James Stoddard – Das Hohe Haus

Einfallsreiche Fantasy: Ein Haus so groß wie die Welt

Dies ist eine Geschichte, wie ein junger Mann in die Fußstapfen seines verschwundenen, womöglich toten Vaters tritt. Die Aufgabe des Vaters war nicht ganz einfach: Hüter des Hohen Hauses, und das Hohe Haus ist so etwas wie eine Verkörperung des Universums. Und natürlich gibt es Schurken, die den Erfolg des jungen Mannes verhindern wollen.

Handlung

Im ersten Teil des Romans wächst Carter Anderson, die Hauptperson, zu einem zwölfjährigen Jungen heran. Seine liebevolle Mutter stirbt früh, und sein Vater heiratet eine andere Frau. Lady Murmur bringt einen eigenen Sohn zur Welt, den sie zum Erben des Herrschaftsbereichs von Carters Vater Ashton auserkoren hat, Duskin. Folglich behandelt sie Carter wie den letzten Dreck und schwärzt ihn sogar bei seinem ahnungslosen Vater an.

Denn sein Vater sorgt für Ordnung in den verschiedenen Reichen des Hohen Hauses. Er scheint ein Zauberer und Krieger zu sein. Die Insignien seiner Macht sind sein Mantel, sein Blitzschwert, das Buch der Verlorenen Dinge und natürlich die Herrscherschlüssel. Mit diesen öffnet und verschließt er Türen, wie sich das gehört, aber es handelt sich um Türen zu ganz besonderen Orten.

Carter wird zwar von Lady Murmur gepiesackt, aber von den drei loyalen Dienern des Herrn des Hauses beschützt: Brittle (= spröde), Chant und Enoch. Dieses Trio scheint sehr alt zu sein, etwa so alt wie Gott, also ungefähr fünf- bis sechstausend Jahre (wir reden hier von der alttestamentarischen Zeitrechnung, okay?). Enoch etwa kann sich noch gut an Gott erinnern, hat ihn aber schon lange nicht mehr gesehen. Enochs Aufgabe ist es, die Uhren aufzuziehen, und Chants, die Lampen anzuzünden. Auf der Erde sind die Lampen als Sterne zu sehen, und die Uhren halten ganze Galaxien am Laufen.

Doch jedes System hat seine Gegner, und so tauchen eines Tages die Anarchisten auf. Der kleine Carter sieht einen englischen Bobby unter der Laterne vor dem Tor stehen. Seltsam: der Bobby hat kein Gesicht. Und er kann nicht ins Haus, solange er nicht eingeladen wird (ist bei allen Geistern so!). Doch als Carter einmal am Brunnen spielt, taucht der Bobby neben ihm auf und wirft ihn hinein. Glücklicherweise fällt er nicht allzu tief, und Rettung ist bald herbeigeeilt. Doch seitdem hat Carter schreckliche Furcht vor Wasser und engen dunklen Orten. Das wird später sehr wichtig.

Doch es kommt noch schlimmer. Als Lady Murmur wieder einmal Carter angeschwärzt hat, schnappt er sich die Herrenschlüssel und öffnet die verbotene Grüne Tür. Auf seiner Erkundung des Labyrinths der Korridore und Türen dahinter schnappen ihn sich die Anarchisten. Der Bobby sperrt ihn in die Kammer des Schreckens. Dort wird Carter Opfer seiner eigenen Ängste. Erst nach Wochen zerschmettert sein Vater die Tür zu diesem Raum und befreit seinen Sohn. Die Schlüssel aber sind verschwunden.

Teil 2

Sein Vater hat Carter aus Sicherheitsgründen – denn jemand muss den Bobby ins Haus gelassen haben – weggeschickt, und so wächst er in der Welt der Menschen auf: an der Uni, in der Stadt. Carter ist 26 Jahre alt, als er zusammen mit seinem Freund, dem Anwalt Mr. Hope, wieder ins Hohe Haus zurückkehrt. Sein Vater ist verschwunden, vielleicht gestorben, und die Nachfolge ist zu regeln. Lady Murmur ist grauhaarig geworden, aber immer noch so missgünstig wie früher. Ihr Sohn Duskin steht unter ihrer Fuchtel. Carter erhält die Treuhänderschaft über das Hohe Haus, doch es wählt selbst seinen Herrn, erklären die drei Diener.

Nach und nach erkunden Carter und seine Freunde das Haus auf der Suche nach Spuren des verschwundenen Vaters und dessen Insignien. Im Dachboden stößt Carter auf einen feuerspeienden Dinosaurier, der ebenfalls alt und weise ist, aber doch Lust auf einen Happen Menschenfleisch verspürt. Nur die sieben Worte der Macht können ihn aufhalten, verrät er dummerweise Carter. Diese findet der junge Mann in dem Buch der Verlorenen Dinge, und sie verändern ihn. Sie sind so mächtig, dass er nur zwei auf einmal erlernen kann – ein Handicap, denn er und seine Freunde finden sich in der Bibliothek einem Überfall der Anarchisten ausgesetzt, bei dem sich Brittle opfert. Später stellt sich heraus, dass dies in einem Traum erfolgt war, aber dieser war sehr real: Brittle bleibt tot. Nur durch die Hilfe eines mysteriösen Dünnen Mannes können Carter & Co. sich retten.

