Régine Deforges – Die Reisende. Erzählungen

Das Leben in vollen Zügen: Erotische Phantasien einer Reisenden

Eine Frau auf Reisen – allein, in einem Zug, einer Wartehalle oder in einem Bahnhofscafé. Sie beobachtet das Geschehen um sich herum, ihre Gedanken schweifen ab… Sind ihre erotischen Begegnungen Traum oder Realität? Hat der attraktive dunkelhäutige Mann in ihrem Abteil wirklich seine Hand in ihre Bluse gleiten lassen? Und was passierte an jenem verregneten Vormittag am Gare Saint-Lazare?
… (Verlagsinfo)

Die Autorin

Régine Deforges (* 15. August 1935 in Montmorillon, Département Vienne; † 3. April 2014 in Paris) war eine feministische französische Schriftstellerin und Erotikliteratur-Verlegerin. Sie begann als Journalistin in Paris, bevor sie mit ihren Büchern „Zärtliches Tagebuch“ (rororo Nr. 4493) und „Der schwarze Milan“ (rororo Nr. 4926) als Autorin erotischer Romane Aufsehen erregte. (Wikipedia & Verlagsinfo)

Bahnhof 1: Gare St. Lazare oder Der Kieselstein von Dieppe

Die Chronistin hat einer Zeitschrift eine Reihe von Geschichten über das heutige Reisen mit der Eisenbahn versprochen. Sie weiß: Einst hatte Paris ganze neun Kopfbahnhöfe, aber nur noch eine Handvoll sind davon übrig. Sie will sie alle ausprobieren. Vom Gare St. Lazare geht es nach Nordwesten an die Küste. Warum Dieppe und nicht das modische Trouville? Sie weiß es nicht. Nur dass Dieppe wesentlich bodenständiger ist.

Auf der Hinfahrt lässt sie sich von einem Bärtigen und einem Schwarzen vernaschen, auf der Rückfahrt auf dem WC von einem Mann mit Mickymaus-Krawatte. Stets ist sie Opfer und Täterin zugleich, erfreut und erfreuend zugleich.

Bahnhof 2: Gare de Lyon oder Das anhaltende Bedauern

Am Gare de Lyon verabschiedet sie ihre Kinder und deren Großmutter, die den Zug nach Morzine nehmen. Zwei junge Herren haben sich angeboten, das Gepäck der kleinen Gruppe zu tragen. Sie werfen begehrliche Blicke auf die junge Frau, und so verwundert es die so Begehrte nicht, wenn sie sie zu einem Glas Champagner einladen. Doch zur Enttäuschung der Herren lehnt sie ab und bleibt allein zurück…

…ganz im Gegensatz zu ihrer erdachten Heldin Léone, die die Einladung annimmt und in der Folge eine wunderbare Liebesnacht mit den beiden geilen Herren erlebt. Nachzulesen in „Lola. Erotische Variationen“.

Bahnhof 3: Gare Montparnasse oder Die Liebenden

Sie sitzt in einem Café des Gare Montparnasse und betrachtet die anderen Gäste. Schließlich taucht ein Pärchen von Verliebten auf. Ihre Blicke sind gierig ineinander versunken, so dass der Kellner, der nach ihrer Bestellung fragt, sie beinahe aufschreckt. Sie trinken ihre zwei Gläser Brandy gemeinsam wie einen Opfertrank.

Die Reisende sitzt in ihrem Zug und denkt an die Liebenden, so dass ihr Geschlecht feucht wird. Da entdeckt die den Blick des Unbekannten, der sie anstarrt. Sofort schließt sie ihre Schenkel. Und verflucht sich gleich dafür. Sie öffnet sie wieder, und der Unbekannte holt seinen harten Ständer aus der Hose, um sich zu wichsen. Sein Blick fordert sie auf, es ihm gleichzutun. Sie folgt seinem Beispiel und gemeinsam bringen sie sich zum Höhepunkt. Dann wendet er sich wieder seiner Informatikzeitschrift zu.

