Tad Williams – Der glücklichste tote Junge der Welt (Otherland 5)

Otherland 5: Igitt, Sex unter Avataren!

Otherland, der vierteilige Zyklus, erhält einen fünften Teil … Der große Weltenschöpfer lüftet neue Geheimnisse aus seiner magischen Welt: Orlando Gardiner, ein unheilbar kranker Jugendlicher, fühlt sich nur lebendig, wenn er Abenteuer im weltumspannenden Netz besteht. Im Netz wurde Otherland errichtet. Dort kämpft Orlando bis zum letzten Moment, um seine Freundin Sam Fredericks und die übrigen Otherlandfahrer zu retten.

Dieser Sieg hat allerdings einen hohen Preis: Orlando und andere müssen dafür ihr leibliches Leben geben. Doch im Otherland-Netzwerk ist selbst der Tod keine völlig eindeutige Angelegenheit. Als eine Frau auftaucht, die behauptet, von Orlando schwanger zu sein, und gleich darauf wieder verschwindet, wird die Aufgabe, in Otherland zu leben, für den Weltenläufer wieder sehr spannend.

Der Autor

Tad Williams, 1957 in San José geboren, hat sowohl mit dem Osten-Ard-Zyklus – seiner Antwort auf Tolkiens [„Herr der Ringe“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=1330 – als auch mit seinem Otherland-Zyklus Millionen von Lesern gewonnen. Davor schrieb er aber schon kleinere Werke wie etwa „Die Stimme der Finsternis“ und „Die Insel des Magiers“. Sein erster Bestseller hieß „Traumjäger und Goldpfote“. Sein Hauptwerk ist die vierbändige „Otherland“-Saga, sein neuester Roman trägt den Titel „Shadowmarch“. Fast alle seine Bücher wurden bei Klett-Cotta verlegt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von San Francisco.

Der Sprecher

Matthias Koeberlin, geboren 1974, absolvierte die Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam. Im Jahr 2000 erhielt er den Günter-Strack-Fernsehpreis. Er spielte den Stephen Foxx in der ProSieben-Verfilmung des Bestsellers [„Das Jesus-Video“.]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=267 Für seine Interpretation der Hörbuchfassung von Eschbachs Bestseller wurde er für den Deutschen Hörbuchpreis des WDR (2003) nominiert.

Der Hessische Rundfunk produzierte das Hörbuch zusammen mit dem Hörverlag, und Marlene Breuer führte Regie. Die Technik steuerten Burkhard Müller-Ullrich von Braunsfeld Broadcasting sowie Holger Mees vom Hessischen Rundfunk.

Vorgeschichte

Eine Gruppe von Superreichen hat sich unter Führung von Mr. Jongleur eine künstliche Welt namens OTHERLAND im weltweiten Datennetz geschaffen. Dort werden ganze Unterwelten simuliert und von künstlichen Verkörperungen, so genannten Avataren, bevölkert. Diese sind programmierte Simulationen, die meist nicht über ihre Existenzform Bescheid wissen. Sinn und Zweck OTHERLANDs ist es, den Leuten um Jongleur eine Form der Unsterblichkeit zu verschaffen – auf Kosten des Rests der Welt.

Dass es Widerstand gibt, kann nicht ausbleiben. Er wird unter anderem von Peter Sellars, Hideki Kunohara, Paul Jonas sowie von Orlando Gardiner und seiner Freundin Sam Fredericks angeführt. Orlando, ein todkranker Junge, und Fredericks, ein kluges Mädchen, haben die Avatare eines Kämpferpaars in ihrer Welt namens Mittland gewählt, als sie in die Ereignisse um das Schicksal OTHERLANDs hineingezogen werden.

Kurz und gut: Der Widerstand siegt, die Jongleure werden vernichtet, das alte Betriebssystem muss dran glauben. Doch die alte Welt mag zwar untergegangen sein, aber sie hat zahlreiche Reste hinterlassen, so genannte Schatten …

Handlung

Der Weltenläufer Orlando Gardiner hat sich in Gestalt seines Avatars Taragorn ins idyllische Bruchtal in der Tolkienwelt Mittelerde zurückgezogen. Hier unterhält er sich gerne mit Elrond und lauscht Elbengesängen. Doch sein elektronischer Agent Beezle verlangt seine Aufmerksamkeit in einer dringenden Angelegenheit. Verkleidet als Halbling Bongo Fusselmussel ruft er ihn zur jährlichen Konferenz der Weltenläufer in einem Londoner Klub.

