Wolfgang Jeschke (Hg.) – Ikarus 2002. SF-Erzählungen

Classic Science Fiction: humanistische Erzählungen, die jeder versteht

Wolfgang Jeschke, der ehemalige Herausgeber der SF- & Fantasy-Reihe im Heyne-Verlag, hat als seine letzten Herausgebertaten drei Bände mit den besten SF-Erzählungen veröffentlicht:

1) Ikarus 2001
2) Ikarus 2002
3) Fernes Licht

Die Beiträge in diesen drei Auswahlbänden stammen von den besten und bekanntesten AutorInnen in Science Fiction und Phantastik. In diesem zweiten „Ikarus“-Band sind Beiträge aus den Jahren 1941 bis 1992 vertreten.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science-Fiction-Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Sein erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981), befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Jeschke verstarb im Juli 2015.

Die Erzählungen

1) A. E. van Vogt: Die Wippe (The Seesaw, 1941)

Van Vogts Storys waren u. a. deshalb so beliebt, weil sie kompliziert und stets überraschend bzw. verblüffend waren. So auch hier. 3000 Jahre in der Zukunft, in einem Planetenimperium unseres Sonnensystems. Es gibt eine Zeitwippe, die einen Menschen abwechselnd in die Zukunft und in die Vergangenheit schleudert und ihn schließlich zur Ursache für die Entstehung von Planeten werden lässt. Es gibt einen Unsterblichen mit einem Arsenal geheimer Erfindungen, Zeitparadoxa, eine außerirdische Spinnenrasse, die den Menschen weit überlegen ist – und einiges andere mehr.

Hintergrund dieser „Räuberpistolen“ ist ein Kaiserreich der Zukunft, dessen Herrscherin Innelda in ihrer Machtvollkommenheit durch die Gilde der Waffenschmiede eingeengt wird, die den Kaiserlichen immer ein gutes Stück voraus sind, was Wissenschaft und Technik angeht. Die Schmiede arbeiten auf zwei Ebenen: In über das ganze Land (der Zentralwelt) verteilten Waffengeschäften erhalten Bürger zu niedrigen Preisen Schusswaffen, die nur der Selbstverteidigung dienen können.

Außerdem verhilft ihr geheimnisvoller Gerichtshof betrogenen Bürgern zu ihrem Recht. Die abwesenden Angeklagten, meist Firmen, werden im Schnellverfahren verurteilt und bestraft. Die Waffenschmiede sind mächtig genug, sowohl die Urteile durchzusetzen als auch ihre Läden den Zugriffen der Kaiserin zu entziehen.

Das System Kaiserhaus/Gilde, das einen Balancezustand schaffen soll, wurde einst von dem Unsterblichen Robert Hedrock ins Leben gerufen und seither von ihm aus dem Hintergrund überwacht.

Die Story

In der amerikanischen Stadt „Middle City“ ereignen sich in „Die Wippe“ merkwürdige Dinge. Als ein Waffenladen auftaucht und später wieder verschwindet, heftet sich der Reporter Chris McAllister an die Fersen dieses Phänomens. Wir erfahren praktisch nichts über ihn, sondern nur über sein Schicksal. Eine Art Zeitwippe schleudert ihn Millionen Jahre in die Vergangenheit. Um den Preis seines Lebens verursacht er die Entstehung des Sonnensystems.

Diesen Vorgang nennt Stanislaw Lem „Autokreation“, Selbsterschaffung des Menschen und seiner Umwelt. Wie kann der Kosmos denn aus Nichts entstanden sein – es muss eine Zutat, ein Etwas gegeben haben. Also beschließt ein Wisenschaftler in ferner Zukunft, ein einziges Elektron entgegen dem Zeitstrom in die ferne Vergangenheit zurückzuschießen, um den Urknall auszulösen – soweit die Theorie Lems. Dieser Mensch spielt Gott.

Van Vogts Lösung sieht jedoch so aus: McAllister wird unfreiwillig in die Lage eines Gewichts am Ende einer Zeitwippe versetzt; bei jeder Schwingung der Wippe lädt sich dieses Gewicht mit einem immer größerer Energiepotenzial auf. Es explodiert schließlich in unvorstellbarer Vergangenheit und löst jenen Urknall aus, dem auch das Sonnensystem seine Entstehung verdankt.

Doch bereits 1949 wurde dieses Szenario widerlegt: Zur laufenden Vergrößerung des Ausschwingens der Wippe müsste dem System ständig neue Energie zugeführt werden – woher soll die aber kommen? Darüber verliert van Vogt kein Wort.

2) Walter M. Miller: Crucifixus Etiam (dito, 1953)

Auf dem Mars sind Bauarbeiter und Ingenieure dabei, Sauerstoffvorräte für die Anreicherung der dünnen Atmosphäre abzuzapfen. Die Bauarbeiter kommen zwar aus irdischen Gegenden mit dünner Luft, wie etwa peru oder Tibet, doch sie müssen trotzdem mit einem Luftanreicherungsgerät versorgt werden. Dieser Oxigenator wird direkt in ihre Lunge eingestöpselt. Es sieht aus, als wäre der Mann gekreuzigt worden. (Der Titel der Geschichte lautet übersetzt „Auch ich bin gekreuzigt“.)

Manue Nanti ist Peruaner und sehnt sich nach seiner Heimat auf der Erde. Lange Monate muss er jedoch schuften, bis er umfällt. Dann stellt ihn der Vorarbeiter, ein „Niederdeutscher“, wieder an die Arbeit. Doch Manue fragt sich und andere, was die Erde von all dem hat, was man hier ausgräbt.

Dass es um die Zukunft des Mars geht, erfährt er erst, als der Lohn seiner Arbeit, das Tritiumeis, in die Luft fliegt und die Atmosphäre anreichert. Als man ihm sagt, dass es 800 Jahre dauern wird, bis die Luft für Erdlinge atembar ist, weint Manue Nanti. Er wird diese Zeit nicht erleben. Aber zu Erde kann er auch nicht mehr zurück: Seine Lungen sind inzwischen zu sehr verkümmert. Jetzt ist der Rote Planet seine Heimat.

Mein Eindruck

Mit deutlichen christlichen Untertönen stilisiert der Autor den einfachen Bauarbeiter von der Erde zu einem Märtyrer hoch, der sein Leben opfert, damit andere, die nach ihm kommen, leben können wie auf der Erde, die einst auch seine Heimat war. Diese Untertöne wären kaum zu ertragen, würde die Geschichte nicht durch ihren bitteren Realismus überzeugen, der von authentischer Sachkenntnis zeugt. Miller könnte selbst auf dem Bau gearbeitet haben, nachdem er sein Ingenieursstudium abgeschlossen hatte. Er flog im 2. Weltkrieg mehrere Bombereinsätze.

Durch diese und ein Dutzend weitere Geschichten half Miller, die Technikverliebtheit des Herausgebers John W. Campbell jr. zu überwinden, der die SF der vierziger Jahre dominiert hatte. Autoren wie Pohl, Kornbluth und Harness fügten weitere sozialkritische Aspekte sowie die Beschäftigung mit den Humanwissenschaften hinzu, um Campbells Erbe zu überwinden.

3) J. G. Ballard: Die Wolkenbildner von Coral D (The Cloud Sculptors of Coral D, 1967)

An der Autobahn nach Lagoon West erheben sich die Wohntürme wie weiße Pagoden. Wohnturm Coral D beherbergt eine Künstlerkolonie: die Wolkenbildner. Die drei Segelflieger segeln mit ihre Flugdrachen durch die Thermik, die an dem Wohnturm emporsteigt und durchschneiden die Wolken darüber, um sie (mit Hilfe von Silberjodid) zu Skulpturen zu formen. Alles geht gut, bis eines Tages die ebenso reiche wie wahnsinnige Leonora Chanel auftaucht.

