Sanderson, Brandon – Alcatraz und die dunkle Bibliothek

Alcatraz ist schon ein wirklich merkwürdiger Name für einen Jungen. Andererseits ist Alcatraz Smedry auch ein ziemlich seltsamer Junge. Immerhin geht nahezu alles zu Bruch, was er in die Hand nimmt, von komplizierter Technik bis hin zu einfachsten Dingen wie Kochtöpfen und Türklinken. Und als würde ihm diese absonderliche Tatsache im alltäglichen Leben nicht schon genug zu schaffen machen, steht eines Tages auch noch ein alter Mann vor der Tür und behauptet, sein Großvater zu sein. Innerhalb von Minuten verwandelt sich Alcatraz‘ Leben in völliges Chaos, gerade so, als hätte er es selbst in die Hand genommen …

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch ist schlicht nur schräg!

Alcatraz scheint im Grunde ja ein recht normaler Teenager zu sein. Seine Kindheit bestand darin, ständig von einer Pflegefamilie zur nächsten abgeschoben zu werden, und die daraus resultierenden Verlustängste haben dazu geführt, dass er sich gegenüber seiner Umwelt komplett abgeschottet hat. Was natürlich nicht heißen soll, dass er sich nicht immer noch ein intaktes, stabiles Zuhause wünscht, nur scheint dieser Wunsch angesichts der Schäden, die Alcatraz bei jeder Gelegenheit anrichtet, völlig unerfüllbar.

Sein Großvater ist da schon ein wenig abgedrehter. Der wuselige und stets gutgelaunte kleine Mann mit dem weißen Haarkranz und Schnauzbart trägt nicht nur einen Frack und ständig wechselnde Brillen mit bunten Gläsern, er fährt auch einen Oldtimer, der gerade mal Schrittgeschwindigkeit schafft, und hält das Wort „schön“ für einen Fluch.

Außerdem wäre da noch Sing Sing erwähnenswert, ein Hüne von einem Mann, der in einem blauen Kimono herumläuft, aber statt eines Samuraischwertes ein Gewehr auf dem Rücken mit sich herumträgt, zusätzlich zu einer ganzen Anzahl großkalibriger Hand- und Schnellfeuerwaffen, die er in diversen Halftern an Arme und Beine geschnallt hat.

Das mürrische, junge Mädchen in Alcatraz‘ Alter dagegen hat außer seiner scharfen Zunge nur eine kleine Handtasche dabei, die sie, wenn sie sich ärgert, den Leuten um die Ohren haut.

Ihr Gegenspieler wirkt in seinem eleganten schwarzen Anzug und mit seinem verbindlichen Lächeln neben dieser seltsamen Gruppe geradezu gewöhnlich. So lange er vor sein verbliebenes Auge nicht ein Monokel hält, dessen Glas farbig ist …

Und das ist erst der Anfang. Denn mit den bereits mehrfach erwähnten bunten Brillengläsern hat es eine Bewandtnis. Sie sind das Werkzeug der Okulatoren. Und je nachdem, woraus diese unterschiedlichen Linsen hergestellt wurden, kann der Okulator sie für das Verfolgen von Spuren, das Auffinden von Auren, aber auch als Waffe benutzen. Überhaupt scheint Glas der Rohstoff schlechthin zu sein, denn aus ihm werden nicht nur Linsen, sondern auch dehnbare Wände, unzerstörbare Gefängnisgitter und einbruchsichere Tresore hergestellt. In Anbetracht dessen wundert es den Leser kaum noch, dass man die Fahrzeuge, die Großvater Smedry und seine Truppe benutzen, weder betanken noch lenken muss.

Spätestens hier wird klar, dass der Leser es mit Magie zu tun hat. Und natürlich stürzt Alcatraz, der in einer völlig nichtmagischen Welt aufgewachsen ist, erst mal in ziemliche Verwirrung, als er erfährt, dass das ständige Demolieren von allem Möglichen seine magische Gabe ist, so wie es die Gabe seines Großvaters ist, stets zu spät zu kommen, oder die seines Vetters Sing Sing zu stolpern.

Schließlich, als wäre das alles noch nicht skurril genug, stellt sich heraus, dass Alcatraz‘ wohlbekannte, nichtmagische Welt nur deshalb so ist, weil die Bibliothekare dabei sind, die Welt zu erobern, indem sie Wissen unterdrücken. Die Ausmaße dieser Verschwörung nehmen mit fortschreitender Enthüllung immer aberwitzigere Züge an und stellen bald sämtliche Verschwörungstheorien, die je auf dieser Welt in Umlauf waren, völlig in den Schatten.

Nicht minder aberwitzig als die Verschwörung sind die Versuche des Autors, den Leser davon zu überzeugen, dass er nicht nur kein Held, sondern sogar ein ziemlich schlechter Mensch ist, was er hauptsächlich dadurch zu beweisen sucht, dass er der Autor eines Buches ist. Die regelmäßig eingestreuten Kommentare des Erzählers dienen zum einen dazu, dem Leser klarzumachen, was für linke Tricks Autoren anwenden, wenn sie ihre Geschichten erzählen, aber auch dazu, ihn von der geschilderten Verschwörung zu überzeugen.

Das Schräge an der Sache ist, dass Brandon Sanderson dabei so ziemlich alles verdreht und ins Gegenteil verkehrt. Nicht nur, dass Alcatraz sich ständig mit der bissigen Bastille darüber streitet, ob nun Schwerter oder Schusswaffen, Feuer oder elektrisches Licht, Treppen oder Aufzüge moderner und fortschrittlicher sind. Auch die Bezeichnung von Büchern, die in der wirklichen Welt spielen, als Fantasy und umgekehrt gehört dazu. Diverse Absurditäten wie die mit den Dinosauriern (selber lesen!) runden die ganze Sache ab.

Um ehrlich zu sein: Ich würde das Buch nicht als spannend bezeichnen. Aber es ist so verrückt und gleichzeitig so trocken erzählt, so voller Überraschungen und voller ironischer Anspielungen – sei es nun auf den Boom der Verschwörungstheorien, den |american way of thinking| oder die Literatur im Allgemeinen und ihre Produzenten im Besonderen – dass ich mich jederzeit köstlich amüsiert habe und gelegentlich laut lachen musste. Das Lesen dieses Buches hat wirklich Spaß gemacht.

Brandon Sanderson gehört zu denjenigen, die bereits als Kinder phantastische Geschichten schrieben. Sein Debütroman „Elantris“ erschien 2005, seither hat er weitere Romane geschrieben. „The final Empire“ und „The Well of Ascension“ sind Teile seiner Trilogie Mistborn. Außerdem arbeitet der Autor an zwei weiteren Serien, Warbraker und Dragonsteel. „Alcatraz und die dunkle Bibliothek“ ist der erste Band einer Jugendbuchserie, deren Fortsetzung unter dem Titel „Alcatraz und das Pergament des Todes“ im November dieses Jahres erscheint.

Originaltitel: Alcatraz Versus the Evil Librarians
Übersetzt von Charlotte Lungstrass
 Paperback, 304 Seiten

ISBN-13: 978-3-453-52414-9

www.brandonsanderson.com
http://www.heyne.de

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