Bahnhof 4: Gare du Nord oder Die Rückkehr nach Pontoise

Vom Gare du Nord fährt sie nach Nordnordwest Richtung Oise. Es ist eine Reise in die Kindheit und Jugend, denn aus der Region Pontoise stammt sie. Nach Umsteigen und Provinzbahnhöfen gelangt sie in die Stadt, wo einst Pissarro von Cezanne und Gauguin besucht wurde. Ein Kämpfer der Résistance wurde hier 1942 erschossen, wie sein Denkmal besagt. Dann das Haus, in dem sie mit Mutter und eigenem Kind aufwuchs. Sie geht in die Kirche, findet eine Buchhandlung mit Lyrikabteilung. Entzückt kauft sie einen bahn über die Transsibirische Eisenbahn.

Wieder einmal verpasst sie ihren Zug und kehrt in einer Bar ein, um einen Espresso zu trinken. Sie nickt ein, doch als sie die Augen aufschlägt, sitzt ein gemischtrassiges Pärchen vor ihr. Der Afrikaner hat seine Hände in der Bluse seiner Freundin und unter ihrem Rock. Sein zwingender Blick veranlasst die Reisende, ihrem Beispiel zu folgen und sich selbst zu befriedigen. Kaum ist sie gekommen, gehen die anderen. Der Espresso ist kalt geworden.

Bahnhof 5: Gare d’Austerlitz oder Die Demarkationslinie

Dieser Bahnhof ist heruntergekommen, seit der TGV die Städte im Süden anfährt. Für die Strecken, die von hier aus angefahren werden, bleiben nur noch die Provinzdörfer übrig. Eines davon ist Vierzon am Fluss Cher. Der Name versetzt sie in ihre Kindheit, als sie als Siebenjährige ihre Tante Gogo besuchen durfte. Die Tante holt sie am Bahnhof ab, und die deutschen Soldaten lachen, als ihr kleines rotes Köfferchen aufgeht und seinen Inhalt verstreut. Nach der Niederlage im Juni 1940 ist Frankreich zweigeteilt, in einen besetzten und einen unbesetzten Teil, und hier in Vierzon verläuft die Demarkationslinie – genau auf der Brücke über den Fluss.

Nach einer Nacht in Tante Gogos Wohnung, die über dem Juwelierladen liegt, in der die Tante arbeitet, geht Régine zusammen mit der Tante über die Brücke in den freien Teil der Stadt. Man braucht einen Passierschein, und die deutschen Soldaten kontrollieren genau. Sie dürften hinübergehen in den Stadtteil, wo Tante Gogo ihre Familie hat und wo Régine schlafen kann.

Sie träumt, wie es gewesen wäre, hätte sie damals schon die Altersgrenze zum Erwachsenwerden erreicht gehabt. Ihr Geliebter (die Tante sagt „Verlobter“) ist in Deutschland im Internierungslager und sie sehnt sich nach seiner Umarmung. Auf einer heimlichen Party, die im besetzten Teil Vierzons stattfindet, trifft sie Freigelassene und andere Franzosen, eine Freundin, und sie macht sich einen schönen Abend. In ihrem Nachtlager auf einem Sofa träumt sie sich in eine Liebesnacht mit Raymond…

Bahnhof 6: Gare de l’Est oder Die Blume im Gewehrlauf

Wie der Name schon besagt, fahren die Züge, die vom Gare de l’Est abgehen, nach Osten, Richtung deutsche Grenze. Zwei Mahnmäler in der Bahnhofsvorhalle erinnern an die schrecklichen Ereignisse, die mit Deutschland verbunden sind: der 1. Weltkrieg (ein Soldat mit einer Blume im Gewehrlauf), die Deportationen von Juden, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, von denen nur ein kleiner Teil wieder zurückkam. Die Reisende besteigt den Zug Richtung Strasbourg. Heute haben die Züge keine Speisewagen mehr, sondern statt dessen Barwaggons. Die Bedienung steht hinter einem Tresen und serviert das Gewünschte.

Die Bedienung ist eine Frau namens Claude, die eine auffallend tiefe Stimme besitzt. Bei ihrem Kaffee mit Sandwich, das sie serviert bekommen hat, phantasiert die Reisende, bei Claude handle es sich um einen Transvestiten. Wweil sie ihn begehrlich angeschaut hat, greift er ihr in die Bluse, um ihre Brüste zu drücken. Wow, das fährt ihr in die Glieder! Er merkt es sofort, wie geil sie wird, macht den Waggons dicht und vernascht sie hinter dem Tresen. Sein Kollege erblickt die Reisende, die sich hinterm Tresen versteckt. Kaum hat er den Waggon wieder geöffnet, kommt auch schon der nächste Gast herein, um sich zu beschweren.

