Stone, Jonathan – Bittere Wahrheit

Dreißig Jahre arbeitet er als Polizeichef von Canaanville, einer Kleinstadt hoch im Norden des US-Staates New York: Winston Edwards, den man nicht ohne Grund den „Bären“ nennt, ein riesenhafter und poltriger Mann, aber gleichzeitig ein fabelhafter Detektiv, dem in seiner langen Laufbahn noch nie ein Mörder entkam. Edwards hasst Überraschungen, was Julian Palmer, einem neuen Mitarbeiter, trotz eines famosen Lebenslaufes einen schlechten Start beschert: Dem Vornamen zum Trotz entpuppt sich Palmer als Frau …

Julian ist Teilnehmerin eines Austauschprogramms der Polizei von New York, das Auszubildenden die Chance bietet, Alltagserfahrungen außerhalb der Stadt zu sammeln. Die junge Frau sucht den Kontrast und wagt buchstäblich den Sprung ins kalte Wasser: Canaanville liegt im „Schneegürtel“ des Staates und gilt als recht unwirtliches, wenn auch landschaftlich reizvolles Fleckchen.

Wider Erwarten gibt Edwards, der den Polizei-Dinosaurier eher spielt als verkörpert, der neuen Kollegin eine Chance. Seine wenigen Mitarbeiter haben das Pulver nicht erfunden und waren ihm bisher keine große Hilfe beim vielleicht schwersten Fall seiner Karriere. Sarah Langley, eine junge Kellnerin, wurde nicht nur ermordet, sondern auch mit psychotischer Sorgfalt in Stücke gehackt, und es gibt keinerlei Hinweise auf den Täter, geschweige denn einen Verdächtigen.

In seiner Not versucht es Edwards nun mit dem Übernatürlichen. Der Seher Wayne Hill behauptet, „Eingebungen“ zu haben, die endlich neue Spuren im Langley-Mord aufwerfen. Doch Hill ist ein undurchsichtiger und auch labiler Mann, der ebenso beeindruckt wie Misstrauen weckt. Seine sparsam und dramatisch preisgegebenen Visionen lassen ihn für die Polizei rasch selbst zum Tatverdächtigen aufsteigen.

Doch für Julian Palmer beginnt sich plötzlich eine ganz andere Spur abzuzeichnen: Sie führt zu Chief Edwards selbst, dessen Beziehung zu Sarah Langley wesentlich inniger gewesen zu sein scheint als bisher bekannt wurde. Aus dem Verdacht wird scheinbar Gewissheit, als sich Wayne Hill plötzlich als Dr. Ernest Tibor zu erkennen gibt, Hills Psychiater und gleichzeitig der Geliebte Sarah Langleys, der die Bluttat und Winston Edwards, den Mörder, als Augenzeuge miterleben musste.

Noch bevor die überraschte und entsetzte Julian sich auf die verheerende Situation einstellen kann, wartet Edwards mit einer neuen Sensation auf: Tibor ist ebenfalls nicht der, der zu sein er vorgibt, sondern Eugene Green, ein schizophrener Gelegenheitsdieb, der gemeinsam mit dem echten Wayne Hill von Dr. Tibor behandelt wurde. Er passt wunderbar als Täter in das Mordszenario, doch die Indizien deuten weiterhin ebenfalls auf Chief Edwards hin, der womöglich, wie Julian argwöhnt, die Gelegenheit beim Schopf ergreift, ein perfektes Verbrechen in ein noch perfekteres zu verwandeln.

Hilflos sieht sich Julian in einem unlösbaren inneren Konflikt gefangen. Denn auch die junge Frau hütet düstere Geheimnisse und ist seelisch alles andere als ausgeglichen. Als Kind musste sie hilflos die Ermordung des Vaters erleben; eine Untat, die ungesühnt blieb und Julian dazu trieb, zur Polizei zu gehen. Im eindrucksvollen Edwards fand sie die lange vermisste Vaterfigur – und mehr: Edwards, der sich in einer erloschenen Ehe gefangen fühlt, macht Julian kaum verhohlen Avancen, und sie ist bereit, darauf einzugehen.

