Williams, Tad – brennende Mann, Der

_Im Bann der Drachenklaue, sehr gut vorgetragen_

„Der brennende Mann“ ist eine psychologisch spannende Episode aus den Tagen nach dem Großen Krieg, den Williams in seinem Bestseller „Der Drachenbeinthron“ und in drei weiteren Romanen erzählt hat: im Osten-Ard-Zyklus.

_Der Autor_

Tad Williams, 1957 in San José (Kalifornien) geboren, hat sowohl mit dem Osten-Ard-Zyklus als auch mit seinem „Otherland“-Zyklus Millionen von Lesern gewonnen. Davor schrieb er aber schon kleinere Werke wie etwa „Die Stimme der Finsternis“ und „Die Insel des Magiers“ (beide bei |Klett-Cotta| verlegt). Sein erster Bestseller hieß „Traumjäger und Goldpfote“. Neben seinen Fantasyromanen schreibt Williams Drehbücher und Hörspiele, erfindet Computerspiele und zeichnet Comics. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in der Nähe von San Francisco.

Die Vorlage des Hörbuchs „Der brennende Mann“, eine 105-Seiten-Novelle, erschien bereits 1998 in Robert Silverbergs lesenswerter Anthologie „Der 7. Schrein“. Weitere Infos zum Autor: http://www.tadwilliams.de.

_Die Sprecherin_

Regina Lemnitz ist die deutsche Stimmbandvertretung von Kathy Bates, Whoopi Goldberg und Diane Keaton. Sie absolvierte ihre Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar, wo sie Schauspiel, Tanz und Gesang erlernte. Seit 1968 hatte sie mehrere Theaterengagements als Schauspielerin im klassischen Bereich, als Sängerin in Musicals und als Kabarettistin u. a. an den Münchner Kammerspielen, dem Schillertheater Berlin, dem Renaissance-Theater Berlin, den Salzburger Festspielen und dem Theater an der Wien.

Seit 1971 ist die vielseitige Schauspielerin auch durch viele Rollen im deutschen Fernsehen bekannt geworden. Sie war u. a. in den Serien „Unser Charly“ (1995-2005), „Dr. Sommerfeld – Neues vom Bülowbogen“ (2001) und „Der Landarzt“ (2004) zu sehen. Als Synchronsprecherin leiht Lemnitz seit Jahren vielen internationalen Stars ihre Stimme – siehe oben. Im Booklet steht, Kathy Bates sei in „Roseanne“ aufgetreten, aber das ist natürlich Unsinn. Kathy Bates und Roseanne (Barr) sind zwei verschiedene, reale Personen. Lemnitz hat beide synchronisiert.

Die Technik steuerte Achmed Chouraqui vom On Air Studio, Berlin.

_Handlung_

|“Die, die hier gelebt haben, Lord Sulis, sind tot. Aber das Gebäude lebt …“|

Im Land Osten-Ard regierten einst die Sithi, eine edle und friedfertige Rasse, zauberkundig und feinsinnig – so etwas wie Tolkiens Elben. Als die Nordmänner brutal in das Land einfielen und die stolze Burg Hochhorst angriffen, sprach Ineluki, der letzte Herrscher der Sithi, einen fürchterlichen Fluch aus. (Diese Geschichte erzählt Tad Williams in seinem vierbändigen Zyklus um Osten-Ard.)

Nun, viele Äonen später, hat der verbannte und glücklose Reiherkönig Lord Sulis in der düsteren, verfallenen Burg Hochhorst Zuflucht vor seinen religiösen Verfolgern gefunden. Er lebt dort mit wenigen Getreuen, seiner einheimischen Frau und seiner Stieftochter Breda, die in seltsamen Träumen von den Geistern der Burg heimgesucht wird. An den Wurzeln des Engelsturms herrschen immer noch die uralten Kräfte der Elben (Sithi) Ineluki und seines Bruders Hakatri.