Orlando hat die alleinige Verantwortung für 398 übrig gebliebene Welten und ist entsprechend beschäftigt. Vor der Klubkonferenz hat er dennoch Zeit für ein Gespräch mit seiner Freundin Sam Fredericks. Allerdings muss er von ihr erfahren, dass sie wieder einen Freund habe – in der Außenwelt, einen Ort, an den Orlando nicht mehr zurückkehren kann, weil sein Körper vorzeitig gealtert ist und das Zeitliche gesegnet hat. Schon drei Jahre lebt er in OTHERLAND. Wird er für immer in dieser Peter-Pan-Spielzeugwelt als Vierzehnjähriger leben? Sie zeigt sich auf sein Bitten in ihrer „wahren“ Gestalt. Wow, sie sieht jetzt wesentlich, ähm, fraulicher aus, runder. Und ist jetzt ein Jahr älter als er *schluck*.

Auch ein Besuch bei seinen Eltern ist noch zu realisieren, bevor die Klubsitzung beginnt. Vivien und Conrad haben sich etwas Besonderes einfallen lassen. Er kann jetzt einen kompletten Roboterkörper steuern, wenn er bei ihnen sein will. Es ist ihm hochgradig peinlich, wie unbeholfen sich dieser Körper bewegen lässt. Aber das kann er ihnen bzw. ihren Avataren natürlich nicht sagen, denn sie meinen es nur lieb mit ihm.

Die Klubsitzung findet in einem viktorianischen Klub Ende des 19. Jahrhunderts statt und wird von einem würdevollen Mann namens Sir Reginald Delimoux eröffnet. Jeeves, der Klubbesitzer, will Orlando, der sich hier Mr. Roland nennt, sprechen und führt ihn zu einer jungen Dame, die einen gewissen Orlando Gardiner sucht. Sie ist ein Botticelli-Engel: schön, aber bleich, mit großen Rehaugen, offenbar ein „Schatten“ von Jongleurs Tochter Aviale. Von ihr gibt es zig Inkarnationen, die sich meist jedoch an die Avatare von Paul Jonas geheftet haben. Was will sie also hier?

Sie stellt sich als Livia Bart vor und sei völlig verzweifelt, lebe sie doch neuerdings in Schande! Wie das, will Mr. Roland wissen, der sich als Kontakt zu Orlando ausgibt (aus gutem Grund). Sie antwortet tränenreich: Weil sie zwar unverheiratet, aber schwanger sei – von Orlando Gardiner! Bevor Mr. Roland noch Piep sagen kann, löst sie sich in Luft auf.

Er steht vor einem Rätsel. Und Rätsel müssen unbedingt gelöst werden. Eine Odyssee durch die Welten von „Livia Bart“ beginnt.

Mein Eindruck

Dass sich Tad Williams immer wieder mit Tolkien auseinandersetzt, dürfte sich herumgesprochen haben. Seine komplette Osten-Ard-Tetralogie – immerhin fast 4000 Seiten – ist eine einzige Widerlegung von Tolkiens „Herr der Ringe“. Und „Otherland“ lässt sich als eine weitere Etüde über das Thema des Subkreators, eines sekundären Schöpfers von Kunstwelten, auffassen.

Ohne jetzt ins Detail gehen zu können, hat Williams eine ganze Menge am „Herr der Ringe“ auszusetzen, nicht zuletzt an der fast vollständigen Abwesenheit dominanter Frauen. Nur Galadriel fällt in diese Kategorie, Eowyn von Rohan muss sich als Mann verkleiden, und Arwen Undómiel kommt in Tolkiens Roman nur in den Anhängen vor. (Wer bisher meint, Peter Jacksons Verfilmung sei irgendwie werkgetreu, sollte wirklich mal die Vorlage lesen!)

Sex in anderen Welten

Kam aber Sex schon im „Herrn der Ringe“ überhaupt nicht vor, so auch nicht in den „Otherland“-Romanen, höchstens in zahlreichen Anspielungen. Also musste hier noch etwas kommen, das die Gretchenfrage „Wie hältst du’s mit dem Sex?“ beantwortet. Dass auch ein toter Junge Sex haben könnte, wird in diesem herrlich witzigen Kammerspiel in mehreren Aspekten durchgespielt und zur letzten Konsequenz geführt.

Orlando Gardiner ist ja, wiewohl in der Außenwelt tot, in Otherland nicht irgendwer, sondern das oberste Gesetz. Mit anderen Worten: ein Halbgott. Der erste Witz besteht darin, dass diesem Halbgott jemand einen Streich spielt. Dauernd tauchen in diversen Welten junge Frauen auf, die behaupten, von Orlando schwanger zu sein. Und nicht nur ihm geht es so: Auch Sir Reginald Delimoux ist zu seinem Leidwesen betroffen. Er soll gleich zwei Damen des Klubs „beglückt“ haben.

