„The Anubis Gates“ ist Tim Powers bis heute beliebtester und bekanntester Roman. Der Autor gewann mit diesem Werk auf Anhieb den Philip-K.-Dick-Award für die beste Taschenbucherstveröffentlichung des Jahres 1983 und mittlerweile wurde dieses Werk in alle Weltsprachen übersetzt. Im Deutschen erschien das Buch erstmals 1988 als |Heyne|-Taschenbuch 06/4473 und war somit die erste deutsche Übersetzung eines Werkes des Amerikaners.
Powers besuchte in Fullerton das College und die Universität, wo er K. W. Jeter und James P. Blaylock kennen lernte, beide mittlerweile selbst Autoren Phantastischer Literatur.
Vor allem mit Blaylock verstand Powers sich gut, und als Anfang der 70er Jahre in ihrer Schülerzeitung einige bedeutungsschwangere und grottenschlechte Gedichte erschienen, dachten sich die beiden, dass sie dieses Niveau noch mühelos würden unterbieten können. Deshalb schrieben sie, sich dabei zeilenweise abwechselnd, Werke, die düster und bedeutungsvoll klingen sollten, ohne wirklich etwas auszusagen. Als Pseudonym wählten sie den Namen William Ashbless und erzählten allen möglichen Leuten, dass dies ein verkrüppelter und schüchterner Freund von ihnen sei, der sich persönlich nicht an die Öffentlichkeit traue. So entstand ein Kunstfigur, die nicht nur Protagonist von Powers bekanntestem Werk ist, sondern auch in einem von Blaylocks Romanen auftritt (obwohl beide dies nicht abgesprochen hatten, sondern erst erfuhren, als sie zufällig zeitgleich ihre Manuskripte beim selben Verleger einreichten). Mittlerweile gibt es sogar ein Kochbuch, welches unter dem Namen des Dichters erschienen ist.
„Die Tore zu Anubis Reich“ beginnt mit einer Beschwörung des gleichnamigen Gottes, welche dessen Macht wieder herstellen soll, jedoch auf fatale Weise schief geht. Stattdessen werden Löcher in die Abschirmung des Zeitflusses geschlagen. Diese reichen vom Anfang des 19. Jahrhunderts (in dem die Beschwörung erfolgte) knapp 300 Jahre in beide Richtungen (also Vergangenheit und Zukunft).
Im Jahre 1983 (in diesem Jahr erschien Powers Roman) startet ein reicher Millionär, der ebenfalls die Abschirmungslöcher entdeckt hat, eine Zeitreiseexpedition ins Jahr 1810, um dem berühmten Dichter Samuel Taylor Coleridge bei einem Vortrag zu lauschen. Zur Finanzierung des teuren Unternehmens lädt er noch Gäste ein, die sich finanziell beteiligen müssen. Als Service engagiert er den Coleridge-Fachmann Brendan Doyle, der die Expedition begleiten soll. Nach dem Vortrag wird Doyle jedoch überraschend entführt und kann so nicht ins Jahr 1983 zurückkehren. Doch auch der Millionär hat längst andere Pläne, kann er doch im Jahre 1810 eine Form der Unsterblichkeit erlangen, die wohl jeden verlocken würde. Denn die Beschwörung der alten ägyptischen Götter hat auch die naturwissenschaftlichen Gesetze teilweise außer Kraft gesetzt, und so finden sich im London des Jahres 1810 mehr Magie und Zauberei, als es vor allem Brendan Doyle lieb ist.
Bald muss er um sein Leben kämpfen, droht ihm doch von vielen Seiten der Tod, und erst das von Doyle in anderer Form erwartete Auftauchen des zeitgenössischen Dichters William Ashbless, für dessen Werk der Zeitreisende zufällig auch noch Fachmann ist, bringt für den Literaturwissenschaftler die Lösung einiger seiner Probleme …
Wie Doyle sich aus einer Bredouille in die nächste windet, und vor allem auf welch verblüffende Weise er den „heute fast vergessenen englischen Dichter des frühen 19. Jahrhunderts William Ashbless“ kennen lernt, davon erzählt „Die Tore zu Anubis Reich“ äußerst unterhaltsam und spannend.
Was Powers im Laufe der knapp 600 Seiten des Buches dabei an Action, frappierenden Ideen und tollen, verzwickten Handlungssträngen entwickelt, ist einfach sensationell. Nie lässt den Leser die faszinierenden Geschichte aus ihrem Griff. Dabei wechselt der Autor klug Action mit ruhigeren Passagen, in denen sich die vielschichtige Handlung entwickeln kann, ohne dass der Rezipient den Überblick verliert.
Dabei ist „The Anubis Gates“ nicht nur ein packender und zudem intelligenter Roman, er jongliert auch mühelos verschiedene Subgenres der Literatur, vor allem der Phantastischen. Neben Horror- und Fantasyelementen hat die Geschichte zudem eine SF-Rahmenhandlung aufzuweisen, ist außerdem genauso Kriminalroman wie historische Erzählung.
Bisher hat es wohl weltweit noch kaum ein anderer Autor geschafft, diese Genres dermaßen virtuos zu mixen (einziges, dem Rezensenten bekanntes Beispiel für ein ähnlich gelungenes Werk erscheint Christopher Priests genialer Roman „Das Kabinett des Magiers“ zu sein, welcher aber erst zwölf Jahre nach Powers Meisterwerk erschien).
|Heyne| legt dieses nun in einer überarbeiteten Übersetzung in seiner Reihe „Meisterwerke der Fantasy“ wieder auf, wobei das Buch sicherlich nicht der üblichen Fantasy zugeschlagen werden darf, eigentlich besser unter der Rubrik „Phantastik“ eingeordnet werden sollte.
Denn „Die Tore zu Anubis Reich“ ist Phantastik im ureigenstem Sinne, Literatur zum Staunen und Wundern, welche den Kopf genauso anspricht wie den Bauch, und welche perfekt die Balance hält zwischen dem berühmten „Sense of Wonder“ einerseits und einer überzeugenden, niveauvollen Handlung, die in ihrer herrlichen Irrwitzigkeit ihres Gleichen sucht.
Sollte es dort draußen noch Leser geben, die Powers Meisterwerk bisher nicht kannten: Nun, hier ist die ultimative Gelegenheit! Wer jetzt nicht zuschlägt, ist selbst schuld!
_Gunther Barnewald_ © 2004
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|