Ross Macdonald – Der Fall Galton. Ein Fall für Lew Archer (Archer 8)

Der Abgrund des Bösen

Anthony Galton ist vor zwanzig Jahren spurlos verschwunden. Nun soll Lew Archer ihn wiederfinden – im Auftrag der Mutter, einer steinreichen, alternden Frau. Die Indizien, die Archer findet, sind wenig schön – und sie sind gefährlich. Denn noch immer ist jemand bereit, ihretwegen zu töten.

Der Autor

Ross Macdonald, John Macdonald oder auch John Ross Macdonald (* 2. Juni 1915 als Kenneth Millar in Los Gatos, Kalifornien; † 11. Juli 1983 in Santa Barbara, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Dozent. Er war der Gatte der erfolgreichen Krimiautorin Margaret Millar. Als er merkte, wie gut sie mit dem Schreiben verdiente, warf er seinen Dozentenjob auf und widmete sich fortan ebenfalls der Krimiliteratur. Die neuen Übersetzungen, die der Diogenes-Verlag veranstaltete, weisen ihn mittlerweile als Autor aus, der auf einer Stufe mit den Könnern Hammett und Chandler steht.

Zentrales Thema der Detektivromane Macdonalds sind gestrauchelte Jugendliche und die Schuld ihrer Eltern. Die meisten Romane Macdonalds beinhalten verästelte, weit in die Vergangenheit zurückreichende kriminelle Verstrickungen, die vom Privatdetektiv Lew Archer aufgelöst werden. Macdonald führte somit als einer der ersten Krimiautoren der Gattung die Gedanken der Psychoanalyse ((http://de.wikipedia.org/wiki/Psychoanalyse)) zu.

Zwei Lew-Archer-Romane wurden mit Paul Newman als Detektiv verfilmt (Harper, 1966 und The Drowning Pool, 1975); allerdings heißt der Ermittler in den Filmen aus rechtlichen Gründen Harper statt Archer. Ross Macdonald starb 1983 an der Alzheimer-Krankheit. (Quelle: Wikipedia.de)

Romane ohne Lew Archer

• 1944: The Dark Tunnel
• 1946: Trouble Follows Me
• 1947: Blue City (dt. Wettlauf mit dem Gestern und Blue City)
• 1948: The Three Roads (dt. Schwarze Vergangenheit und Der Mörder im Spiegel)
• 1953: Meet Me at the Morgue auch: Experience With Evil (dt. Triff mich in der Leichenhalle)
• 1961: The Ferguson Affair (dt. Die Akte Ferguson)

Lew-Archer-Romane

• 1949: The Moving Target auch: Harper (dt. Reiche sterben auch nicht anders)
• 1950: The Drowning Pool (dt. Wer zögert ist verloren, Kein Öl für Mrs. Slocum und Unter Wasser stirbt man nicht!)
• 1951: The Way Some People Die (dt. Tote ertrinken nicht)
• 1952: The Ivory Grin, auch: Marked For Murder (dt. Bis auf die Knochen und Ein Grinsen aus Elfenbein)
• 1954: Find a Victim (dt. Anderer Leute Leichen)
• 1956: The Barbarous Coast (dt. Sprungbrett ins Nichts und Die Küste der Barbaren)
• 1958: The Doomsters (dt. Schuldkonto der Vergangenheit und Sanftes Unheil)
• 1959: The Galton Case (dt. Ein schwarzes Schaf verschwindet und Der Fall Galton)
• 1961: The Wycherly Woman (dt. Die wahre Mrs. Wycherly)
• 1962: The Zebra Striped Hearse (dt. Camping im Leichenwagen)
• 1964: The Chill (dt. Gänsehaut)
• 1965: The Far Side of the Dollar (dt. Die Kehrseite des Dollars)
• 1966: Black Money (dt. Geld zahlt nicht alles und Schwarzes Geld)
• 1968: The Instant Enemy (dt. Durchgebrannt)
• 1969: The Goodbye Look (dt. Geld kostet zuviel)
• 1971: The Underground Man (dt. Der Untergrundmann)
• 1973: Sleeping Beauty (dt. Dornröschen war ein schönes Kind)
• 1976: The Blue Hammer (dt. Der blaue Hammer)

Erzählungsbände

• 1955: The Name is Archer (dt. in zwei Bänden: Manche mögen’s kalt / Manche mögen’s eiskalt und Der Drahtzieher / Einer lügt immer)
• 1974: Great Stories of Suspense
• 1977: Lew Archer, Private Investigator
• 1982: Early Millar. 1st Stories of Ross Macdonald and Margaret Millar
• 2000: Strangers in Town. Three Newly Discovered Stories

(Quelle: Wikipedia.de)

Handlung

Kalifornien 1958. Der Rechtsanwalt Sable beauftragt Privatdetektiv Lew Archer mit der Suche nach dem Sohn seiner Klientin. Mrs. Galton, selbst schon über 70 Jahre alt, will sich partout mit ihrem vor 22 Jahren, also 1936, verschwundenen Sohn Anthony versöhnen. Vermutlich will sie ihm beträchtliches Vermögen vererben. Definitiv will sie sich jedoch mit ihrem Sohn versöhnen, denn der letzte Abschied verlief im Zorn. Der Sohnemann hatte in San Francisco am Stanford College ein glänzendes Studium des Maschinenbaus hingelegt, aber die Abschlussprüfung sausen lassen, um mit einem schwangeren Mädchen aus der untersten Klasse eine Familie zu gründen. Das kam bei den Eltern gar nicht gut an. Als Anthony überstürzt mit seiner Frau Theodora abreiste, ließ er Bargeld und Schmuck aus dem Tresor mitgehen. Das sorgte nicht gerade für friedliche Gemüter.

Verhaftet

Diese Vorgeschichte reimt sich Archer in den Treffen mit Rechtsanwalt Sable, Dr. Howell, Mrs. Galton und deren Gesellschafterin zusammen. Doch es gibt keinen einzigen Hinweis, wo er mit dieser hoffnungslosen Suche anfangen soll. Er bekommt lediglich ein Foto ausgehändigt. Doch dann greift ihm Kommissar auf recht drastische Weise unter die Arme. Er wird von einem brutal aussehenden und bewaffneten Typen seines Wagens beraubt. Der Typ hat zuvor einen anderen Wagen in den Graben gefahren, so dass er explodierte. Als Archer an diese Unglücksstelle gelangt, wird er von den verspätet hinzukommenden Polizisten verhaftet und dem Sheriff vorgeführt.

Hinweise

Der Sheriff ist glücklicherweise ein Freund von Rechtsanwalt Sable, der in der Lage ist, Archer als unschuldigen Detektiv zu identifizieren. Der Grund, dessentwegen der Sheriff Sable besucht, ist der Mord an Sables Hausdiener Pete Culligan. Culligan war ein kräftiger und stämmiger Mann, der zur See gefahren war. Seine Manieren ließen zwar zu wünschen übrig, aber er fungierte quasi als Wachhund für Sable und seine junge Frau. Sable erlaubt Archer, Culligans Sachen zu durchsuchen. Dabei stößt der Detektiv auf einen Gedichtband, in dem sich ein gewisser „John Brown“ verewigt hat, sowie auf einen Brief von einer gewissen Marian, die früher mit Culligan verheiratet war, nun aber mit einem gewissen Matheson in Redwood City eine Familie gegründet hat.

Luna Bay

Das Treffen mit Marian Matheson muss geheimblieben, denn sie will es so. Also findet es im Flughafen von San Francisco statt, weit weg von Santa Teresa. Marian kannte „John Brown“, wie sich Anthony Galton anno 1936 als Dichter nannte. Tatsächlich war sie sogar das Kindermädchen der jungen Familie. Doch etwas verschweigt sie, und deshalb sucht Archer den Herausgeber der Gedichte von „John Brown“ auf, einen zwielichtigen Entertainer namens Bollingwood. Nach ein paar spendierten Drinks rückt der Verleger mit der Sprache heraus: Er hat die „Browns“ in ihrer Hütte in Luna Bay besucht. Mrs. Brown stillte gerade ihren kleinen Sohn John und sah sehr zufrieden aus. Doch kurz danach verließen die Browns Luna Bay auf Nimmerwiedersehen.

Vergrabene Knochen

Luna Bay sieht nach 30 Jahren stark verändert aus. Eine Neubausiedlung erhebt sich jetzt dort, wo einst Browns Hütte stand. Immerhin erinnert sich einer der Ärzte am Ort, Dr. Dineen, an „John Brown“. Und zwar nicht nur, weil er das Baby auf die Welt holte, sondern vor allem deshalb, weil beim Abriss seiner Hütte ein Skelett zum Vorschein kam, dem der Kopf fehlte. Und weil nun eben dieses Baby an die 22 Jahre später wieder aufgetaucht ist und als Tankstellenwärter sein Geld verdient. Beim Vergleich mit Anthony Galtons Foto mit dem jungen Mann stellt Archer eine erstaunliche Ähnlichkeit fest. Er könnte Galton Junior sein. Aber darf er auch die Galton-Millionen erben?

