Verschwundene Leichen, gedungene Killer, gefährliche Frauen
Privatdetektiv Philip Marlowe bekommt den Auftrag, eine junge Frau zu beschatten. Betty Mayfield fährt mit dem Zug von L. A. nach San Diego und mit dem Taxi weiter an die Küste. Anscheinend wird sie von einem gewissen Larry Mitchell, der ihr das Hotelzimmer reservierte, erpresst.
Doch nach einer heftigen Auseinandersetzung mit den beiden erwacht Marlowe mit brummendem Schädel, nur um von einem zweiten schrägen Vogel gefragt zu werden, was hier eigentlich gespielt wird. Das wüsste Marlowe allzu gern selbst, nicht zuletzt, weil er sich in die rothaarige Schönheit verliebt hat…
Der Autor
Raymond Thornton Chandler wurde am 23. Juli 1888 in Chicago geboren. Der alkoholsüchtige Vater verließ die Familie, als Raymond sieben Jahre alt war. Die Mutter siedelte mit dem Jungen nach Großbritannien über. Auf dem College beschäftigte er sich vor allem mit Malerei und mit Literatur. Um die Sprachen zu lernen, ging Chandler jeweils für ein Jahr nach Frankreich und nach Deutschland.
1907 nahm Chandler die britische Staatsbürgerschaft an und arbeitete für kurze Zeit beim britischen Naval Stores Branch. Dann verdingte er sich als Reporter für den London Daily Express und die Bristol Western Gazette. Nebenbei veröffentlichte er mehrere Gedichte und seine erste Erzählung. 1912 kehrte er in die USA zurück und schlug sich in Los Angeles mit den unterschiedlichsten Jobs durch. In Abendkursen eignete sich Chandler Buchhaltung und Rechnungswesen an.
1917 meldete Chandler sich zur kanadischen Armee. Er machte eine Ausbildung bei der Luftwaffe, doch kurz vor dem Abschluss seines Trainings war der Krieg in Europa vorbei. Chandler kehrte nach Los Angeles zurück und wurde Buchhalter einer Molkerei. 1922 übernahm er den Posten des Buchhalters in einer Öl-Firma und stieg binnen kurzer Zeit zum Vize-Präsidenten auf. Zwei Jahre später heiratete er Cissy Pascal, die fast 18 Jahre älter war als er selbst.
1932 verlor Chandler seinen Posten, weil er zu viel trank und häufig krank feierte. Von nun an widmete sich Raymond Chandler ganz dem Schreiben. Er arbeitete fünf Monate an einer Erzählung, die er schließlich dem Magazin »Black Mask« verkaufte: 1933 erschien Chandlers erste Kriminalgeschichte. In seiner vierten Geschichte »Killer in the Rain« tritt zum ersten Mal Philip Marlowe auf, der zum Prototypen des amerikanischen Detektivs wird. 1939 erschien Chandlers erster Roman. Seine Romane entstanden aus dem Zusammenfügen und verdichten mehrerer Geschichten.
Anfang der vierziger Jahre begann Chandlers Kontakt mit Hollywood. Es gelang ihm, die Film-Rechte an seinen ersten Romanen zu verkaufen. Billy Wilder überredete ihn 1943, gemeinsam ein Drehbuch des Romans »Double Indemnity« von James M. Cain zu schreiben. Für sein Script zu »The Blue Dahlia« wurde Chandler für den Oscar nominiert.
Chandlers Frau Cissy verstarb im Dezember 1954 nach langer, schwerer Krankheit. Ihr Tod warf Chandler aus der Bahn. Er verfiel dem Alkohol und unternahm einen Selbstmordversuch. Chandler reiste viel, auch nach Europa. Er starb am 26. März 1959 in LaJolla, Kalifornien.