Immer rettungsloser beginnen sich falsche und echte Spuren zu verwirren. Chief Edwards scheint durch massive Manipulationen von sich als Täter abzulenken. Julian entdeckt, dass er womöglich Estelle, seine gekränkte Gattin, deckt, die durchaus von der Affäre mit Sarah Langley wusste. Kurz darauf findet sie überzeugende Beweise, die Green entlasten; Edwards behauptet daraufhin, diesen nur verhaftet zu haben, um den wahren Täter in Sicherheit zu wiegen: Im Alibi des echten Dr. Tibor tut sich plötzlich eine entscheidende Lücke auf. Gleichzeitig gibt Green zu, den Mord selbst nie beobachtet zu haben.

Der überaus gelungene Start einer neuen Cop-Krimi-Reihe prunkt mit einer hervorragend geplotteten und zügig erzählten Handlung, präsentiert bekannte, aber mit echtem Leben gefüllte Figuren, spielt vor einer ebenfalls nicht wirklich neuen, aber ökonomisch eingesetzten Kulisse und wird gekrönt durch ein unerwartetes, wirklich spannendes und kluges Finale.

Viel mehr lässt sich über diesen Roman eigentlich nicht sagen, möchte man nicht gar zu viel vorab verraten; muss aber auch nicht sein, wenn einem als Lese-Veteranen so ein feines Stück Krimi-Handwerk unter die Finger kommt. Dass dem so ist und man sich in guten Händen fühlen darf, macht bereits die Lektüre der ersten Seiten klar. Das Figurenensemble ist übersichtlich, der Ort des Geschehens ebenfalls: Geschickt setzt sich Jung-Autor Stone nicht selbst unnötig unter Druck, meidet Action-Leerlauf oder bläht die Handlung mit forensischer Fantasy aus der Wunderwelt des Polizei-Labors auf. Insofern ist „Bittere Wahrheit“ das Exemplar einer selten gewordenen Spezies: ein klassischer Thriller, der nie vorgibt, etwas anderes zu wollen, als seine Leser zu unterhalten, ohne sie dabei für dumm zu verkaufen.

Beinahe ehrfürchtig verfolgt man aber vor allem die Meisterschaft, mit der Autor Stone seine Leser wieder und wieder in Verwirrung zu stürzen weiß. Praktisch auf jeder neuen Seite wird uns ein neuer Verdächtiger präsentiert, der einige Zeilen später entlastet wird, um sogleich erneut in den Mittelpunkt des Misstrauens zu rücken. Diesen bravourösen Balanceakt hält Stone über mehr als 200 Seiten durch, bis er endlich dem wahren Übeltäter die Maske vom Gesicht reißt. Wir ahnen es erfreut: Es erwartet uns erneut eine Überraschung!

Der erfreuliche Inhalt spiegelt sich (wohl unabsichtlich) in dem wirklich gelungenen Titelbild der deutschen Ausgabe wider. Das muss an dieser Stelle einmal hervorgehoben werden, weil gerade die Taschenbücher des |Blanvalet|-Verlags seit viel zu langer Zeit mit kreuzlangweiligen und nichts sagenden aber kostengünstigen Cover-Motiven aus Bildstöcken und ”Image-Bänken” versehen werden: Kunsthandwerk per Mouseklick und genauso sieht es auch aus! Doch hier passt das Bild einer windschiefen, halb zerfallenen und schneebedeckten Holzhaus-Ruine perfekt; nur das Tüpfelchen auf dem i, aber eines, das den Lesespaß abrundet, denn zumindest das Auge des echten Bücherfreundes ruht mit Wohlgefallen selbst auf einem für den raschen Konsum produzierten Taschenbuch, wenn es einen zweiten Blick wert ist!

Jonathan Stone hat seinem Debüt übrigens inzwischen eine Fortsetzung folgen lassen. In „Heat of Lies“ (2001; dt. „Kaltes Gewissen“, Blanvalet TB Nr. 35672) erleben wir eine ältere und erfahrene Julian Palmer, die an ihrer neuen Dienststätte nicht nur einen weiteren rätselhaften Mord aufklären muss, sondern auch ungebetenen Besuch von einem tief gefallenen Winston Edwards erhält.