Der zweite Witz besteht in der Antwort auf die Frage, wie sich eigentlich künstliche Wesen überhaupt fortpflanzen können. Eigentlich bestehen sie ja bloß aus Bits und Bytes, eine Ansammlung aus Nullen und Einsen. Wie kann da Fortpflanzung stattfinden? Ist die Schwangerschaft der Aviale-Schatten nur Einbildung, sozusagen ein Bug im Programm dieser Avatare?

Um mehr herauszufinden, befragt Orlando den findigen Japaner Hideki Kunohara. Doch dessen Antworten sind so verwickelt und komplex, dass Orlando eine ganze Weile braucht, bis er sie verstanden und in ihren Konsequenzen durchdacht hat. Um das zu überprüfen, jagt er weitere schwangere Jungfrauen. Mit Sam führt er ein abschließendes Gespräch. Es ist nicht von der Hand zu weisen: Orlando wird Conrad zum Opa machen, etwa vierzig- bis fünfzigmal. Wer wissen will, wie sich Avatare fortpflanzen, muss selber hören.

Mehr Spaß mit Tolkien

Der Autor erlaubt sich mit Tolkien wieder seine derben Späße. Dass die Zwerge eine Riesensauerei in Bruchtal anrichten können, war eigentlich zu erwarten. Schließlich können sich Zwerge, die Baumkiller, und Elben, die Baum-Umarmer, nicht riechen. Dass aber eine hochschwangere Elbenfrau auf diesem Fest auftritt, gibt der Sache noch mal einen witzig-ironischen Dreh. Schwangere mit dickem Bauch kommen in Tolkiens Schriften nirgendwo vor.

Und wenn Frauen doch mal schwanger sind, dann unter garantiert dubiosen Bedingungen: Níniel, Túrin Turambars Schwester, ist von ihm schwanger. Dass sie diesen Frevel nicht lange überleben darf, ist ja wohl klar. Armes Ding. Schwangerschaften fanden unter den Old Boys von Oxford, mit denen Tolkien zusammenhockte, stets privatissimo statt. Eine Elbenfrau mit dickem Bauch auftreten zu lassen, ist also eine ganz schöne Frechheit, die sich der Autor herausnimmt. Aber auch witzig.

Human interest

Aber es gibt auch wirklich bewegende Szenen in diesem kleinen Kammerspiel von 140 Minuten Länge, das der Hessische Rundfunk produzierte. Die zwei langen Szenen zwischen Orlando und Sam Fredericks sind wunderschön, gefühlvoll und anrührend gestaltet. Orlando merkt nämlich, dass es mit der Zeit eine merkwürdige Sache ist. Sie vergeht nicht nur relativ, wenn es um den Unterschied zwischen Außenwelt und Otherlandwelt geht – in Letzterer altert man nicht.

Die Zeit wirkt sich auch anders aus, wenn es um den biologischen Status außen und innen geht: In Otherland wird man normalerweise weder Vater noch Mutter, es sei denn durch einen Willensakt von außen, sozusagen durch Gott. Nun aber hat Orlando herausgefunden, dass es auch innerhalb einen Weg zur Evolution gibt. Und das verändert sein Peter-Pan-Spielzeugland von Grund auf und macht es für unvorhergesehene Entwicklungen bereit. Wie heißt es doch in „Terminator 2“? „Die Zukunft ist nicht festgelegt, sondern die, die wir uns erschaffen.“ Jetzt erst ist die eigentliche Befreiung Otherlands geglückt – mit allen Sonnen- und Schattenseiten, die Freiheit mit sich bringt.

Der Sprecher

Matthias Koeberlin hat sich in den letzten Hörbüchern kontinuierlich gesteigert. Indem er sich an der Vortragskunst seines Kollegen David Nathan („Johnny Depp“) angenähert hat, beherrscht er nun die Kunst der stimm- und sprachlichen Charakterisierung von Figuren wie auch die situationsabhängige Darstellung.

Die besten Gelegenheiten, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, bieten sich bei Orlandos Begegnungen mit den Schwangeren. Livia Bart, das „gefallene Mädchen“ (wie sich die Viktorianer ausdrückten), tritt verzweifelt und tränenreich auf. Der Sprecher bietet alle Emotionalität auf, um ihre wenigen Sätze so eindringlich wie möglich zu machen. Ähnlich ist die Szene mit Violet Jurgens gestaltet, die sich vor Orlando derart fürchtet, dass sie verschwindet, sobald er ihren dicken Bauch berührt. Der Sprecher intoniert sie ebenso eindringlich, und ihre Angst ist deutlich zu hören.