Leonora Chanel ist eine Milliardärserbin von der französischen Riviera. Von ihrer Sekretärin Beatrice erfährt Major Parker, der Gründer des kleinen Fliegerklubs, dass Leonora im Ruch steht, beim Selbstmord ihres reichen Gatten ein wenig nachgeholfen zu haben. Außerdem stellt sich heraus, dass von den drei Fliegern – Parker bildet die Bodenmannschaft und den Agenten – Nolan, der Künstler, bereits mal Streit mit ihr hatte: Ihr gefiel sein unschmeichelhaftes Porträt nicht. Van Eyck, der Schürzenjäger, wird ihr neuester Lover.

Am schlimmsten aber trifft ihr Zorn Petit Manuel, den zwergwüchsigen Flieger. Sie verachtet Kleinwüchsige als „Krüppel“. Die Folgen ihrer arroganten Selbst- und Rachsucht führt bei einer Privatvorstellung zu ihren Ehren zu einer Katastrophe. Nicht nur für die Flieger, sondern auch für sie selbst.

Mein Eindruck

Eine der besten (und bekanntesten) Erzählungen des Wortmagiers Ballard! Die Metaphern und Vergleich sind von erlesener Bissigkeit, die sexuellen Untertöne schreien geradezu nach Erlösung, die Katastrophe erfolgt in Form eines Tornados – einfach erstklassig. Dies ist – wie auch die anderen Storys – die ultimative verbale Vernichtung des mondänen Jet Sets, wie er sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an der Cote d’Azur etablierte.

Eine ideale Ergänzung zu Jean-Luc Godards Spielfilm „Die Verachtung“ mit Brigitte Bardot, Michel Piccoli, Jack Palance und dem alten Fritz Lang. Nur dass bei Ballard die Bildsprache ebenso ausgefeilt ist wie die tatsächlich gesagten Sätze und alles durch die Metaphern zugleich überhöht und vertieft wird. Wer würde schon eine reiche Erbin mit Schlangen und Madonnen verbinden? Am besten gleich Bob Dylans LP „Subterranean Homesick Blues“ von 1965 als Soundtrack auflegen! Das ist auch von Madonnen und Zwergen die Rede.

4) Poul Anderson: Herrin der Luft und der Dunkelheit (Queen of Air and Darkness, 1971)

Die Siedlerwelt Roland friert unter der Sonne Charlemagne: Der Winter beginnt, und ein halbes Jahr wird die Sonne den Erdteil Arctica nicht mehr wärmen. Zwei Monde bescheinen das nur von einer halben Million Menschen besiedelte Land, die andere halbe Million lebt in der Hauptstadt Christmas Landing.

Die Siedler munkeln seit über hundert Jahren von unheimlichen Aliens, die draußen in der Einöde leben. Bisher hat die Biologin Barbro Engdahl Cullen nicht an diese „Märchen“ geglaubt, doch vor drei Jahren wurde ihr Mann Tom von einem „Einhorn“ aufgespießt und jetzt, jetzt ist ihr auch noch dreijähriger Sohn Jimmy verschwunden. Es sieht ganz so aus, als seien die Ureinwohner daran schuld. Aber die gibt es offiziell gar nicht, denn sonst hätte diese Welt gar nicht besiedelt werden dürfen…

Da es auf Roland kein Polizei-Hauptquartier, sondern nur einen Sheriff, gibt, wendet sie sich an den einzigen Privatdetektiv. Der kühle Pfeiferaucher Eric Sherrinford, der hier erst ein Dutzend Jahre lebt, kann sie schon nach wenigen Minuten mit ihr mit ihrer Familien- und Lebensgeschichte überraschen; er ist ein würdiger Nachfolger eines gewissen Londoner Meisterdetektivs. Nach ein paar Fragen übernimmt er den Auftrag, ihren Sohn zu suchen, aber nur, wenn sie ihm hilft. Eine Assistentin einzulernen wäre viel zu teuer, findet er.

Zusammen machen sie sich auf den Weg ins eisige, verbotene Dunkelland…

Mein Eindruck

Obwohl die erste Hälfte dieser preisgekrönten Novelle (NEBULA Award 1971) sehr rational daherkommt und voll vernünftiger Streitgespräche steckt, die die Existenz der Aliens erörtern, entschädigt die zweite Hälfte mit einem actionreichen geschehen. Denn in der Wildnis sind die beiden Protagonisten schnell von den Fremden umzingelt. Dann wird Barbro entführt.

Das wichtigste Geheimnis, das es nach der Entdeckung der Aliens zu lüften gilt, lautet: Warum entführen die Ureinwohner überhaupt junge Menschen und ziehen sie bei sich auf, wie es der Sage nach das keltische Elfenvolk tut? Diese Praxis wird in einem uralten Lied vom jungen Arvid besungen, an dessen Herkunft sich die Siedler nicht mehr erinnern können. Arvid wird von der „Herrin der Luft und Dunkelheit“ beansprucht. Doch wer ist diese Königin?

Sherrinford fallen diese kulturellen Gegensätze zwischen technologischer Moderne der Städter, der mittelalterlichen Kultur der Pioniere und der Ur-Natur der Aliens auf. Als Stimme der Vernunft und des Autors selbst weist er im Dialog mit Barbro, seiner Stichwortgeberin, auf die Unterschiede hin. Es ist ja geradezu, als befänden sie beide sich in einem „Mittsommernachtstraum“, komplett mit Titania, Puks und Elfen. Aber existieren diese Fabel-Wesen und die Legenden, die sich um sie ranken, wirklich?

Oder nutzen die telepathisch begabten Ureinwohner nur aus, um in menschlichen Köpfen entsprechende Illusionen zu erzeugen? Die zentrale Frage über dieses Thema liefert der Detektiv selbst: „Wir leben mit unseren Archetypen [er ist ja selbst einer], aber können wir auch in ihnen leben?“ Der Mensch nimmt schließlich seine Archetypen mit sich hinaus ins Weltall.

Die Antwort liefern die entführten Kinder: Der Übergang geht reibungslos, und Barbros Kind ist der beste Beweis. Er will gar nicht mehr zurück zu den Menschen. Seine Akkulturation bzw. Gehirnwäsche ist ein voller Erfolg. Diese Aussage lässt sich ohne Weiteres auf die verschiedenen Kulturkreise der Erde übertragen. Der von Dänen abstammende Autor ist der beste Beweis dafür.

5) Gene Wolfe: Der fünfte Kopf des Zerberus (The Fifth Head of Cerberus, 1972)

Schauplatz ist ein fernes Sonnensystem, das aus zwei Planeten besteht, die von französischen Aussiedlern kolonisiert wurden. Die Franzosen rotteten die Aborigines auf Sainte Anne aus, die wahrscheinlich Gestaltwandler waren. David ist ein Junge auf dem Planeten Sainte Croix und ein Nachkomme in der fünften Generation von nicht näher beschriebenen Vorfahren (möglicherweise Aborigines), er ist aber auch ein Klon seines Vaters, eines Bordellbesitzers und Regierungsagenten.

Der namenlose Ich-Erzähler wird von seinem Vater Nummer Fünf genannt. Zusammen mit seinem Bruder David wird er von einer Menschmaschine namens Mr. Million unterrichtet, und sein Spezialgebiet ist die Biologie. Ab seinem siebenten Geburtstag bittet ihn sein Vater allnächtlich zu sich, damit er Reden halte und erzähle. Das stundenlange Erzählen raubt dem Jungen den Schlaf und führt zu immer stärker werdenden Aussetzern des Wachbewusstseins.