Krimis:
Die Philip-Marlowe-Reihe:
o (1939) Der große Schlaf (The Big Sleep )
o (1940) Lebwohl, mein Liebling (Farewell, My Lovely )
o (1942) Das hohe Fenster (The High Window )
o (1943) Die Tote im See (The Lady in the Lake )
o (1949) Die kleine Schwester (The Little Sister )
o (1953) Der lange Abschied (The Long Good-bye )
o (1958) Playback (Playback )
o (1989) Einsame Klasse (vollendet von Robert B. Parker: „Poodle Springs“, siehe meinen Bericht)
o (1991) Tote träumen nicht (Fortsetzung zu »Der große Schlaf« von Robert B. Parker: Perchance to dream, siehe meinen Bericht)
Handlung
Der Anwalt Clyde Umney gibt Privatdetektiv Philip Marlowe den Auftrag, eine junge Frau beschatten, die gerade in L.A. eingetroffen sei. Er solle sich jedoch keinesfalls blicken lassen oder mit ihr Kontakt aufnehmen. Umneys Sekretärin Vermilyea schneit in sein Büro herein wie eine Erscheinung, blättert die Honorar-Anzahlung auf den Tisch sowie die Unterlagen, bevor sie wieder hinausschneit. Das sieht vielversprechend aus: Sie hat ihn wegen seiner Avancen nicht geohrfeigt.
Der Auftrag hingegen ist es nicht. Die junge Frau schaut im Bahnhof ständig auf die Uhr, während isich ihr Gepäck bereits im Zug nach San Diego befindet. Der Typ, auf den sie gewartet hat, ist ein halbseidener Kalifornier, der ihr erst einen Zeitungsausschnitt hinhält, den sie nicht lesen darf, und ihr dann eine Notiz übergibt. Zur gegebenen zeit fährt sie mit dem Zugab – ohne ihn. Marlowe fährt mit.
Die Lady setzt ihre Reise per Taxi von San Diego nach Esmeralda fort, wo die Taxifahrer noch besseres Mexikanisch sprechen, wie Marlowe herausfindet. An der Küste steigt das Objekt seiner Observation in einem netten Hotel ab, wo sich Marlowe als ihr Verflossener ausgibt, der sich mit ihr versöhnen will. Die List funktioniert, und er bekommt das Zimmer neben ihrem. Durch die hauchdünne Metallplatte zwischen den Zimmern kann er per Stethoskop alles hören, was neben an gesprochen wird.
Larry Mitchell, der Kalifornier aus San Diego, trifft ein, um mit der Frau zu sprechen, die sich gerade „Betty Mayfield“ nennt. Will er sie erpressen, wie Marlowe vermutet. Dafür, dass er sie nicht an die Presse verpfeift, erwartet Mitchell nicht nur Geld, sondern womöglich mehr. Doch Betty weiß sich zu wehren und überlistet Mitchell, der zufrieden abzieht. Gleich darauf hört er, wie sie zu packen beginnt.
Statt nun seinen Auftrag als erfüllt zu betrachten, verschafft er sich Zugang zu ihrem Zimmer. Auf einmal hat sie eine automatische Pistole in der Hand. Damit lässt sich ein Marlowe nicht einschüchtern. Also reißt sie ihre Bluse auf. Netter Versuch: Sie wollte ihm sexuelle Belästigung anhängen, um ihn dann in Notwehr erschießen zu können. Das, macht er ihr klar, funktioniert auch nicht – er sitzt nämlich seelenruhig meterweit entfernt in einem Sessel. Sie kommen einander näher…
Mitchells Rückkehr stört das traute Beisammensein. Er ist eifersüchtig. Nach einer Schlägerei landet Marlowe mit einem Blackout auf dem Boden. Interessanterweise wacht er in seinem eigenen Zimmer auf – nur um sogleich von einem weiteren schrägen Vogel, der aus Kansas City kommt, nach „Betty Mayfield“ gefragt zu werden. Mr. Goble gibt sich als Privatdetektiv aus.
Alle Welt scheint hinter ihr herzusein, aber was der Grund sein könnte, will Marlowe jetzt mal gerne von Umney erfahren, seinem Auftraggeber. Der ruft seine eigenen Auftraggeber an, die in Washington, D.C., sitzen, um herauszufinden, was zum Teufel an „Betty Mayfield“ so verdammt interessant ist. Er wird es erst erheblich später herausfinden.