Mein Eindruck

Mit dem Begriff der „Reise“ sind mehrere Phänomene und Erlebnisse gemeint. Da ist zum einen die Reise durch den Raum, also auf den Schienen oder in der Vorphase in der Bahnhofsvorhalle. Aber es ist auch eine Reise in der Zeit gemeint. Sie führt die Chronistin in die eigene Kindheit und Jugend, die für sie immer noch lebendig ist. Diese Reise macht den Leser mit bestimmten, prägenden Zeiten in der französischen Geschichte des 20. Jahrhundert bekannt. Die dritte Reise führt in die erotische Phantasie.

Erotik ist bei der Autorin immer eine Begegnung, die zu entsprechenden Handlungen führt. Diese können entweder zwischen zwei Menschen ausgetauscht oder an der Phantasierenden als Komplizin ausgeführt werden. Nur zu gerne beteiligt sich die Reisende als Komplizin von Liebenden, auch wenn es sich um bemerkenswerte Kombinationen handelt, wie etwa ein gemischtrassiges Pärchen. Indirekt stimmt sie so eine Lobeshymne auf die Liebe an. Wenn sie selbst geliebt wird, ist sie stets Mittäterin, nie Opfer, selbst wenn der jeweilige Mann sehr rau zu Werke geht.

Die Liebe findet einem Start- und einem Punkt der räumlichen Reise statt und ist daher zeitlich begrenzt. Sie muss schnell gehen, häufig diskret, damit die „öffentliche Meinung“ nicht empört wird. Insofern ist geliebt zu werden ein Privileg, das es auszunutzen gilt, solange sich die Gelegenheit bietet. Die Reisende kann keine Kostverächterin sein, sie nimmt, was sie kriegen kann, ohne sich zu beschweren. Auch wenn ihr Partner eine Transe ist; sie hat kein Problem damit, seinen Schwanz zu verwöhnen.

Der zeitliche Typ der Reise macht den Leser mit den Bedingungen des Reisens in Zügen bekannt. Vor dem Antritt kommt die Bar, das Café in der Bahnhofsvorhalle, das versteht sich, in den Zügen werden Barwaggons genutzt, Toiletten, aber niemals Schlafabteile, was ich persönlich sehr schade finde. Vielleicht sind die Strecken, die die Reisende fährt, einfach zu kurz, oder es gibt im TGV keine Schlafwaggons.

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist genau, aber stimmungsvoll, vertraut mit französischen Bezeichnungen, die nicht immer ins Deutsche übertragen werden. Was könnte wohl ein „Crocque Monsieur“ sein?

S. 50: „Im Halbschlummer spürt wie, wie der Blick eines Mannes sie entkleidet.“ Das erste „wie“ sollte wohl besser „sie“ heißen.

Unterm Strich

Das Büchlein, das eine recht große Schrifttype aufweist, ist in wenigen Stunden gelesen. Sechs Abenteuer entführen den Leser in jeweils drei verschiedene Arten des Reisens: die räumliche Reise in der Gegenwart, die zeitliche in die Vergangenheit und schließlich die erotische Phantasie, die weder Zeit noch Raum braucht, um stattfinden zu können. Die Erotik hält sich im Vergleich zu den Erotischen Variationen in „Lola“ in engen Grenzen – jenen Grenzen von Raum und Zeit, die durch das Reisen im Zug bedingt sind.

Die sechs Reise-Texte werden von jeweils einem anderen Textzitat eingeleitet. Es kann von Bataille, Zola oder Houellebecq stammen, ein Gedicht, eine Beschreibung, ein Gedankenspiel sein. Ein Text beschreibt die Einfahrt eines Zuges zwischen zwei Plattformen wie das Eindringen eines Phallus in ein weibliches Geschlechtsteil. Merke: Reisen an sich sind bereits Erotik in Bewegung. Da freut man sich schon auf das „Leben in vollen Zügen“.

Taschenbuch: 109 Seiten
Originaltitel: Rencontres ferroviaires, 1999
Aus dem Französischen von Hild Wollenhaupt.
ISBN-13: 978-3548249896

www.ullstein.de

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