Zeit für ein bisschen Spaß. Den bringt Orlandos Agent Beezle ein, der sich unter anderem als Halbling (vulgo: Hobbit) Bongo Fusselmussel verkleidet. (Frodo sollte in der ersten Fassung des „Herrn der Ringe“ Bingo heißen). Beezles Stimme klingt quäkend und hoch, ein wahrer spöttischer Quälgeist, der die Würde seines Herrn allein schon durch seine Existenz in Frage stellt. Und als sich Beezle auch noch erlaubt, seine 2600 Subagenten als kleine Kätzchen zu kreieren, die alle einen kleinen schwarzen Zylinderhut tragen, dürfte es Zeit für einen weiteren Lachanfall sein.

Koeberlins riskantes Meisterstück ist aber die Gestaltung des Japaners Hieki Kunohara. Um dessen Sprechweise nachzuahmen, muss er nicht nur das R wie ein L rollen, sondern auch noch eine fast schon salbungsvolle Satzmelodie intonieren. Als Orlando diese Sätze gegenüber Sam Fredericks zitiert, geben sie ziemlichen Anlass zu einem spöttischen Kommentar.

Das Hörbuch verfügt weder über Geräusche noch Musik und wird allein durch den Vortrag gestaltet. Wer über die nötigen Hintergrundkenntnisse verfügt, dürfte sich dennoch amüsieren.

Unterm Strich

Sex zwischen Avataren? Igitt, meint Sam Fredericks entsetzt. Finden wir auch, finden es aber trotzdem höchst interessant. Die Gretchen-Frage, wie hältst du’s mit dem Sex, findet nun endlich eine witzige und höchst amüsante Antwort. Das Hörbuch ist ein Kammerspiel, das seinen Schabernack mit dem Elfenpack zu treiben weiß, aber auch eine faszinierende Idee für die Fortpflanzung von künstlichen Simulationen, vulgo: Avataren, unterbreitet. Natürlich können einem die „Gateways“, die dabei eine zentrale Rolle spielen, ziemlich schlüpfrig erscheinen, doch es ist ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Ich weiß nicht, welche Probleme die Amazon-Kommentatoren mit dem Verständnis dieses Hörbuchs hatten, dass sie es so schlecht bewerteten. Vielleicht fehlt ihnen die eine oder andere Hintergrundinformation, ohne die man das Stück nicht vollständig verstehen kann. Natürlich sollte man den Otherland-Zyklus kennen, um zu wissen, wer Orlando Gardiner & Co. ist. Sodann ist ständig die Rede von einer Tolkien-Erde. Also sollte man zumindest mal die Jackson-Verfilmung des „Herrn der Ringe“ gesehen haben. Wenn es dann immer noch nicht klingelt, sollte man sich mit dem Konzept einer Simulation und eines Avatars vertraut machen, etwa durch einen Besuch in Second Life. Das wäre aber das absolute Minimum, besser und bequemer wäre das Spielen eines anspruchsvollen Computergames.

Ich habe mich jedoch sowohl emotional angerührt gefühlt als auch intellektuell unterhalten. Das Konzept der Fortpflanzung von Avataren ist nicht einfach zu verstehen, obwohl es so einfach wie möglich formuliert ist. Die Story lässt kaum Fragen offen. Durch die Witze auf Kosten Tolkiens habe ich mich sehr amüsiert. Aber in dieser Hinsicht sind vielleicht manche Tolkienfans etwas dünnhäutig und fühlen sich beleidigt.

Das Hörbuch wird allein durch Koeberlins Vortrag gestaltet, und den fand ich sehr gelungen. Er kann mehrere Figuren gut charakterisieren und emotional intensive Situationen angemessen gestalten. Sein Meisterstück ist sicherlich der japanische Akzent von Kunohara, aber auch die Stimmen von Renzi und Beezle sind nicht zu verachten.

Warum der Hörverlag keine Textquelle angibt, verstehe ich wirklich nicht. Schließlich sollte man dem Hörer doch Gelegenheit geben, diesen Text bei Interesse mal nachzulesen.

140 Minuten auf 2 CDs
Aus dem US-Englischen übersetzt von Hans-Ulrich Möhring
Besprochene Auflage: April 2007
www.hoerverlag.de