Mitten in der Nacht bittet ihn Betty am Telefon dringend, die Leiche von Larry Mitchell, die in ihrem Liegestuhl auf dem Balkon platziert ist, zu entsorgen, möglichst mit einem guten Wurf über die nahe Klippe. Die Dinge, die sie ihm dafür als Belohnung verspricht, sind verlockend, doch mittlerweile ist Marlowe vorsichtig geworden, was Betty anbelangt. Das ist auch klug, denn als er nachts die Feuertreppe zu ihrem Zimmer hochschleicht – immerhin zwölf ermüdende Stockwerke -, befindet sich auf dem Balkon keine Leiche, noch nicht mal ein Blutfleck. Dafür hat sich Betty gerade mit Schlaftabletten ins Land der Träume geschickt…
Mein Eindruck
Der Fall „Betty Mayfield“ bleibt auch weiterhin rätselhaft. Erst als Larry Mitchells Wagen in der Wüste gefunden wird und Marlowe auf die Leiche eines Drogensüchtigen stößt, der eben diesen Wagen nachts zuvor beladen haben wollte, kommen ein paar Zusammenhänge zustande. Auch das Auftreten eines gedungenen Killers in seinem Zimmer erscheint Marlowe nicht gerade hilfreich. Wer hat ihn bloß geschickt?
Aber bis die Reihenfolge der Ereignisse um „Betty Mayfield“ transparent und verständlich geworden ist, muss der Leser bis zur Schlussszene warten. Hier stehen sich Marlowe und der Drahtzieher bzw. Mörder gegenüber. Natürlich gerät der Schnüffler in Gefahr, wie es sich gehört. Marlowe, abgebrüht wie es seinem Alter zukommt, lacht bloß darüber.
Bei einer Begegnung auf der Polizeiwache, wo es ausnahmsweise sehr korrekt zugeht (deutscher Bürgermeister, deutsche Gönnerin) , erhellt eine Begegnung mit einem zornigen alten Mann aus Carolina die Hintergründe für „Betty Mayfields“ Flucht quer durch die Vereinigten Staaten. Sie soll angeblich ihren Gatten umgebracht haben. Doch es war ein Unfall und Betty wurde vom Richter selbst freigesprochen. Das wollte ihr Ex-Schwiegervater, dem die ganze Stadt gehört, nicht gelten lassen und ließ sie jagen.
Es ist dieses Unrecht selbstherrlicher Männer, das der Autor hier anprangert. Er hat den Roman, der sein letzter veröffentlichter werden sollte („Perchance to Dream“ wurde ja von Robert B. Parker vollendet), „Jean und Helga“ gewidmet, „ohne die dieses Buch nie geschrieben worden wäre“. Helga ist wahrscheinlich seine Literaturagentin Helga Greene, die bis heute das Copyright hält.
Gesellschaft
Ganz nebenbei erfahren wir zahlreiche Einzelheiten über das Leben der Frauen an der Westküste südlich von Los Angeles. Nach dem Korea-Krieg (1950-1953) leben dort offenbar zahlreiche Kriegswitwen von gestorbenen Jetpiloten. Miss Vermilyea, Umneys Sekretärin, ist auch so eine: sehr desillusioniert, angeblich männerfeindlich, aber geil bis zu den Ohrspitzen. Sie nimmt, was sie kriegen kann, sogar wenn es so ein alter Knacker wie Marlowe ist. Denn was bleibt ihr sonst übrig, als es ihrem mickrigen Chef Umney recht zu machen?
Die unterste Stufe männlicher Existenz bleibt uns nicht verborgen. Der eine Vertreter ist der Drogensüchtige, der sich im Aborthäuschen den goldenen Schuss setzt – direkt auf dem Grundstück eines Reichen. Der zweite Vertreter ist Larry Mitchell, der sich durchs Leben schlägt, indem er Frauen, die sich für ihn interessieren, erpresst und zu Diensten nötigt, die sie später bereuen. Marlowe, der einzige Mann mit einem Gewissen, bedauert und verachtet Leute wie Mitchell, aber keineswegs die Drogensüchtigen.