Heimlich folgt Breda, die uns diese Geschehnisse viele Jahre später als alte Frau berichtet, dem Lord eines Nachts tief hinunter in die unterirdischen Verliese. Bei ihm sind die Hexe Valada, die er gefangen nehmen ließ, und zwei seiner Getreuen, Tellarin und Avalles. Tellarin ist seit Monaten Bredas Geliebter. Daher muss sie unbedingt erfahren, was er und ihr Stiefvater vorhaben, und koste es ihr Leben.

Der Lord, ein so genannter Abtrünniger und Zweifler an der offiziellen Lehre der Kirche von Nabban und deshalb in die Verbannung nach Erkynland geschickt, sucht die Antwort auf eine ganz bestimmte Frage: Wie steht es um die Grundlagen des Glaubens, an dem er zweifelt? Er ahnt nicht, dass seine Stieftochter unwissentlich im Bund mit seinem Feind ist.

Im tiefsten Innern des Engelsturms begegnet er dem „brennenden Mann“, der dort in Todesqualen in einer anderen Dimension verharren muss. Es handelt sich um Hakatri, Inelukis unglücklichen Bruder. Doch die Botschaft, die Lord Sulis von ihm erhält, hat verhängnisvolle Folgen. Wie es die Hexe vorhersagte: Einer muss dafür bezahlen. Breda spielt dabei eine entscheidende Rolle.

_Mein Eindruck_

Wie gesagt, ist die Geschichte ganz und gar aus dem Blickwinkel Bredas erzählt. Sie ist von königlichem Geblüt, aber zusammen mit ihrer Mutter vaterlos und somit verarmt aufgewachsen. Bis eines Tages Lord Sulis in Erkynland auftauchte und ihre Mutter zur Frau nahm. Doch warum musste er nur die heimgesuchte alte Burg wiederaufbauen? Er suchte Antworten, wälzte Bücher und vergaß dabei die Welt – und seine Familie. Auch der Lord ist ein „brennender Mann“, der im Fegefeuer der Verbannung und Ächtung leben muss.

Schon werden Attentäter gegen ihn ausgesandt, von denen Breda natürlich nichts ahnt. Sie ist viel zu sehr mit ihrer ersten großen Liebe Tellarin beschäftigt. Erst als die Hexe Valada eingekerkert wird, merkt sie, was vor sich geht und was auf dem Spiel steht. Die Dinge spitzen sich bis zu jener Nacht zu, die man hierzulande als Walpurgisnacht kennt …

Der Autor erzählt von großen Vorgängen, die die Welt der Menschen prägen, lange nachdem die Sithi-Lords verschwunden sind. Es handelt sich um die Folgen des Aufstiegs der Kirche zur Staatsmacht, die keine Abtrünnigen wie Lord Sulis duldet. Im Gewande eines Fantasyromans wirft der Autor einen kritischen Blick auf zentrale Vorgänge des europäischen Mittelalters.

Dabei wird die Geschichte nie langweilig, denn Breda erzählt sie mit der Weisheit und Ruhe des Alters, wenn sie auf ihr ungestümes fünfzehnjähriges Ich in jener Zeit zurückblickt. Damals befand sie sich in einer Epoche, als uralte Magie, Hexenwissen und neuer Kirchenglaube noch nebeneinander existierten.

Das Dingsymbol dafür ist die „Drachenklaue“, die sie für ihre Mutter kurz vor deren Tod holen sollte. Xanippa, eine ehemalige Hure und jetzt fettleibige Kräuterfrau, gab ihr eine Eulenkralle mit einem Gift, „das man hier auch Drachenklaue nennt“. Hier – das ist im Hochhorst der Ort, wo es zur Zeit der Sithi-Lords einen roten Drachen gab. Und wenn Breda dieses giftige Instrument, das einen schnellen Tod herbeiführen soll, einsetzt, dann ist dieser Akt ein Triumph der magischen alten Welt über die neuen Götter. Lord Sulis verkörpert einen anderen Glauben, die Amtskirche eine andere Variante des neuen Glaubens. Doch alle müssen sich dem uralten Fluch des brennenden Mannes beugen, der die Geschichte dieses Landes symbolisiert: Hakatri. Erlösung gibt es nur um einen hohen Preis.

_Sonstiges_

Das Titelbild ist ebenfalls sehr gelungen. Vor einem karminroten Hintergrund zeigt es eine schwarze Burg, die von bunten Flammen umzüngelt wird. In der Burg schwebt das grüne Gesicht des Geistes, den Lord Sulis beschworen hat.

Die Übersetzung, die der Stephen-King-Spezialist Joachim Körber angefertigt hat, ist sprachlich und stilistisch vom Feinsten. Aber das Wort „Kurtine“ musste auch ich erst einmal nachschlagen. Es bezeichnet einen Gebäudeteil des Hochhorstes: „Teil des Hauptwalles einer Festung“, sagt der |DUDEN|.

_Die Sprecherin_

Regina Lemnitz passt genau zu der Figur der alten Erzählerin Breda: Ihre Stimme klingt tief und gereift, aber durchaus noch kräftig. Das Kunststück, das sie zu vollbringen hat, besteht darin, auch das fünfzehnjährige Mädchen Breda, von dem sie berichtet, zum Leben zu erwecken. Lemnitz hat aber die nötige Freude im Herzen und erinnert sich an den jugendlichen Überschwang des ersten Verliebtseins, um genau das richtige Maß an Wärme in ihre Stimme zu legen, das der jungen Breda zueigen ist.

Aber es gibt jede Menge griesgrämige Leute in dieser Geschichte. Allen voran der grüblerische Lord Sulis, der nach Dingen fragt und forscht, die besser verborgen blieben. Dann ist da das Kindermädchen Ulka, aber sie hat nichts melden, ebenso wenig Xanippa, das Kräuterweib, oder Valada, die falkenartige Hexe. Mögen sie auch lachen oder lästern und jammern, Lemnitz verleiht ihnen stets ein charakteristische Timbre in der Stimme.

Auf diese Weise kann man sie leicht auseinander halten. Nicht dass dies allzu nötig wäre, denn der Autor hat seine Geschichte sauber organisiert. Und da es sich um eine ungekürzte Textfassung handelt, wird jede Figur ordentlich eingeführt. Es gibt keine Überraschungen oder Verwirrung.

Leider gibt es vor, nach und während der Lesung keine Geräusche und auch keine Musik. Letztere würde gut zur zunehmend unheimlicheren Stimmung der Geschichte passen.

_Unterm Strich_

Aufgrund der erneuten, sorgfältigen Lektüre und des Anhörens des Audiobooks konnte ich mein früheres enttäuschtes Urteil über diese feine Erzählung gründlich revidieren. Innerhalb der Anthologie „Der 7. Schrein“ (s. o.) fiel mir die Novelle durch ihren pessimistischen Grundton auf. Das trifft aber nicht für den Ausgang der Ereignisse zu – so viel darf ich verraten. Die Religionskritik, die Williams darin untergebracht hat, ist nicht aufdringlich, sondern im Vordergrund steht stets das Schicksal der genau gezeichneten Menschen.

Anhand der oben genannten Beobachtungen halte ich die kleine Geschichte für einen sehr guten, unterhaltenden Kurzroman, der mit seinem Finale an gewisse Geschichten von Edgar Allan Poe und Geistesverwandten erinnert. Regina Lemnitz liest mit einer flexiblen und gut charakterisierenden Stimme, welche die Erzählzeit ebenso gut darzustellen versteht wie die erzählte Zeit. Ihre gereifte Stimme passt optimal zur Erzählerin Breda, die offenbar schon ein hohes Alter erreicht hat. Es ist, als lausche man einer uralten Kathy Bates, die sich als Märchentante betätigt.

|Originaltitel: The burning man, 1998
Aus dem US-Englischen übersetzt von Joachim Körber
149 Minuten auf 2 CDs|