Neal Stephenson – Diamond Age – Die Grenzwelt

Bilderbücher für Millionen: geniale Vision

Für „Diamond Age“ wurde Neal Stephenson von den amerikanischen SF-Lesern mit dem HUGO Award 1996 ausgezeichnet und kam auch bei den deutschen Lesern ganz gut an, landete allerdings nicht unter den ersten Plätzen des Kurd-Laßwitz-Preises, der von der deutschen SF-Kritik vergeben wird. Der Verlag stellt Stephenson in eine Reihe mit Quentin Tarantino – ein Versuch, dem Roman bereits jetzt Kultstatus anzudichten. Und ein Grund mehr, diesem Werk kritisch zu begegnen.

Handlung

Stephenson baut seine Romanwelt auf einem Grundkonflikt auf und bringt diesen zum Ausbruch, auf dass die Welt geändert werde. In naher Zukunft sind die Nationalstaaten in kleine und kleinste En- und Exklaven zerfallen, deren friedliche Koexistenz durch ein Ökonomisches Protokoll gewährleistet wird.

Am Hauptschauplatz der Handlung, in Shanghai, findet sich unter diesen Ministaaten eine Kolonie Ihrer Majestät Viktoria II., auf einem Hügel mit guter Luft und großen Villen gelegen, die hervorragend ausgebildeten Ingenieuren der Nanotechnologie und Kybernetik gehören.

Darunter wohnen die chinesischen und andere Volksmassen, die von der jeweils zuständigen Justiz kritisch überwacht werden, unter anderem mit mikrosopisch kleinen Spähmücken, die Bild und Ton übertragen. So etwa auch von dem Überfall auf den nahezu unbescholtenen Ingenieur John Percival Hackworth.

Hackworth hat ein Nanotech-Buch erfunden, das sich mit lernfähiger Intelligenz auf seine Leser einstellt und für sie Geschichten erdichtet, die ihnen Bildung, Wissen und die moralischen Werte der Neo-Viktorianer à la Hackworth vermitteln. Dabei wird auch Verbindung zu einem Schauspieler im globalen Netzwerk hergestellt, der als Gegenüber für den Leser dient.

Die „Illustrierte Fibel für die junge Dame“ hat Hackworth für seine Tochter illegal kopiert, sie wird ihm jedoch beim Überfall entwendet und landet in den Händen der fünfjährigen Nell. Zusammen mit ihrem Bruder lernt Nell mit Hilfe der Fibel bald, sich gegen die gewalttätigen Übergriffe der „Freunde“ ihrer Mutter zu wehren – Anlass für einige der rührendsten und witzigsten Szenen des Romans. Im Laufe der Jahre wächst Nell zu einem intelligenten und mutigen Mädchen heran, das von der örtlichen Justiz, einem konfuzianisch eingestellten Richter, beschützt wird.

Hackworth ergeht es nicht so gut: Der Mann, der die Fibel für ihn kopiert hatte, ein Unterwelt-Tycoon, hat ihn in der Hand, und wie es Faust eben mit dem Teufel so geht, muss er seine Schuld bezahlen. Hackworth begibt sich nach Seattle, um einem Orden von Trommlern beizutreten, die in Röhren unter der Meeresoberfläche leben und bacchantische Rituale veranstalten. Sie wollen ihren Geist zu einer größeren Einheit verschmelzen. Er taucht erst Jahre später, bereits tot geglaubt, wieder auf.

Nells Beschützer, der Richter, schickt sie mit zwölf Jahren zu den Neo-Viktorianern, um ihr zu einer guten Ausbildung zu verhelfen. Sie erlebt, wie ihre neuen Freundinnen, darunter Hackworths Tochter, heranwachsen und an der Schuldisziplin scheitern.

Während die anderen sich von den Neo-Viktorianern abkehren, z. B. in die Unterwelt gehen, macht Nell ironischerweise erfolgreich ihren Abschluss mit sechzehn Jahren.

Krieg herrscht im Landesinneren des Mittleren Reiches, und Menschen wie der Richter bringen Waisenkinder aus den Dörfern in Sicherheit, um sie auf umgebauten Frachtschiffen vor Shanghai pflegen zu lassen. Die meisten Kinder sind Mädchen, rund eine Viertelmillion, da kehrt Hackworth zurück und wird vom Richter dazu gebracht, Fibeln für die künftigen Damen anzufertigen.

Allerdings sind diese Fibeln weitere Kopien von Nells Exemplar, und so spricht Nell als Lehrerin zu einer ganzen neuen Generation von Chinesinnen. Kein Wunder, dass sie bald gottähnlichen Status erhält. Sie vermittelt sozusagen eine Mischung aus Okzident und Orient. Als schließlich die Rebellenheere gegen Schluss des Romans Shanghai stürmen, kommen den eingeschlossenen Nationen und Bürgern auch die Scharen von Nells Schülerinnen zu Hilfe … Doch das Regime der Neo-Viktorianer hat ein Ende und die Zukunft – so viel macht der offene, unbestimmte Schluss deutlich – ist zwar unbekannt, lässt aber doch hoffen.

Mein Eindruck

„Diamond Age“ – das steht für das neo-viktorianische Zeitalter, das in der erzählten Zeit sein Ende findet. Mag der Schluss manchen Leser nicht befriedigen, so ist doch der Rest des Buches von hoher Qualität. Die Welt ist detailliert und kenntnisreich geschildert und aufgrund der aktuellen konfuzianischen Strömung in China nicht unwahrscheinlich.

In einer komplexen Struktur führt der Autor mehrere räumlich und zeitlich weit auseinanderliegende Handlungsstränge zusammen, um ein dichtes Gewebe von Wechselwirkungen zu erzeugen, das wie Realität anmuten könnte. Denn an kaum einer Stelle übertreibt der Erzähler die Effekte seiner Darstellung, wie es etwa Tarantino unentwegt tut. Wo Tarantinos „Pulp Fiction“ schockt, bezaubert Stephenson und fasziniert. So etwa durch die märchenhaften Geschichten, die Nell mit der Fibel erlebt. Sie lernt zum Beispiel, auch die härtesten Rätsel zu knacken und sogar für üble Gestalten Mitgefühl aufzubringen.

Allerdings verführte dies den Autor auch dazu, Nell als eine Art Spider-Man auftreten zu lassen, die in einem Hochhaus die Rebellensoldaten außer Gefecht setzt. Hier wird sie um der lieben Action willen zur Superheldin stilisiert.

„Diamond Age“ – das ist ein schnelles Eintauchen in eine alternative Realität, die man so plausibel, unterhaltsam und menschlich einfühlsam in letzter Zeit kaum einmal gelesen hat. Ein klein wenig Hintergrundwissen über die Viktorianer und die chinesische Geschichte erhöht jedoch das Lesevergnügen.

Taschenbuch: 576 Seiten
Originaltitel: Diamond Age or, A Young Lady’s Illustrated Primer, 1995
Aus dem US-Englischen von Joachim Körber
www.randomhouse.de/Verlag/Goldmann