Das sind die armen Schweine. Aber es gibt auch die Schweinehunde. Und der Autor stellt sie auf die gleiche Stufe wie Mitchell. Es sind Tyrannen, Tycoons, Alleinherrscher, die meinen, ihnen gehöre die Welt – oder zumindest die jeweilige Stadt. Ein Vertreter dieser dubiosen Spezies ist Bettys Ex-Schwiegervater, ein zweiter der Kerl, der die Stadt Esmeralda, die nahe San Diego liegt, als sein Privateigentum betrachtet – ebenso wie die weiblichen Gäste, die in seinem Hotel absteigen. Wenigstens ist es ihm noch nicht gelungen, die Polizei zu kaufen.
Die Übersetzung
Obwohl es sich hier angeblich um eine Neuübersetzung aus dem Jahr 1976 handeln soll, klingt der Text doch wie der aus der Erstübersetzung aus dem Jahr 1958 „Spiel im Dunkel“. Manche Ausdrücke sind schwer nachvollziehbar.
S. 17 + 38 + 50: „Schammes“ ist eigentlich lt. DUDEN ein Synagogendiener, wird hier aber ganz anders verwendet: ein moralisch fragwürdiger Mann.
S. 28: „Sie sind allzu sehr von sich selber überzogen.“ Eigentlich muss es korrekt „überzeugt“ heißen, kann aber hier auch absichtlich ironisch gemeint sein.
S. 45: „eindeutige, frische Farben“. Also, ich kenne keine eindeutigen, dafür aber Primärfarben, die knallbunt sind.
S. 47: „Er pflanzte sich einen Tschig ins Gemäul“. Klingt schwer nach der Ganovensprache von 1958. Übersetzung: „Er steckte sich eine Zigarette in den Mund.“
S. 169: „während Sie[r] hier waren“: Das R ist überflüssig.
Unterm Strich
Ein Chandler bleibt ein Chandler, ganz gleich, ob es sich um seinen oder, wie hier, um seinen letzten veröffentlichten Krimi handelt. Sein Marlowe ist der fehlerbehaftete, zynische Ritter mit dem Gewissen. Und es muss sich in einer Umgebung zurechtzufinden, wo alle, denen er hilft oder denen er gefährlich wird, kaufen wollen, mal mit Geld, mal mit Sex. Wenn auch das nicht mehr, kommt die Pistolen zum Vorschein.
Es ist eine verkommene Gesellschaft, die der Autor hier zeichnet. In seiner Sozialkritik schließt er sich direkt an sein Vorbild Dashiell Hammett an („Der Malteser Falke“). Doch wo Hammett ein eingefleischter und bekennender Kommunist war, der für seine Überzeugung in den Knast wanderte, da hält sich Chandler zurück und platziert seine Pfeile der Kritik indirekt, indem er sie ausschließlich anderen in den Mund legt.
So gibt es etwa einen längeren Monolog über die Musterstadt Esmeralda (S. 149-153), die ein Typ namens Fred Pope beschreibt, der sonst keinerlei Rolle spielt. Es ist eine moralische Anklage und wirkt inmitten der Handlung wie ein Monolith, der aus dem Meer ragt. Daher hat ihr der Autor wohl einige Bedeutung zugemessen, sonst hätte er sie nicht mitten ins letzte Viertel gesteckt.
Sie ist Teil seines Verdikts über die US-Gesellschaft des 20. Jahrhunderts: korrupt bis ins Mark, patriarchalisch-konservativ wie das 19. Jahrhundert. Nur ein junges Paar bietet einen Lichtblick: Sie künden die kommenden sechziger Jahre an, die zahlreiche Umwälzungen bringen sollen.
Die Lektüre war aufgrund der zahlreichen Rätsel durchweg spannend und nie langweilig. Das ist eben der neue Krimi-Stil, den Hammett eingeführt hatte: faktenorientiert, unparteiisch, ohne ein Gewissen zu verleugnen, desillusioniert auch bei den Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Schön wäre es gewesen, wenn der sprachliche Stil (s. o.) moderner gewesen wäre. Mit dem Titel (der in dieser Übersetzung dem Originaltitel entspricht) konnte ich wenig anfangen. Mit dem modernen Begriff „Playback“ aus dem Popgeschäft hat er nichts zu tun.
Taschenbuch: 192 Seiten
Info: Playback, 1958
Aus dem US-Englischen von Wulf Teichmann
ISBN-13: 978-3257203134
www.diogenes.ch
Der Autor vergibt: