Christoph Marzi – Lilith (Die Uralte Metropole 02)

Mit „Lycidas“ dürfte Christoph Marzi einer der Überraschungserfolge des Jahres geglückt sein, für den der Autor im Oktober obendrein noch den Deutschen Phantastikpreis 2005 als bestes deutschsprachiges Debüt einsacken konnte. Mit „Lilith“ erzählt Christoph Marzi nun, wie es mit Emily, Wittgenstein und all den anderen lieb gewonnenen Figuren weitergeht.

Vier Jahre sind seit den Geschehnissen in „Lycidas“ vergangen. Emily hat sich daran gewöhnt, dass sie als Trickster eine besondere Gabe hat, die sie von den anderen Kindern an der Whitehall-Privatschule in London ausgrenzt und das Mädchen mit dem Mondsteinauge zu einer Außenseiterin macht. Doch Aurora Fitzrovia, die schon seit den Tagen im Waisenhaus von Rotherhithe ihre beste Freundin ist, hält auch weiter zu ihr.

Als sich in der uralten Metropole seltsame Dinge ereignen, wird Emily wieder in einen Strudel mysteriöser Ereignisse gezogen. Menschen verschwinden, mysteriöse Gestalten bewegen sich durch die Schatten der Stadt und Aurora wird von seltsamen Träumen geplagt. Der mürrische Alchemist Wittgenstein macht sich zusammen mit dem Elfen Maurice Micklewhite und den beiden Mädchen daran, die seltsamen Vorkommnisse aufzuklären. Und so steigt Emily zusammen mit ihrem Mentor Wittgenstein wieder einmal in die uralte Metropole hinab.

Schon bald werden Wittgenstein und Emily dort Zeugen unbeschreiblich schrecklicher Vorkommnisse. Wiedergänger fallen über arglose Menschen her und machen sie durch einen Biss zu ihresgleichen. Wie eine Seuche verbreiten sie ihr Unheil und machen die uralte Metropole damit zu einem äußerst gefährlichen Ort. Wo kommen sie her? Wer schickt sie? Und warum tauchen sie plötzlich überall auf? Das herauszufinden, ist die Aufgabe von Wittgenstein und Micklewhite.

Zusammen mit den beiden Mädchen stoßen sie auf uralte Geheimnisse, treffen alte ägyptische Gottheiten, finden unverhoffte Verbündete und wissen nicht, wem sie wirklich trauen können. Ihre Mission führt sie schon bald nach Paris, hinab in die unheimliche Welt unterhalb der Métro. Wie Wittgenstein und Co. erfahren, gibt es nur eine Person, die helfen kann, die Plage einzudämmen, und die gilt irgendwo in den Weiten der Wüsten als verschollen: Lilith. Aber auch Emily weiß, dass nichts wirklich für immer stirbt und so erwartet sie auf ihrer Reise noch so manche Überraschung …

Mein Eindruck

Der Einstieg in „Lilith“ fällt sehr leicht. Schnell taucht der Leser wieder in Marzis geheimnisvolle Welt der uralten Metropole ein, freut sich über das Wiedersehen mit alten Bekannten und auf die bevorstehenden Abenteuer. Marzi schafft es schon innerhalb weniger Kapitel, die Atmosphäre, die auch schon „Lycidas“ ausgezeichnet hat, erneut heraufzubeschwören.

Während „Lycidas“ für sich genommen schon sehr komplex war, fällt „Lilith“ etwas gradliniger und kompakter aus, was der Geschichte durchaus gut tut. „Lycidas“ scheint ein wenig auch an seiner Komplexität zu kranken. Unheimlich viele Geschichten und Mythen bringt Marzi in der Handlung unter und hat damit einen Stoff zwischen die Buchdeckel gepresst, der locker für zwei Romane gereicht hätte.

Wie wahnsinnig viel in „Lycidas“ passiert, fällt einem auch in „Lilith“ immer wieder auf, wenn Marzi Vorangegangenes rekapituliert und ganz kurz und knapp Zusammenhänge erläutert, die für den weiteren Verlauf wichtig sind. Vorkenntnisse aus „Lycidas“ sind für den Leser von „Lilith“ dabei empfehlenswert, wenn auch nicht zwingend notwendig. Da aber viele alte Bekannte auftauchen, die teils auch im neuen Roman in einem etwas anderen Licht erscheinen, und weil auch ein Teil der Handlung auf den Geschehnissen aus „Lycidas“ aufbaut, sei zur Lektüre des ersten Romans dringend geraten.

Es ist ja auch durchaus kein lästiges Übel, beide Marzi-Romane zu lesen, denn Marzis Welt hat das Potenzial, den Leser auch nach der Lektüre noch eine Weile zu beschäftigen. Die Geschichten vereinen so viele Dinge in sich: Mythen, reale historische Figuren und unverkennbare Inspirationen durch klassische Autoren der englischen Literaturgeschichte. „Lilith“ ist genau wie schon „Lycidas“ eine wahre Fundgrube. Anschließend noch ein wenig zu recherchieren, wo Marzis Einflüsse herkommen, ist ein wahres Vergnügen, und damit gelingt Marzi etwas, das über den reinen Unterhaltungswert hinausgeht. Er ermuntert zum weiteren Stöbern, regt dazu an, auch mal die Romane seiner unverkennbaren literarischen Vorbilder zur Hand zu nehmen.

Literarische Vorbilder lässt auch „Lilith“ wieder einige erkennen. Die Welt des Unter-London, der Metropole unter der Metropole, kennt man schon von Neil Gaiman, der diese Welt in seinem Roman „Niemalsland“ beschrieben hat. Gaiman sprüht wie auch Marzi über vor originellen Einfällen, und so ist auch „Lilith“ wieder einmal mit kuriosen Vorfällen und Begegnungen gespickt, die den Leser staunen lassen. Gargylen, die zum Leben erwachen, Fegefeuer, die Menschen auf offener Straße nachstellen und sie in die Hölle bringen, Blumen des Bösen, die im Leid der Menschen aufblühen, Wüstenwinde, die in Reimform sprechen – „Lilith“ hält eine ganze Reihe solcher Kuriositäten bereit.

Auch Charles Dickens kommt in „Lilith“ nicht zu kurz. Schon in „Lycidas“ macht Marzi keinen Hehl aus seiner Dickens-Verehrung. Das Waisenhaus in Rotherhithe scheint direkt einem Dickens-Roman entsprungen zu sein und auch in „Lilith“ huldigt Marzi wieder dem Werk des Engländers, insbesondere durch das Auftauchen der Figur Eliza Holland, die gerne auch mal unter dem Künstlernamen Estella Havisham auftritt, einer Figur aus Charles Dickens‘ Roman „Große Erwartungen“.

Teile der Rahmenhandlung erscheinen aber von einem Klassiker der Gothic-Novel inspiriert: „Vathek“ von William Beckford. „Vathek“ erzählt die Geschichte eines furchtlosen und amoralischen Kalifen, der mit Eblis, dem orientalischen Herrscher der Hölle, einen Pakt schließt, der es ihm ermöglicht, gleichermaßen seinen Wissensdurst, seine Machtgier und seine Sinneslust zu befriedigen. Eine Geschichte, die an Goethes „Faust“ erinnert. Vathek taucht auch bei „Lilith“ als eine zentrale Figur auf.

Besagte Eliza Holland bestreitet einen sehr wesentlichen Teil der Handlung. Über Phasen der Geschichte ist Emily damit beschäftigt, Eliza Hollands Aufzeichnungen zu lesen. In diesen Momenten wird stets die gegenwärtige Handlung komplett ausgeblendet und Eliza bestreitet die Geschichte im Alleingang. Wie ein Buch im Buch fügt sich dieser Teil in die Handlung ein. Da aber ein innerer Zusammenhang besteht (auch wenn sich selbiger erst im späteren Verlauf der Handlung als solcher offenbart), sind diese Einschübe kein Störfaktor.

Apropos Störfaktor: Wirkten in „Lycidas“ mache Redewendungen im Romangeschehen durch stetige Wiederholungen noch etwas überstrapaziert, so dosiert Marzi diesmal feiner. Wittgensteins ständiges „Fragen Sie nicht“ war jedenfalls in „Lilith“ weit davon entfernt, mir auf den Wecker zu gehen. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass man die Schrullen der Protagonisten mittlerweile wirklich lieb gewonnen hat.

Insgesamt wirkt „Lilith“ wesentlich ausgewogener und runder als noch „Lycidas“. Während „Lycidas“ im Grunde zwei Romane in einem beinhaltet, mit zwei von einander abgeschnittenen Spannungsbögen, wirkt „Lilith“ mehr wie aus einem Guss. Die Einschübe um Eliza Holland wirken Cliffhangern ähnlich spannungssteigernd.

Mit Blick auf die Handlung gelingt es Marzi sehr gut, diese glaubwürdig weiterzuführen. Die Personenentwicklung ist zwar kaum der Rede wert, so dass die Figuren immer noch nicht sonderlich tief gezeichnet erscheinen, aber das weiß die phantasievolle Gestaltung der Handlung durchaus auszubügeln. Man trifft so einige lieb gewonnene Figuren aus dem ersten Roman wieder, zu denen sich eine Reihe weiterer nicht minder interessanter Figuren gesellt. Schön ist auch, dass der Leser nun mehr über die Hintergründe von Aurora erfährt, was fürwahr eine interessante Geschichte ist.

Faszinierend ist bei „Lilith“, wie auch schon bei „Lycidas“, die Ambivalenz der Figuren. Marzi zeichnet nicht klischeehaft in Schwarz und Weiß. Gut und Böse vermischen sich und sind keine streng abgegrenzten Lager, was einen besonderen Reiz der Erzählung ausmacht. Man weiß nie so recht woran man ist, und selbst sympathische Figuren haben einen schwarzen Fleck auf ihrer Seele. Das ist herrlich unplakativ und macht die Geschichte umso spannender.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass es Marzi mit „Lilith“ gelungen ist, „Lycidas“ auf wunderbare Art und Weise fortzusetzen. Die Romankomposition gefällt bei „Lilith“ noch besser. Die Erzählung ist straffer und gradliniger und damit im Endeffekt auch noch durchgängiger spannend als im ersten Roman. Auch der Nachfolgeroman ist ein Feuerwerk an Ideen. Unverkennbar ist Marzis Vielzahl an Inspirationsquellen, die man sicherlich auch gerne als Hommage an die jeweiligen Autoren verstehen darf.

Eine Geschichte voller Charme, Witz, liebevoller Figuren und skurriler Ideen. Von Emily und Wittgenstein lasse ich mich jederzeit wieder gerne mit hinabnehmen in die uralte Metropole unter der Stadt der Schornsteine. Doch wie ich meine Ungeduld im Zaum halten soll, bis es endlich soweit ist und Marzi seine Geschichte fortsetzt – Fragen Sie nicht!

Taschenbuch: 688 Seiten
www.christophmarzi.de
http://www.randomhouse.de/heyne

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