. Da sein Vater ihn verraten hat, erfüllt Angst das Herz des Autisten, und der einzige Mensch, der ihm nun auf Erden noch bleibt, ist seine Mutter. Die Folgen sind verheerend: Die eh nur virtuell vorhandene Familie fällt komplett auseinander (Ödipus schlief unwissentlich mit seiner Mutter und tötete deren Lover, nach Erkennen der Wahrheit tötete er sie und blendete sich).

Doch jederzeit ist Chris der Tor, der reinen Herzens ist. Man kann ihm eigentlich nicht böse sein, und doch wird ihm ständig die Schuld gegeben. Folglich entlarven sich die sogenannten Erwachsenen ständig selbst: Sein Vater ist ebenso ein Ehebrecher wie ein Lügner, seine Mutter eine Ehebrecherin und Rabenmutter, die Chris’ Aus- und Zusammenbrüche absolut keinen Nerv hat. Stünden die vier Menschen der Paare Shears und Boone für die heutige Gesellschaft, so könnte man ihnen nur komplettes Versagen hinsichtlich Chris bescheinigen.

Der Held als Lehrer

Dass dem nicht so ist, zeigt sich an Chris’ Sonderschule, die seine Autistenbedürfnisse berücksichtigt. Seine Lehrerin Siobhan, offenbar eine Amerikanerin, unterstützt ihn nach Kräften und erklärt ihm Zusammenhänge, für die unsereins Jahre braucht, um sie zu erkennen, zu akzeptieren und zu übernehmen. Dennoch würde Chris hier fast scheitern, weil seine Mutter es nicht akzeptiert, dass es sein dringendster Wunsch ist, seine Matheprüfung noch dieses Jahr abzulegen. Sie hat seine Registrierung zurückgezogen. Doch er verweigert Essen und Schlaf, und das ändert ihren Sinn.

Wie man sieht, ist Chris auch ein Lehrer. Nicht nur gegenüber seiner Umgebung, sondern auch uns gegenüber, die wir sein Buch lesen. Um uns seine ungewöhnliche Denkweise und Gedankenwelt zu vermitteln, greift er vielfach auf Illustrationen zurück. Ob es nun ein Streckenplan, ein Zeitplan oder einfach nur eine Primzahlenreihe ist – all dies fand ich sehr faszinierend. Es erinnerte mich an „A Beautiful Mind“ mit Russell Crowe. Dort wird die Welt der Zahlen ebenfalls eindrucksvoll visualisiert.

Der Held als Spiegel

Die Illustrationen machen sinnfällig, dass unsere Welt zu einem großen Teil aus Symbolen besteht, um sie uns untertan zu machen – um uns von ihr einen „Begriff“ zu machen. Dass auch Gott nur ein Symbol zu diesem Zweck ist, macht uns Chris mit eindeutigen Worten klar. Gott ist nur ein hilfloser Versuch, die scheinbar überwältigende Kompliziertheit der Welt zu erklären. Die Welt ist eine Maschine, ebenso wie das Gehirn. Dass sie dies nicht zur Gänze ist, machen seine eigenen Abenteuer deutlich. Die Welt lehrt auch ihn, so wie er sie lehrt.

Der Originaltitel

… des Buches ist eine Anmerkung wert. „The curious incident of the dog in the night time” ist an sich schon ein sonderbarer Titel. Zunächst denkt man an den ermordeten Pudel Wellington. Dass der Titel aber auch viel mit Sherlock Holmes zu tun hat, erhellt aus der kleinen Notiz in den bibliografischen Angaben. Es handelt sich demnach um ein Zitat aus der Holmes-Geschichte „Silver Blaze“:

[Watson (?):] „Gibt es sonst noch etwas, worauf Sie meine Aufmerksamkeit lenken wollen?“
[Holmes:] „Der sonderbare Umstand mit dem Hund in der Nacht.“
[Watson (?):] „Aber der Hund hat in der Nacht doch gar nichts getan.“
[Holmes:] „Das ist ja gerade das Sonderbare“, meinte Sherlock Holmes.

Die Übersetzung von Sabine Hübner wird dem Original in jeder Hinsicht gerecht und das ist eine große Leistung.

Unterm Strich

Dieses spannende, bewegende und faszinierende Jugendbuch bietet gelegenehit zu vielen Entdeckungen. In der „sonderbaren Welt des Christopher Boone“ erblicken wir unsere eigene Welt in einer seltsamen Art von Zerrspiegel und erhalten gelegenheit, sie als gar nicht mehr so selbstverständlich hinzunehmen, sondern sie mit neuen Augen zu sehen.

Diese Leistung gelang aber auch dem verfilmten Weihnachtsroman „Millionen“ von Frank Cottrell Boyce. Der Ich-Erzähler ist dort ein achtjährigen Junge, der ebenfalls seine Mutter verloren hat und nun an alle Heiligen glaubt: ein reiner Tor à la „Candide“, der seine menschliche Umgebung ungewollt das Fürchten lehrt und uns zum Lachen bringt.

„Supergute Tage“ ist viel radikaler, es ist sozusagen die Candide-Version für das Informationszeitalter. Es gibt hier keine Heiligen und auch keinen Gott, aber jede Menge betrogener Menschen, angefangen bei Chris selbst. Die Welt als Mathematik und Maschine – so sollte sie sein, doch wie sich dann herausstellt, hat nicht nur der Held als Ermittler einen kleinen Produktionsfehler, sondern die Welt an sich. Oder zumindest insofern, als dies die Menschen betrifft, insbesondere in Sachen Wahrheit und Ehrlichkeit. (Man denke nur an die schrecklichen Metaphern, die Chris so fürchtet.)

Diese beiden Tugenden sind es, die der Autor einfordert. Ob ihm dies beim Leser gelingt, möchte ich stark bezweifeln, denn die meisten Menschen können nicht einmal zu sich selbst ehrlich sein. Aber immerhin, so hoffe ich, gelingt es seinem Buch, ein Verständnis für das Bedürfnis nach Wahrheit und Ehrlichkeit seitens der Autisten und anderer Behinderter zu wecken. Allein schon dieses Verständnis aufzubringen, wäre für uns „Normalos“ ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Hardcover: 283 Seiten
Originaltitel: The curious incident of the dog in the night time, 2003.
Aus dem Englischen von Sabine Hübner
ISBN-13: 9783570302965

CBT Kinder- und Jugendbücher

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