Charles Stross – Glashaus

Niemand hätte gedacht, dass »Accelerando« sich würde fortsetzen lassen.

Wer aber die Verlagsinformation so versteht – in ihr wird »Glashaus« als kongeniale Weiterführung bezeichnet -, der wird sich enttäuscht sehen. Dieser Roman ist mit »Accelerando« nicht stärker verwandt als mit Cory Doctorows »Backup« – er stützt sich nur auf das Fundament der posthumanen Gesellschaft, das Stross in »Accelerando« entwickelt. Die Zeit der Beschleunigung findet in Form einer Singularität in der menschlichen Gesellschaftsentwicklung Erwähnung und erwächst damit in Stross‘ Vision zu einer unumgänglichen Größe. In dem Sinne kann man »Glashaus« als Fortsetzung bezeichnen, nämlich insofern, als eine Beschleunigung vorangegangen sein muss und in ihrem Zuge die Erde zur Defragmentierung gefunden hat.

In welcher Verbindung steht der Roman mit Doctorows »Backup«? Ziemlich direkt: Auch bei Doctorow können die Menschen Backups ihres Zustandsvektors anlegen und sich im Falle des Todes aus diesen Daten rekonstruieren lassen. Allerdings führt Stross dieses Experiment konsequent fort, denn wo Datenspeicher benutzt werden, besteht auch die Möglichkeit der Veränderung und des Fälschens. »Identitätsklau«: im »Glashaus« das schwerwiegendste Verbrechen.

Der Protagonist, Robin, lebt in einer Nachkriegswelt, die sich für ihre Bewohner als unendlich darstellt. Ob es Weltraumhabitate oder planetare Gebäude sind, ist für sie nicht feststellbar, denn sie bewegen sich nur innerhalb dieser Sphären und überbrücken große Distanzen mit Toren, in denen sie aufgelöst, als Datenpaket verschickt und in einem anderen Tor neu synthetisiert werden. Dabei haben die Menschen die Möglichkeit, alte Erinnerungen löschen zu lassen. Robin scheint sein gesamtes früheres Leben gelöscht zu haben. Nun schließt er sich einem Experiment an, welches das Leben in der Zeit vor der Beschleunigung nachzuvollziehen versucht. Das heißt: keine Assembler, die jede Bestellung produzieren können, keine Backups und damit die Möglichkeit zum echten Tod, kein Zugriff auf das allgegenwärtige Netz.

Im Verlauf der Geschichte rücken immer wieder Erinnerungen an den Krieg in den Vordergrund und machen neugierig. Es sind nicht nur Hintergrundinformationen, aus denen sich diese Zukunft entwickelte, sondern sie haben ganz direkte Beziehungspunkte zur Geschichte. Robin entpuppt sich als Schläfer, der in das Experiment geschleust wurde, um die Machenschaften der als Forscher getarnten Terrorgruppe zu enthüllen. Hier geht es um ein Virus, das sich, über die Tore verbreitet, in die Backups der Menschen einnistet und gezielt Erinnerungen löschen kann.

Stross‘ besondere Stärke sind Charakterisierungen. Seine Protagonisten entwickeln sich sehr individuell weiter und werden zu lebenden Persönlichkeiten, die genau so und nicht anders handeln müssen. Dabei entwickelt gerade der Ich-Erzähler Robin zwei unterschiedliche Seiten, nämlich die der Frau Reeve, deren Handlungsweisen sehr gut einer Frau zugeordnet werden können und deren Stärken auf anderen Gebieten liegen als bei Robin, der männlichen Inkarnation des gleichen Selbst. Dieser Spagat zwischen den Geschlechtern ist faszinierend und von Stross in hoher Kunst dargestellt.

Der Kopf dieses Menschen muss förmlich bersten von abgedrehten Ideen. Jeder einzelne der Romane von Charles Stross ist ein Feuerwerk und nährt sich an Ideen, aus denen andere Autoren ganze Serien fabrizieren. »Glashaus« ist eine Studie menschlichen Verhaltens unter besonderen Bedingungen auf dem schillernden Boden übermenschlicher Fantasie. Wenn sich dem Leser zwischenzeitlich der Vergleich mit dem »Experiment« der Strugatzkis aufdrängt, wird doch schnell deutlich, dass sich hier ganz andere Beweggründe finden und dass ein solcher Vergleich nicht möglich ist. Die fast psychedelischen Aspekte am Strugazki-Roman finden in diesem streng reglementierten Kosmos keine Entsprechung. »Glashaus« ist ein eigenständiger, intelligenter Roman, der sehr deutlich die visionäre Kraft des Autors darstellt.

Originaltitel: Glasshouse
Übersetzt von Ursula Kiausch
Mit Fotos Illustrationen von Stephan Martinière
Taschenbuch, 496 Seiten

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