Gangster

Denn nun kommt die dunkle Seite von Luna Bay zum Vorschein. Marian Matheson, die ehemalige Mars. Culligan, war keineswegs zufällig das Kindermädchen der Browns. Denn Culligan gehörte zu einer Bande von Gangstern, die Schmuggel, Zuhälterei, Erpressung und bezahlte Morde zu ihrem Metier zählte. Als Marian ihrem Mann von den Juwelen der Browns erzählte, führte dies 1936/37 zu einer verhängnisvollen Kette von Ereignissen, die Anthony Galton-Brown wohl das Leben kosteten. Es könnte sich um sein Skelett handeln, das der Sheriff von Luna Bay verwaltet.

Doch wie der kaltblütige Mord an Pete Culligan in Santa Teresa zeigt, reichen die Pläne der Luna Bay Gangster bis in die Gegenwart – und möglicherweise bis zu den Millionen der Galtons…

Mein Eindruck

Wie in vielen guten Krimis bewegt sich der Detektiv zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. In letzterer hat sich die mysteriöse Backstory abgespielt, doch sie ist lückenhaft, trügerisch und voller zeugen, die nicht mehr gestört werden wollen. Zu ihnen gehört Marian Matheson, die inzwischen eine eigene Familie hat. Die würde sie ungern aufs Spiel setzen. Aber sie kann Archer zumindest ein paar gute Tipps geben. Archer leitet diese umgehend an die Polizei weiter. Dabei zeigt sich der Sheriff von Luna Bay unerwartet widerspenstig und voller Ressentiments gegen Privatschnüffler.

Archer verfolgt die zahlreichen, wenn auch verwirrenden Spuren, die in die Vergangenheit führen. Kommissar Zufall kommt ihm mehr als einmal zu Hilfe, doch auch seine Hartnäckigkeit – und seine treue 38er – helfen ihm, die Oberhand zu behalten. Er hat drei Komplexe zu knacken: den Luna Bay Komplex um John Galton, das Original; den Santa Teresa Komplex mit John Galton, der möglichen Kopie; und natürlich den Culligan-Komplex, der sie alle verbindet.

Um alle Verbindungen abzuklopfen, muss er sehr viel reisen, und das macht diese Handlung so dynamisch. Von Hollywood, seinem Wohnsitz, über San Francisco und Santa Teresa führt ihn der Weg nach Reno, Nevada, zu einem höchst dubiosen Charakter, der mit Culligan kooperierte. Und schließlich führt in die Spur zu jenem Teil Kanadas, der Detroit gegenüberliegt. Liegt hier der Ursprung einen gigantischen Komplotts mit dem Ziel, die Witwe Galton um ihre Ölmillionen zu bringen?

Der Weg führt zurück

Es gehört zum Markenzeichen des Autors, dass die Jugend sich immer gegen die Schatten der Vergangenheit behaupten muss. So verliebt sich etwa John Galton jr. – wer auch immer er sein mag – in die schöne Tochter von Dr. Howell, sehr zu dessen Missfallen. Hat der autoritär auftretende Arzt, der die reiche Witwe behandelt und Archer einen zweiten Auftrag gibt, einen guten Grund, Galton jr. diese Liebe zu missgönnen?

Und was ist mit dem ebenso geschmeidigen wie beredten Rechtsanwalt Sable, dessen Frau, die er erst zwei Jahre kennt, seit dem Tod Culligans zu hysterischen Anfällen neigt? Stimmt Sables Darstellung des Tathergangs überhaupt? Alle diese Umstände entscheiden über die Zukunft des jungen Liebespaars: Erst wenn die Vergangenheit aufgeklärt und bereinigt ist, steht einer gemeinsamen Zukunft nichts mehr im Wege.

Wie so häufig erweist sich die Begegnung mit dem wirklich Bösen als ein Abgrund. In dieser Lage muss sich der Detektiv als Held beweisen – oder alles ist verloren. Und so bleibt die Handlung zur größten Zufriedenheit des Lesers bis zum Schluss spannend. Eine Offenbarung jagt die nächste, doch der Ablenkungen sind viele auf der Heldenreise – nicht zuletzt Sirenen in Blond lauern dem unvorsichtigen Reisenden auf.

Erotik und Humor

Der Leser fühlt sich zuweilen an Odysseus erinnert, der zahlreiche Klippen weiblicher und krimineller Natur umschiffen muss, bevor er nach Hause gelangen kann. Die Erotik ist dem Sittenkodex der Zeit (1959) gemäß stark verschlüsselt, aber sie ist vorhanden. So etwa in der Begegnung mit der verführerischen, aber sehr zwielichtigen Mrs. Lemberg, oder in Kanada, wo eine Lady Archer liebend gern mehr als nur den Weg zeigen würde. Und Mrs. Sable hatte für Culligan, den Butler, offenbar mehr übrig als nur ein Dankeschön.

Auch der Humor ist ebenfalls nur zwischen den Zeilen zu finden. Hier wird nicht gelacht, sondern allenfalls gegrinst. Der Sheriff von Luna Bay hütet beispielsweise die Knochen eines Skeletts, das unter der Hütte, in der einst die Galtons lebten, gefunden wurde, bevor die Hütte einer Neubausiedlung weichen musste. Die Knochen gibt es immer noch, quasi als Memento mori. Man sollte sich das gruselige Gefühl vorstellen, das Archer bei diesem Anblick beschleicht. Das Grinsen eines Totenschädels fehlt allerdings – der Kopf wurde abgetrennt: Deshalb die fehlende bzw. unsichere Identität des Toten. Der Schädel wird im ganzen Roman nicht wiedergefunden – das einzige lose Ende in der Geschichte.

Die Übersetzung

Der Übersetzer hat sich seiner Aufgabe bestens entledigt. Der Text ist praktisch frei von Druck-, Stil- und Sachfehlern. Anno 1976 gab es in den Verlagen eben noch Korrektoren, und das zahlte sich aus. Dennoch stand der Korrektor mit der Groß- und Kleinschreibung auf Kriegsfuß.

S. 174: „Mr. Sable erzählte mir, wie sie unter die Räuber gefallen sind.“ Da sich „John Galton“ an Archer wendet, sollte er das groß geschriebene „Sie“ verwenden. Im nächsten Fehler ist es genau umgekehrt…

S. 198: „Es ist soweit, dass Sie in Melancholie zu verfallen droht.“ Mit dem „Sie“ ist aber nicht das Gegenüber gemeint, sondern Alice Sable. Korrekt wäre also das „sie“ mit kleinem S.

Unterm Strich

Dieser klassische Lew-Archer-Fall ist wohl einer der besten Krimis des Altmeister Macdonald. Vor dem Hintergrund eines lockenden Millionenerbes und eines rätselhaften Mordes taucht der Fall einer möglicherweisen falschen Identität eines Hochstaplers auf. Doch der junge Mann sieht seinem mutmaßlichen Vater verblüffend ähnlich und das täuscht sogar die reiche Witwe.

Wie so häufig in den Lew-Archer-Krimis muss ein junges Liebespaar um seine Zukunft kämpfen, als es mit diesem undurchsichtigen Dschungel an Widrigkeiten konfrontiert ist. Sicher ist nur: „Die Wahrheit macht euch frei“, wie es bei Paulus heißt. Die Ehre der Männer und Frauen aus der älteren Generation wird zunehmend angekratzt, und wie so häufig seit Hammett und Chandler tun sich Abgründe auf. Denn wo solche Millionen locken, ist ein Menschenleben nur noch einen Pfifferling wert. Kann der Ritter ohne Furcht und Tadel, der wackere Detektiv, alle Gefahren bewältigen und Verlockungen widerstehen, das fragt sich der Leser bis zum Schluss.

Hinweise

Die Übersetzung von 1976 hatte eine Renovierung dringend nötig. Sie wirkt stilistisch altbacken und steif. Außerdem ist es unerklärlich, warum zweimal das klein und groß geschriebene „sie/Sie“ vertauscht wird. Zum Glück gibt es eine neue Übersetzung seit 2003. Der Leser und Sammler sollte darauf achten, nur die Neuausgaben zu erwerben.

Taschenbuch: 276 Seiten
Originaltitel: The Galton Case, 1959.
Aus dem Englischen von Egon Lothar Wensk.
ISBN-13: 9783257203257

www.diogenes.ch

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