Nachdem er Lady Murmur und Duskin zu den Anarchisten verbannt hat, macht sich der nunmehr recht zornige Carter auf den Weg, um nach dem Rechten zu sehen. Die Zeit drängt, denn die Anarchisten haben im Keller die Tür zur Finsternis geöffnet, die alles zu verschlingen droht. Nach einiger Zeit gesellt sich Duskin an Carters Seite, der sich von den Anarchisten und seiner Mutter verraten sieht. Zusammen erleben die beiden viele gefährliche und recht merkwürdige Abenteuer in dem ungewöhnlichen Weltengebäude, bis sie wieder auf den Dünnen Mann stoßen, ihren geheimnisvollen Helfer. Fantasy-Kenner können sich denken, um wen es sich handelt.

Doch schlussendlich führt kein Weg daran vorbei: Carter muss sich seiner größten Furcht stellen und sie besiegen: Er muss in die Kammer des Schreckens eindringen und dort im tiefen Brunnen die Herrenschlüssel holen. Und irgendwo dort lauert bereits der unheimliche Bobby, sein schlimmster Gegner.

Mein Eindruck

Nach einem spannenden ersten Teil bietet der zweite Teil zwar ebenfalls eine Menge seltsamer Abenteuer, allerdings auch etwas Langeweile und Wiederholung: Die Struktur der Suche nach Vater, Insignien und Schlüsseln bringt es mit sich, dass Carter und Duskin durch sehr viele Korridore und Orte gehen bzw. schleichen müssen. Sie kommen zwar wieder an ungewöhnlichen Orten an, wo sie ihren Mann stehen müssen, doch es kann nach einer Weile nerven, wenn sich die beiden schon wieder durch eine Geheimtür zwängen müssen. Im letzten Drittel ist dies nicht mehr so schlimm, denn der Erfolg ihrer Suche ist schon greifbar nahe und die Spannung „wächst ins Unermessliche“.

Am besten gefiel mir Carters Abenteuer mit der scheinbar lieblichen Lady, auf die er im Uhrenturm stößt, als er vom Alten Mann Chaos verfolgt wird. Die Lady macht es dem erschöpften Wanderer mit ihrer Tochter so richtig gemütlich. Merkwürdig nur, dass sie am nächsten Morgen genau die gleichen Worte spricht und genau die gleichen Gesten vollführt – eine Art Hoffmann’sche Automate (Olympia) also? Richtig. Und die kleine Tochter ist im Grunde ihre Herrin. Verkehrte Welt – genau wie bei „Alice im Wunderland“. Da der Alte Mann Chaos ebenfalls dem Bobby zu dienen scheint, kommt Carter gerade noch mit einem blauen Auge davon. Hinterher erfährt er, dass er Lady Ordnung entkommen ist. Hier wird klar, dass zu viel von Chaos, aber auch von Ordnung gar nicht gut ist für das Universum: Es muss ein Gleichgewicht zwischen beidem herrschen – für Carter als künftigem Herrn des Hauses eine wichtige Erkenntnis.

Wie man sieht, wird der große Krieg um das Hohe Haus Abendsee mit allen Tricks und Finessen geführt. Er dauert lange und verlangt den Kontrahenten alles ab. Darin erinnert das Buch an den „Herrn der Ringe“, in dem der Träger des Einen Rings und seine Gefährten ebenfalls eine große Aufgabe zu bewältigen haben, um den bösen Mächten (bei Stoddard Anarchisten genannt) Paroli zu bieten und sie zu besiegen. Danach wird nicht etwa die Ordnung – siehe oben – hergestellt, sondern die Harmonie. Diese Harmonie zeigt sich nicht nur darin, dass Duskin seinen Bruder als Herrn von Abendsee anerkennt, sondern auch, dass Mr. Hope (ein sprechender Name) die Nachfolge Brittles als Carters Butler antritt.

Dieses Buch ist etwas für Fantasyfreunde, aber auch Fans von „Alice“ dürften ihre Freude daran haben. Science-Fiction-Leser können vielleicht weniger etwas damit anfangen.

Hintergrund

Seinen ersten Roman „Das Hohe Haus“ hat Stoddard ausdrücklich als Hommage an den amerikanischen Fantasy-Autor Lin Carter geschrieben, genauer gesagt, an dessen Fantasyserie „Im Zeichen des Einhorns“, die er zwischen 1969 und 1974 herausbrachte. Es gibt noch viele weitere Hinweise, welche Fantasywelten Stoddard einbezieht: Narnia von C.S. Lewis, Poictesme von James Branch Cabell und höchstwahrscheinlich auch Gormenghast von Mervyn Peake. Denn Schloss Gormenghast ist ein ebenso verwinkeltes Mini-Universum wie das Hohe Haus.

Die Fortsetzung folgte im August 2001 unter dem Titel „Rückkehr nach Abendsee“. Abendsee, so heißt das Hohe Haus.

Taschenbuch: 443 Seiten
Originaltitel: The high house, 1998
Aus dem US-Englischen übertragen von Rainer Schumacher
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