Als er in die Pubertät kommt, macht ihn sein Vater zu designierten Nachfolger und lässt ihn als Portier arbeiten. In dieser Funktion begrüßt er die Freier, die zu den Mädchen wollen. Eines Tages kommt ein Fremder von der Erde, der nach Madame Aubrey Veil fragt. Der Junge ist erst verdattert, denn er kennt diese Frau nicht in seinem Haus, doch John Marsch, so nennt sich der Fremde, bleibt dabei. Dunkel erinnert sich der Junge, mit seiner Tante Jeannine, der Dame des Hauses, über die Veil-Theorie gesprochen zu haben.

Dieser zufolge haben die Aborigines, lauter Gestaltwandler, die französischen Siedler gleich nach der Landung massakriert und ihre Gestalt angenommen. Den Unterschied würde man heute, 150 Jahre später, nicht mehr bemerken. Wie sich herausstelt, sind die Tante und Madame Aubrey Veil ein und dieselbe Person. Das haut ihn echt von den Socken. Welche Geheimnisse mag sein Haus noch bergen?

Er freundet sich mit dem Mädchen Phaedria an, das im gleichen Alter ist, und zusammen mit David gründen sie eine Theater AG. Schon nach der ersten Sommersaison stecken sie bis zum Hals in Schulden und suchen einen Ausweg. Sie hören von einem Spieleveranstalter am Fluss und brechen nachts bei ihm ein. Vorbei an Kampfhunden, – hähnen und -sklaven gelangen sie in ein größeres Gemach, in dem eine große Truhe steht. Bingo, der Reichtum ist zum Greifen nahe. Dumm nur, dass ein vierarmiger Zerberus die Truhe bewacht. Der Kampf mit diesem beinahe menschlichen Wesen kostet David um ein Haar das Leben. Unserem Chronisten kommt erst später – er hat eine ganze Jahreszeit vergessen – der Gedanke, dass der Wächter nur ein weiterer Klon seines Vaters ist. Wie viele mag es noch davon geben?

Gemeinsam beschließen er, David und Phaedria, dass der Herr des Hauses „Cave Canem“ sterben soll, damit sie endlich frei und reich sein können. Doch das ist nicht so einfach wie gedacht…

Mein Eindruck

Die Kultur, die Nummer Fünf auf Sainte Croix schildert, erinnert an eine Kombination aus dem Paris des Fin de siècle und aus der Antike, als Sklaven gehandelt wurden, als seien Menschen nur Tiere. Auch in Port Mimizon werden Frauen, deren Ehe gescheitert ist – etwa weil sie kein Kind bekamen – oder die keine Mitgift hatten, kurzerhand verkauft, wenn sie sich nicht gleich selbst prostituieren. Für all dies zeigt Nr. Fünf durchaus Verständnis, denn er kennt ja nichts anderes.

Das Kloning ist seinem Vater perfektioniert worden, denn die Einnahmen aus dem Bordellbetrieb steckt er in sein Labor und seine genetischen Experimente. Denn der Vater ist sehr unzufrieden damit, dass es mit der menschlichen Zivilisation auf Sainte Croix einfach nicht vorangeht. Reformen werden abgelehnt, und es herrscht eine milde Form der Militärdiktatur (mehr dazu in „V.R.T.“). Kurzum: Die Entwicklung der Gesellschaft stagniert. Schlimmer noch: Die Bevölkerungszahl nimmt stetig ab. Daher herrscht ein Bedarf für Klone und modifizierte Menschen wie etwa Prostituierte oder Kampfsklaven.

Es ist John Marsch, der auf das grundlegende Problem hinweist, das mit verbreitetem Kloning von Menschen einhergeht: Das Phänomen der „Relaxation“, das man aus der Physik kennt, erlaubt nur eine Annäherung an den angestrebten Wert, nicht aber sein Erreichen. Selbst wenn also Nr. 5 als Nachfolger seines Vaters Unmengen von Klonen herstellen würde, könnte er nie sein menschliches Ideal erreichen. Und wozu sollte er überhaupt Klone herstellen? Nerissa und Phaedria kommen ja ungebeten zu ihm, um mit ihm „Familie“ zu spielen.

Kloning wirft ein begleitendes Problem auf: Der geklonte Mensch verfügt über die biologische Identität seines Elters, muss also danach streben, sich auf andere Weise zu individualisieren. Das gelingt Nr. 5 aber nicht, wenn ihn der Mech-Lehrer seines Vaters unterrichtet und ihn sein Vater ständig abhört. Im Gegenteil: Selbst die Identität und das Bewusstsein, das er mit sieben Jahren erlangt hat, werden permanent erodiert, bis sein Zeitbewusstsein so durcheinander ist, dass er ganze Jahreszeiten „vergisst“. Schließlich glaubt er, sein Leben nur zu simulieren, so wie Mr. Million einen Menschen simuliert – oder ein Aborigene von Sainte Anne einen Siedler.

Die ganze Novelle liest sich spannend, anrührend und wunderlich bizarr, mit herrlich sinnlichen Einfällen, wie ich sie einem amerikanischen Autor niemals zugetraut hätte. Und wer die schwüle Atmosphäre des Pariser fin de siècle mag, der ist hier genau richtig.

6) James Tiptree: Ihr Rauch stieg ewig auf (Her Smoke Rose Up Forever, 1974)

Der 14-jährige Petey landet im Jahr 1935 oben in den Bergen von Arizona oder New Mexico, mitten im Mescalero-Reservat. Er hat seine Schrotflinte dabei, um auf einem See Enten zu jagen. Alles scheint perfekt zu sein, doch dann geht alles schief. Sogar Flugsaurier tauchen auf. Nach einem seltsamen Blitz sinkt Peteys Bewusstsein wütend in Finsternis…

…und erwacht 1944 im Zimmer der süßen Pilar, die er heftig begehrt. Doch dann sagt sie ihm, dass sie es gerne mit mehreren Männern macht. Wieder Wut, Blitz und Finsternis und…

…Erwachen im Jahr 1953. Pete ist aus dem Koreakrieg zurück und freut sich auf ein Stipedium, um studieren zu können. Er begehrt Molly, doch die meint, sie sei bereits vergeben. Blitz, Wut und Finsternis.

Erwachen. Pete hat Molly geheiratet und mit ihr zwei Kinder. Vons einem Wolkenkratzerbüro aus blickt der zufriedene Mediziner einer strahlenden Zukunft als Nobelpreisträger entgegen. Da fällt sein Blick auf den alten Poststapel. Darin steckt ein Arztjournal, das einen Artikel von der Djakarta University enthält, der genau seine Forschungsergebnisse vorwegnimmt… Blitz und Wut…

Und Erwachen in einer Mondlanschaft, wo sich fremdartige Wesen über ihn beugen. Die Erde ist zerstört, nur sein Bewusstsein ist irgendwie noch erhalten worden, und die Aliens stochern darin herum, indem es mit Energie reaktivieren. Deprimiert und enttäuscht beginnt Pete wieder zu träumen – von der Entenjagd.

Mein Eindruck

Das Leben ist nur ein Traum, den ein Verstorbener in endlosen Schleifen wieder und wieder durchläuft. Die von den Bewusstseinsszenen lebende Erzählung ist ein weiteres Beispiel für die höchst schwarze Sicht der Autorin Alice Sheldon auf die Zukunft der Menschheit im allgemeinen und des westlichen Mannes im besonderen.

7) Alan Dean Foster: Wolfsmusik (Wolfstroker, 1974/77)

Sam Parker ist ein Theateragent, er hat in L.A. schon alles an Schrott gesehen, was es auf der Bühne gibt. Auch die heutige Band scheint alles andere als vom Feinsten – bis der Gitarrist anfängt zu singen. Willie Whitehorse hat pure Magie in der Stimme und schlägt das Publikum in seinen Bann, ebenso Sam. Widerwillig und für eine weitere Flasche Whisky lässt sich der Shoshoni-Indianer darauf ein, dass Sam ihn vertritt.

Nach einer ersten Session, zu der Willie zu spät kommt, sind die jungen Begleitmusiker bereit, Willie bis in die Hölle zu folgen. Und das passiert dann auch fast, als sie in einem Klub in Seattle auftreten, über den eine US-amerikanische Nachrichtenagentur weltweit berichtet. Es gab Tote und zahlreiche Verletzte. Doch über Grund und Ursache lassen sich nur Spekulationen anstellen. Verwirrte Köpfe meinen, Willies Gitarre habe sich in einen Wolf verwandelt.

Kurz vor dem vereinbarten Auftritt vor 16.000 Leuten in L.A. weigert sich Willie aufzutreten. Sein Großvater habe es ihm quasi verboten. Die Gesänge, die er, Willie, verwende, gehörten den Indianern und nicht den Weißen, schrieb der Opa. Doch wieder einmal kann Sam den Sänger herumkriegen und dazu überreden, den Auftritt nicht platzen zu lassen.

Doch schon von der ersten, scheinbar falschen Note an ahnt Sam, dass etwas Ungewöhnliches passieren wird. Recht hat er: Nur eine halbe Stunde später ist der Saal ein Tollhaus, und eine Stunde später, als der Wolf in einer Flamme erscheint, beginnt das Publikum, das Haus zu zerlegen…

Mein Eindruck

Als die Story 1974 erstmals abgedruckt wurde, war das ein Jahr nach Watergate und dem Rücktritt Nixons. Die Zeiten hatten sich geändert, eine neue Generation war nachgewachsen, und sie hatte andere Prioritäten. Mit diesen beschäftigt sich diese Erzählung. Erstmals beschäftigten sich junge Amerikaner mit der Natur ihres Landes, mit deren gefährdung und mit ihrem Erhalt. Die Gefahr eines „Silent Spring“, die Rachel Carsons Buch beschworen hatte, war allzu real.

Noch erschien Ökologie, eines der Lieblingsthemen des Autors („Midworld“), als verschrobene Utopie einer winzigen Minderheit. Doch die Verknüpfung mit den ursprünglichen Besitzern des Landes und mit deren Musik macht dem Leser klar, dass es nur eines winzigen Impulses bedarf, dass aus der Minderheit eine Mehrheit wird – vielleicht binnen einer einzigen Generation. In Deutschland war dies der Fall: 1980 gegründet, wurden die Grünen um 2000 herum Teil einer Regierungspartei (in Hessen unter Joschka sogar noch früher).

Wie dieser Impuls aussehen könnte, zeigt die stimmungsvolle wie auch kenntnisreiche Erzählung: Musik ist eine universale Sprache, und Weiße wie auch Indianer reagieren auf sie gleichermaßen stark. Die Sache mit dem Wolf, Willies Totemtier, ist natürlich mystische Überhöhung, verleiht dem Impuls der Musik aber ein symbolisches Gesicht. Willies Sohn, der kleine Billie, hat auch schon ein Totemtier: eine Klapperschlange…

8) Robert Chilson: Mondlose Nacht (Moonless Night, 1978)

Sternenhändler Junius Van Every, kurz Juni, erwirbt auf dieser Welt sonderbare Fracht: die Vertragssklavin Laluminat Tänzer. Sie sieht zwar humanoid aus, aber mit ihrer silberfarbenen Haut ist sie weit davon entfernt, eine echte Menschenfrau zu sein. Und was heißt hier „Vertragssklavin“? Juni behandelt alle Damen mit Höflichkeit und Ehrerbietung, wie es sich gehört. Außerdem gibt es da ein kleines biologisches Problem: Ihre Biologie ist für ihn voller Risiko, und ein Hautkontakt reicht schon aus, um Hautausschlag zu verursachen. Das gleiche gilt auch für sie.

Das hält sie allerdings nicht davon ab, ihn mit ihren Tanzkünsten nach Strich und Faden zu verführen. Tagelang hält er dem verzaubernden Anblick der Sirene stand, doch schließlich übermannt ihn die Sehnsucht nach ihrem Körper…

Mein Eindruck

Neben dieser reichlich romantischen Handlung über das alte Thema „Boy meets girl, boy gets girl (almost)“ befasst sich die Erzählung mit dem Wert von nicht-technischen Kulturen wie der der Tänzerin. Dass Tanz und Gesang im Handel Werte darstellen und sich exportieren lassen, stellte in einem so technizistisch orientierten SF-Markt wie der US-amerikanischen Science Fiction schon fast einen Verstoß gegen ungeschriebene Gesetze dar. Aber es sollte für die alten Haudegen der Asimov- & Heinlein-Schule noch schlimmer kommen: Die Humanisten heimsten die Preise ein. Einer der wichtigsten und besten Autoren war Kim Stanley Robinson…

9) Kim Stanley Robinson: Venedig unter Wasser (Venice Drowned, 1981)

Nach den großen Orkanen des Jahres 2040 versanken Küstenstädte wie Venedig vollständig unter den anstürmenden Wogen. Die überlebenden Menschen mussten sich wie Carlo und seine Familie auf die Dächer zurückziehen und dort Bruchbuden bauen. Doch Carlo hat wenigstens einen Job: Er führt Ausländer zu Tauchausflügen in die versunkenen Ruinen. Diese Ausländer bergen viele Kunstschätze etc. und bauen sie in ihrer Heimat wieder auf.

Heute hat er drei Japaner als zahlende Gäste an Bord seines Segelbootes. Sie wollen nach Torcello, und zwar in die schöne byzantinische Kirche dort. Ein Sturm zieht, und Carlo beeilt sich auf den Meilen bis Torcello. Die Japaner, so stellt sich heraus, haben es auf das wunderschöne Bodenmosaik der Santa-Maria-Kirche abgesehen. Doch beim Anblick der wissenden Augen der Madonna packt eine unbekannte Verzweiflung den Seemann, und er weigert sich, ihnen den Wunsch zu erfüllen, ganz gleich, ob die „Regierung von Italien“ das genehmigt hat. Hier ist die Republik Venedig.

Er legt ab und gerät in den übelsten Sturm, an den er sich erinnern kann. Mit knapper Not gelingt ihm das Anlegen an einem der Glockentürme, die den Kanal zum Lido markieren. Dort begegnet er einen alten, halbblinden Frau, die häkelt oder strickt. Sie hält ihn für den Tod, der endlich gekommen ist, sie, die einst von ihrem Liebsten im Stich gelassen wurde, zu holen, und seinen Bootshaken für die Sense des Schnitters. Oder ist er gar der ZWEITE ENGEL aus der Apokalypse des Johannes, der gekommen ist, die Welt zu ertränken?

Mein Eindruck

Die Folgen der Klimakatastrophe waren schon von jeher das Thema des Autors, und er beschrieb immer wieder die sich daraus ergebenden Szenarien und Konsequenzen. „Venedig unter Wasser“ ist eine seiner frühesten Erzählungen. Hier bringt er die Themen Klimawandel, Überflutung und Religion zusammen.

Die Aspekte der Religion fallen ja bei einem Italiener wie Carlo auf fruchtbaren Boden: der Anblick der hellsichtigen Madonna, die verrückte Alte, die an eine der drei Parzen erinnert, seine eigene Frau Luisa mit dem neugeborenen Baby. Die Bedrohung des neuen Lebens, das Wissen um die Zukunft und die Prophezeiung aus der Offenbarung (= Apokalypse) des Johannes werden unterstrichen von den packenden Actionszenen, die gekonnt schildern, wie Carlo den verheerenden Sturm erlebt, der das Weltenende zu bringen scheint.

Alle Stärken Robinsons sind bereits in dieser kleinen Story vereint: korrektes Detailwissen, dessen humanistische Einbindung, Umweltkatastrophe und ein ideeller Überbau, der aus Religion, Philosophie, Wissenschaft gezimmert sein kann. Kombiniert mit seinen bergsteigerischen und seemännischen Erfahrungen – siehe seine Himalaya-Stories – wird daraus eine wirkungsvolle Geschichte.

10) Bruce Sterling: Schwärmer (Swarm, 1982)

In ferner Zukunft hat sich die Menschheit in zwei große kulturelle Parteien aufgespalten. Die Former manipulieren ihren Körper mit genetischen und biologischen Mitteln, wohingegen die – wesentlich wohlhabenderen – Mechanisierer ihr Heil in reiner Technik wie etwa Kybernetik und Computern suchen.

Den Investierer-Aliens ist das einerlei: Sie machen Geschäfte mit beiden Parteien. Die menschliche Rasse ist ja noch so jung im kosmischen Vergleich. Vielleicht schon in wenigen Jahrhunderten könnte sie genügend Mittel haben, um das Geheimnis des intergalaktischen Fluges zu kaufen…

Dr. Afriel verabschiedet sich im Beteigeuze-System von einem Investierer-Raumschiff, um einen Planetoiden der Schwärmer zu betreten. Die Schwärmer sind ebenfalls Aliens, werden aber von den Investierern als dämliche Insekten abgetan. Die Schwärmer bauen Nester und benötigen keine Sprache, da sie sich mit Hilfe von Pheromonen verständigen. Wie in einem Ameisenbau ist alles wohlgeordnet, alle haben ihre spezielle Aufgabe.

Dr. Galina Myrni, die Xenobiologin, holt Afriel ab. Es dauert nicht lange, bevor sie misstrauisch wird. Immerhin hat sie einen IQ von 200, eine Spezialzüchtung der Former. Er verrät ihr also seinen geheimen Plan, den er für die Plan erfüllen will. Es ist ihm gelungen, Pheromone ins Nest zu schmuggeln, mit denen er Arbeiter dirigieren kann. Sein Ziel besteht darin, Arbeiter-DNS zu stehlen und zur Erde zu schmuggeln. Dort könnte man sie klonen und bis zum Umfallen rackern lassen – exklusiv für die Former, versteht sich

Myrni hat letztes Endes keine Einwände mehr gegen diesen verräterischen Plan, doch als sie ungewöhnliche Aktivitäten der Schwärmer feststellt, schaut sie ohne Afriel nach – und verschwindet spurlos. Als er sie sucht, wird er von Kriegern gefangengenommen und in eine neue Kammer gebracht. Hier wartet eine neuartige Schwärmerrasse auf ihn…

Mein Eindruck

Intelligenz – sie wird häufig überschätzt, wenn es um ihre Bedeutung fürs Überleben einer Spezies geht. Diese Lektion muss auch der einfallsreiche Dr. Afriel auf die harte Tour lernen, als er vor die Wahl zwischen Kooperation oder Absorption gestellt wird. Er hat seinen Meister gefunden: eine in aller Eile hergestellte Intelligenz der Schwärmer.

Diese feine und mittlerweile klassische Erzählung entstand im Untergenre des Cyberpunk. Der Cyberpunk stellte sich die Zukunft des Menschen auf (mindestens) zwei Entwicklungslinien vor. Die uns heute so sattsam bekannten Terminatoren sind kybernetische Organismen, Kyborgs, die den Weg der „Mechanisierer“ säumen. Doch vielversprechend war auch 1982 schon der Weg, den die Former mit ihrer Gentechnik beschritten: die Ausrottung von Erbkrankheiten, der Sieg über den Krebs, die Selbstoptimierung des menschlichen Körpers usw.

Mit „Schwärmer“ stellte der Autor, einer der Wortführer des Cyberpunk, den Wert von Intelligenz auf den Prüfstand. Wird sie wirklich eine entscheidende Rolle für die Menschheit spielen? Es sieht nicht so aus.

11) Eric Vinicoff & Marcia Martin: Der Kompromiss (The Compromise, 1983)

Der Wissenschaft ist es gelungen, die Ursache für „abweichende“ Sexualität in dem H-Y-Antigen zu identifizieren. Mit Hilfe eines Botenstoffes und eines Virus als Träger lässt sich nun „abweichende“ Sexualität heilen, sowohl bei Erwachsenen wie auch bei Neugeborenen. Auf dieser Grundlage bringt der konservative Senator Brayant eine gesetzesvorlage ein, derzufolge alle Homosexuellen, Transsexuellen usw. geimpft werden sollen, um sie zu „heilen“. Nur der kalifornische Senator Ainsley hat Vorbehalte.

Shiela und Louise sind lesbische Geliebte. Die Zärtlichkeit und Zuwendung, die sie einander schenken können, hilft ihnen, den Alltag zu bewältigen, denn jede hat ihr eigenes kleines Päckchen zu tragen. Als die Ordnungshüter Shiela abholen und ihre Homosexualität festgestellt wird, bekommt sie in der Uniklinik die entsprechende Spritze verpasst. Nach ihrer Entlassung trifft sie Louise wieder, doch nichts ist mehr wie früher: Eine nahezu instinktive Abwehrreaktion lässt keine Zärtlichkeit mehr zu. Nun sind beide unglücklich. Das Gesetz hat nicht bedacht, dass man Heterosexualität nicht herstellen, sondern nur erlernen kann.

Senator Ainsley findet einen Kompromiss: Nicht mehr Erwachsene sollen gegen „abweichende“ Sexualität behandelt werden, sondern nur noch Neugeborene. „Klingt ein wenig nach Euthanasie“, findet sein Kollege. Senator Ainsleys Miene wird sauer.

Mein Eindruck

Ich habe mich gefragt, wieso eine homosexuelle Bürgerin wie Shiela schon „behandelt“ werden darf, bevor überhaupt das Gesetz verabschiedet worden ist. Das ist ja nicht gerade Rechtsprechung, sondern sieht ganz nach Behördenwillkür aus. Überhaupt weist diese Erzählungen zwar viel guten Willen, aber wenig logische Stringenz und erzählerisches Geschick auf. Die Gefühle der beiden liebenden Frauen kommen nur holzschnittartig zur Geltung, so grob und ungenau sind sie beschrieben. Ebenso grob wird Senator Ainsley und seine Gedankenwelt beschrieben.

Diese Story unter die besten SF-Geschichten der Welt einzureihen, finde ich schon ziemlich gewagt. Nur das Thema an sich rechtfertigt die Wahl des Herausgebers.

12) James Patrick Kelly: Der schrecklichste Monat (The Cruelest Month, 1983)

Nell ist ein Top-Managerin in der PR-Branche, hat aber ein schweres Trauma erlitten: Sie verlor ihre kleine Tochter Avril bei einem Unfall. Weil sie gerade eine PR-Krise ihrer Firma bewältigte, als es passierte, gibt sie natürlich sich die Schuld. Seitdem sieht sie merkwürdige Dinge. Ihr Psychiater Massinger beruhigt sie – und macht ihr einen Antrag für einen erotischen Abend. Sie solle sich keine Sorgen machen – und verschreibt ihr Pillen.

Nell lebt seit der Scheidung von Serge allein, und nur die Putzfrau besucht werktags ihr Heim. Hat Julietta also eine Puppe von Avril so aufgestellt, dass Nell sie unmöglich übersehen kann? Aber nein, das würde die verschlossene und ungebildete Latina niemals fertigbringen. Am Morges, nachdem Massinger sie gevögelt hat, findet Nell eine kleine Puppenstube in ihrem Schlafzimmer vor. Ob auch das nur ein Gruß aus der Totenwelt ist, fragt sie sich. Als aber Avrils kleines Spielzeugtelefon klingt und ihre Stimme aus dem Hörer dringt, ahnt Nell, dass dieser Zustand nicht mehr lange andauern kann…

Mein Eindruck

Diese packende Erzählung ist wunderbar einfühlsam in der Schilderung der Schuldgefühle, die Nell zerfressen, und dessen Prozesses der Selbstzerstörung, den sie systematisch mit Whisky und Pillen vorantreibt. In ihre Delirien passen die außersinnlichen Wahrnehmungen wie etwa Avrils Puppen oder das klingelnde Spielzeugtelefon ohne weiteres hinein. Den kontrastiven Ausgleich zu dieser Innenschau bilden die Szenen aus der Außenwelt, von dem Stelldichein bei Massinger bis zur Beurlaubung durch ihren Boss. Deshalb wirkt die Handlung wie auch die Entwicklung der Hauptfigur durchaus plausibel.

„Der schrecklichste Monat“ ist seit den Tagen von Geoffrey Chaucer der April („April is the cruelest month“), denn so beginnt der englische Poet seine „Canterbury Tales“. April entspricht dem französischen Avril, und Avril LeHuit – der 8. April – ist Avrils Geburtsname. Auf einen einfallsreicheren konnten sich Nell und Serge nicht einigen. Am 8. April endet die Erzählung, denn ein Jahr ist offenbar vergangen, seit Avril verunglückte.

13) Octavia E. Butler: Blutsbande (Bloodchild, 1984)

Auf einer Siedlerwelt herrschen die Tlic, drei Meter lange, intelligente Gliederfüßer, die mit den menschlichen Siedlern sprechen können. Die Siedler sind entflohene schwarze Sklaven, die hier Freiheit erhofft haben. Sie bekommen sie, doch um einen Preis. Die Tlic pflanzen sich wie Schlupfwespen fort, indem sie ihre Eier in Wirtswesen ablegen. Die Larven schlüpfen im Wirt und fressen ihn von innen auf, bevor sie sich verpuppen und zu erwachsenen Tlic heranwachsen. Kein Wunder, dass die Tlic ganz scharf sind auf Menschen, die sie als Wirte benutzen können.

Gan ist ein Junge, der mit seiner Familie im Reservat lebt, das von T’Gatois geleitet wird. Sie beschützt sie gegen die Forderungen anderer Tlic, und Gans Familie sollte dankbar sein, auch für die Nahrung. T’Gatois ist die Wirtstochter von Gans Vater, der drei Generationen von Tlic als Wirt diente. Gans Bruder Qui hat jedoch einmal gesehen, wie ein Mensch von der Tlic-Brut aufgefressen wurde. Gan ist schockiert, als er davon hört. Kein Wunder ist Qui so gegen die Tlic eingestellt; er wollte sogar mal aus dem Reservat fliehen.

Gans Toleranz und Liebe zu T’Gatois wird auf eine schwere Probe gestellt, als ein Mensch namens Lomas vor dem Haus zusammenbricht. Es ist klar, was los ist. Eine Brut in seinem Leib macht ihn krank. T’Gatois erteilt Anweisungen, um ihm das Leben zu retten. Doch Gan wird auf eine harte Probe und vor eine schwere Entscheidung fürs Leben gestellt.

Mein Eindruck

Diese Erzählung weist schon auf den Genhändler-Zyklus der Autorin voraus, in der menschliche Flüchtlinge von der Hand der Alien-Genhändler eine ungewöhnliche Art der Evolution erfahren. Auch in „Blutsbrut“ sind die Menschen in die Fortpflanzung der Aliens eingebunden. Es findet eine bemerkenswerte Art der Symbiose statt: Menschen stellen sich als Wirte zur Verfügung und erhalten dafür Nahrung und Schutz, um sich selbst auf eigene Weise fortzupflanzen.

Die Aspekte der Tlic-Fortpflanzung muten uns und Gan grausam an, als ultimative Vergewaltigung, doch Gan muss lernen, dass es ganz und gar nicht so ist, sondern ein Akt der Selbstaufopferung – ein Gefühl, wie es auch menschliche Mütter für ihre eigene „Brut“ empfinden. Die Autorin hat die zahlreichen Aspekte der menschlichen Fortpflanzung vielfach gewendet und unter anderem in ihrem „Patternmaster“-Zyklus verarbeitet (dt. bei Bastei-Lübbe).

14) Robert Silverberg: Meerfahrt nach Byzanz (Sailing to Byzantium, 1985, NEBULA Award 1986)

Charles Phillips bewundert die Aussicht des antiken Alexandria. Es ist ein sonniger Tag und wenn sich die liebe Gioa an ihn schmiegt, könnte das Leben nicht besser aussehen. Allerdings stammt Charles aus dem New York des Jahres 1984 und kann sich nicht erklären, wie er ins 50. Jahrhundert gelangt ist. Die Bürger wie Gioia sind wie Touristen und die „Temporären“ sind die jeweils in einer Stadt gestellten Statisten, reine Staffage. Die Bürger von Alexandria oder Asgard können ihm auch nicht erklären, was mit ihm passiert; sie verstehen nicht mal seine Frage.

Immerhin hat er herausgefunden, dass es immer nur fünf Städte auf dieser schönen neuen Welt gibt: Derzeit sind das Alexandria der Antike, das mythische Asgard, Chang An in China, New Chicago und Timbuktu, ein einst mächtiges westafrikanisches Reich. Derzeit entsteht offenbar Mohenjo-Daro, die älteste Stadt, im Industal gelegen. Charles würde aber viel lieber nach Byzanz segeln, denn er erinnert sich an jede Zeile des Gedichts „Sailing to Byzantium“ des irischen Dichters William Butler Yeats.

So schön Alexandria mit seiner unversehrten Bibliothek, dem emporragenden Leuchtturm Pharos und seinem Zoo voller Fabelwesen auch ist, so scheint sich doch Gioia hier nicht mehr wohlzufühlen. Zusammen mit ihren anderen Mitreisenden, quasi Zeittouristen, begeben sich Charles und Gioia nach Chang An, wo der Kaiser residiert. Charles weiß bis jetzt das Alter seiner Gefährtin nicht, aber als er sie heimlich beim Schminken beobachtet, sieht er, wie sie sich einzelne Haare auszupft. Und sie hat Fältchen im Gesicht. Kann es sein, dass dieses Mädchen schneller altert als er?

Sie verschwindet nach dem Empfang und lässt ihn mit einem Ersatz zurück. Diese Belilala verrät ihm, dass Gioia es immer eilig habe – denn sie sei eine Befristete. Charles könne sich schon denken, was damit gemeint sei. Und ob! Denn schließlich sind alle Menschen seiner Zeit Befristete: von begrenzter Lebensdauer. Doch das wäre eigentlich kein Hinderungsgrund: Er und Gioia befänden sich sozusagen auf gleichem Niveau. Dass dies nicht stimmt, muss er in New Chicago erkennen, wo er sie wiedersieht: Warum altert er selbst denn NICHT?

Mein Eindruck

„That is no country for old men“ dichtete Yeats über Byzanz. Diese Metropole war für ihn keineswegs ein Ort, sondern ein Zustand, noch dazu ein spiritueller. Den Weg dorthin sollte das Abstreifen der sterblichen Hülle begleiten, und nur die reine Seele sollte dort, in einem irdischen Paradies, existieren dürfen, dort wo ewige Jugend herrscht. (Eine Anspielung auf das Land Tir na nOg der keltischen Mythologie: das Land der ewiger Jugend.)

Silverberg setzt diese Vorgabe auf seine eigene Weise um. Er hat schon etliche Male über „Passagiere“ geschrieben, „die zum Ende der Welt“ reisen, als wären sie Touristen, die sich in den Roman „Die Zeitmaschine“ von H. G. Wells verirrt hätten. Aber er überträgt lediglich den räumlichen Tourismus auf die zeitliche Dimension. Das Ergebnis erinnert teils an Philip José Farmers Entwurf der FLUSSWELT, in der bestimmte ausgewählte Seelen reinkarniert werden. Aber wer trifft die Auswahl und wer hat die Flusswelt entworfen?

Die gleiche Frage muss sich nun Charles Phillips stellen. Nennen wir sie „die Planer“, denn sie sind die Erschaffer und Zerstörer der fünf Städte, als handle es sich um Disneyworld, wo den Zeittouristen – den „Bürgern“ – Attraktionen zur Zerstreuung geboten werden. Aber was stellt dann eine Gestalt wie Charles Phillips oder der andere gast namens Willoughby aus dem Elisabethanischen Zeitalter dar? Zu seinen Verbitterung muss Charles erkennen, dass auch er nur geschaffen wurde, um die Bürger zu unterhalten: Es sind seine Emotionen, die ihn so amüsant machen. Wie apart von ihm, sich darüber aufzuregen!

Er nimmt sich vor, wieder mit Gioia, seiner großen Liebe, vereint zu sein. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird sie so wie er eine hyperrealistische Software und wird quasi unsterblich; oder er fragt die Planer, ob sie ihn so altern lassen können wie die „befristete“ Gioia. Wie sich zeigt, segeln am Schluss beide nach Byzanz. Mehr darf nicht verraten werden.

Diese lange Novelle von knapp 90 Seiten ist für Leser, die viel Geduld mitbringen, wunderschön zu lesen. Die Geschichte hält etliche Überraschungen bereit und wird Zug um Zug immer herzzerreißender, bis es zu einer einstweiligen heiteren Lösung des Problems kommt. Kein Wunder, dass diese Geschichte 1986 mit dem renommierten NEBULA Award ausgezeichnet wurde.

15) David Brin & Daniel Brin: Bühne der Erinnerung (A Stage of Memory, 1986)

Derek Blakeney war mal ein großer Fernsehstar. Doch er geriet auf die schiefe Bahn, konsumierte Drogen, Schampus und Mädchen, als gäb’s kein Morgen. Seine Performance ließ nach, die Engagements wurden schlechter, die Gagen, die tantiemen, schließlich folgten die Rauswürfe. Was er braucht, ist eine neue Droge, die ihn vergessen lässt – oder noch besser: eine die ihn die besten Momente seines Lebens wieder und wieder erleben lässt.

Diese Droge gibt es jetzt: Temporin. Die Schwarzchemiker nennt sie Time Jizz, und sie bringt auch den richtigen Kick. Zwar verlässt ihn jetzt auch seine Freundin Melissa, aber das ist OK. Nur blöd, dass die Schwarzmarktpreise ständig steigen, deshalb wendet er sich an das Drogen-Rehazentrum der Regierung. Hier heißt Time Jizz einfach nur Temporin. Derek erpresst den Arzt mit der Drohung, er werde wieder zurück zum Schwarzmarkt gehen.

Das Zeug in den Ampullen haut gut rein. Merkwürdig bloß, dass er sich nun immer mehr an bereits abgerufene Erinnerungen erinnert, und dann wieder an die Erinnerung der Erinnerung der Erinnerung, so als werde eine Spirale immer enger…

Mein Eindruck

Die beiden Autoren kennen sich offenbar bestens in der Schauspielerszene aus. David Brin lebt in San Diego, also unweit Hollywoods und L.A.s. Auch die Zitate aus den klassischen Stücken von Shakespeare und G. B. Shaw haben sie astrein drauf. Nur das Schicksal Derek ist ein echter Runterzieher. Aber das ist ja genau die Voraussetzung dafür, dass er sich auf Temporin einlässt. Das Teufelszeug zwingt ihn, immer höhere Dosen davon zu nehmen. Es ist quasi ein schlechter Trip von einer Zeitreise, die sich daraus ergibt. Die Pointe zeugt von schwarzem Humor, erscheint mir jedoch absolut folgerichtig.

Ganz davon abgesehen, widerlegt diese Story die Euphorie von SF-Storys, dass man per Zeitreise-Trip in eine bessere Zeit reisen könne. Es ist nämlich das Hilfsmittel, dass dies verhindert: Dieser Drogenkonsum führt direkt in die Hölle der Selbstauslöschung.

16) Connie Willis: Der letzte Winnebago (The Last of the Winnebagos; preisgekrönt, 1988)

Die USA im Jahr 2008. Eine Seuche hat alle Hunde auf der Welt ausgerottet. In der Folge bemüht sich die sogenannte „Humane Gesellschaft“, relevante Taten zu verfolgen, die mittlerweile als Verbrechen eingestuft sind. Zu solchen Verbrechen gehört beispielsweise das Überfahren eines nahen Verwandten der Spezies Hund, nämlich eines Schakals oder Kojoten. Deshalb ist es die Pflicht eines Bürgers, entsprechende Vorkommnisse sofort der „Humanen Gesellschaft“ zu melden, damit die Schuld, falls es eine gibt, festgestellt wird.

Als der Fotoreporter McCombe auf der Schnellstraße einen überfahrenen Schakal sieht, fährt er erst noch ein paar Meilen weiter, um dann die „Gesellschaft“ anzurufen. Dieses Zögern und seine Unterlassung, Name und Adresse anzugeben, lassen ihn tatverdächtig erscheinen. Schon bald wird er Besuch erhalten.

Nach dem Anruf besucht er einen kleinen Zoo in Arizona, wo als Nebenattraktion das letzte Exemplar der Wohnmobile namens „Winnebago“ ausgestellt wird. Darüber soll er seiner Zeitung berichten. Zuerst knipst er mit dem Teleobjektiv, dann dreht er einen Videofilm und schließlich kramt er noch seine Geheimwaffe aus: die Eisenstadt, eine vollautomatische Kamera, die in einer Aktentasche versteckt ist.

Erst Stunden später entdeckt er beim Entwickeln der Tele-Fotos, dass er den Besitzer des Winnebago, Mr. Ambler, dabei aufgenommen hat, wie er seine Stoßstange abwischte…. McCombe könnte nun hergehen, Mr. Ambler zu melden, doch er unterlässt es, sich dadurch zu entlasten. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben mit einem Vorfall aus dem Jahr 1989 zu tun, als es noch kein Verbrechen war, einen Hund zu töten. Damals kam McCombes Schäferhund Aberfan zu Tode, überfahren von einer Fahranfängerin namens Katie, gerade mal 16 Jahre alt und später McCombes Freundin…

Mein Eindruck

Alle Dinge beginnen und enden, wie es schon in der Bibel steht, doch manchmal überdauert der Schmerz über Verlust und Schuld Jahrzehnte. So geht es auch McCombe, dem schuldbewussten Besitzer von Aberfan und unschuldigen, aber höchst verdächtigen Melder eines überfahrenen Schakals. Alle Hunde sind verschwunden, und die Menschen vermissen sie. Doch auch der letzte der Winnebagos wird bald verschwunden sein, wenn McCombe nichts deswegen unternimmt.

Es ist eine elegische Erzählung, die die vielfach ausgezeichnete Autorin auf ihre unnachahmliche Weise vor dem geistigen Auge des Lesers entwickelt – ähnlich wie ein Foto, das Tiefen- und Unschärfe aufweist. Der Storytitel ahmt den Buchtitel „The Last of the Mohicans“ (Der letzte Mohikaner) von James Fenimore Cooper nach.

Zu dem menschlichen Drama gesellt sich der kleine Krimi um die Strafverfolgung durch die „Humane Gesellschaft“. Wie verdächtig schon allein dieser bemüht unschuldig klingende Name ist! Tatsächlich entpuppt sich die „Gesellschaft“ als ein Verein von Datenschnüfflern, der nicht davor zurückschreckt, die Privatsphäre und den Datenschutz mit Füßen zu treten. McCombe, schlau wie er ist, macht sich einen Spaß daraus, diese agentenähnlichen Typen, die er völlig durchschaut, aufs Kreuz zu legen und ihnen über die Redaktion eins auszuwischen.

17) Charles Sheffield: Die Höfe von Xanadu (The Courts of Xanadu, 1988)

Der Abenteurer Sam hat sich einer merkwürdigen Expeditionsgruppe angeschlossen, die von dem schlauen Hochstapler Gerald Sebastian geführt wird. Das Ziel der fünfköpfigen Gruppe ist das Innere der Wüste Takla Makan, die als einer der menschenfeindlichsten Orte der Welt gilt. Selbst die Karawanen der Seidenstraße umgingen sie lieber nördlich und südlich, als die Durchquerung zu wagen.

Doch genau unter diesen Sanddünen, so beteuert Sebastian gegenüber seinem schwerreichen Sponsor, befinden sich die Mauern des sagenumwobenen Atlantis. Der Beweis: die Luftaufnahmen, die ein Satelliten-gestütztes Bodenradar gemacht hat. Darauf hat Will Reynolds, der beteiligte Wissenschaftler, Mauer-ähnliche Strukturen entdeckt. Vor Ort enthüllt Sebastian der mitreisenden Gattin des Sponsors eine weitere „Sensation“: die Zeichnung eines Kriegers, der bestimmt vor 7000 Jahren (oder so) hier lebte. Auf seinem Gürtel befindet sich nicht nur eine Pistole, sondern unverkennbar ein Taschenrechner!

Diesen Fund habe ein deutscher Forschungsreisender in den 1920er Jahren gezeichnet und dann vergessen. Aber die Statue sei viel zu groß und schwer, um sie allein und unvorbereitet abtransportieren zu können. Dass sich die Expedition gerade auf chinesischem Staatsgebiet befindet, scheint Sebastian nicht zu stören. Sam hingegen ist mehr erstaunt, dass die Frau, Jackie Sands, an Außerirdische glaubt und sich am SETI-Programm beteiligt hat, das nach extraterrestrischer Intelligenz sucht. Schon am ersten Abend gerät er mit ihr aneinander, angeblich weil er so geheimnistuerisch sei.

Am nächsten Morgen gesteht sie ihm, dass sie mit Sebastian ein Verhältnis hatte – und ihn am Vortag abwies. Wie auch immer, nun darf Jackie vorn bei Sam sitzen und ihm Wegweisung geben. Sie fahren bis in die Nacht hinein, bevor Jackie in den Streik tritt. Sebastian weigert sich zu lagern und fährt allein weiter, die anderen hinter sich im Lager lassend. Diese Nacht ist keine gute: Alle bis auf Sam schlafen unruhig und hören seltsame Geräusche, als seien die Gespenster der Wüste erwacht. Sam selbst hat eine Vision von einer prächtigen Stadt voller Pyramiden, die sich an einem Kanal durch die Wüste entlangzieht.

Als sie weiterfahren und endlich Sebastians Camp erreichen, staunen sie nicht schlecht: Der Mann hat besagte Statue ausgebuddelt und schickt sich gerade an, sie mit Seilwinde und Hebekran aus dem Sand zu hieven. Die Nachzügler gehen auf ihn zu, als sich die Statue ihnen zuwendet, um sie anzuschauen, und ein Blitz sie blendet. Erneut hat Sam eine Vision von der Pyramidenstadt. Doch diesmal befindet sich Sebastian mittendrin, und er wird von der lebenden Statue in einen Kanal gestoßen und unter Wasser gezogen…

Mein Eindruck

Diese Erzählung wäre genau der richtige Hintergrund für einen modernen Indiana Jones Auftritt. Allerdings dürften die Zuschauer reichlich verwirrt über den Zwischenfall an der Statue reagieren: ein unvermittelter Übergang in eine andere Dimension, und sei noch so exotisch, gefolgt von einer Katastrophe, die eine Statue hervorruft, die eigentlich tot sein sollte. So etwas gehört in die Welt der Märchen. Der Autor schafft es, die Überlagerung der zwei Realitäten genau und packend zu schildern, mit einem historischen Hintergrund (Tamerlan, der Eroberer) zu versehen und sie halbwegs plausibel zu erklären.

Das war alles nur Einbildung, könnte man den Figuren entgegenhalten. Das wäre ein legitimer Einwand, gäbe es nicht drei Fotos, die Sebastian gemacht hatte, bevor der, äh, Zischenfall passierte. Drei Fotos, die aus Sebastians Kamera in Sams Fotolabor gelangten, um Sam und Jackie zu überzeugen, dass sie wohl doch dorthin zurückmüssen. Irgendwann. Ganz bestimmt.

Wichtiger als der „Zwischenfall“ ist die einfühlsame und recht augenzwinkernde Beschreibung des Gefühls von Abenteuerlust, das Schatzsucher umtreibt. Wenn man dieses Gefühl auf Jackies SETI-Suche überträgt, erhält der Leser eine Ahnung davon, was Astronomen und ET-Sucher umtreibt: die Hoffnung, etwas völlig Neues, Unbekanntes zu entdecken. Für diese Erkenntnis lohnt sich die Lektüre dieser Novelle.

18) Kate Wilhelm: Doppelgänger (The Lookalike, 1988)

Gina Ryan ist Dekorateurin in einem Einkaufszentrum in Cincinnati, Ohio. Sie ist geschieden, weil sie ihre Ehe nach einem Unfall, der zu einer Fehlgeburt führte, nicht mehr fortführen konnte. Sie fühlte sich nicht mehr vollständig ohne das Baby. Doch nun sieht sie ein kleines Mädchen aus einem der Läden in der Einkaufspassage kommen und ist wie vom Blitz getroffen. Die Kleine sieht genauso aus wie Gina, als sie klein war. Oder wie ihre Tochter, wenn sie noch am Leben wäre.

Beim nächsten Wiedersehen folgt sie der Kleinen, die nach Hause gefahren wird. Und aus der Haustür tritt eine Frau, die – wie Gina erst später realisiert – genauso aussieht wie Gina selbst. Hat Gina eine Doppelgängerin? Auf diese irre Idee verfällt sie, weil ihr Arbeitgeber Paul Moreno, der aus Brooklyn, New York, stammt, von den Doppelgängern erzählt und was sie anstellen, wenn sie ihr Ebenbild finden. Schon bald beginnt Gina Gespenster aus dem Augenwinkel zu sehen. Als sie sich Stuart anvertraut, beauftragt dieser einen Privatdetektiv, um Ginas Vermutung zu widerlegen.

Dann fährt sie noch einmal zu jenem Haus, in dem das Mädchen verschwand – es steht leer. Sie engagiert ihrerseits Stuarts Privatdetektiv und beschließt, auch ihrer Mutter auf den Zahn zu fühlen. Sie gräbt ein düsteres Familiengeheimnis aus…

Mein Eindruck

Wieder einmal schafft Kate Wilhelm etwas, was ihr kaum jemand nachmachen kann: Sie öffnet den doppelten Boden unserer Realität und lässt ihre Figuren hindurchfallen, bis sie glauben, dem Wahnsinn zu verfallen. In diesem Fall glaubt Gina, die verhinderte Mutter, sie müsse das kleine Mädchen entführen und selbst großziehen. Dazu kommt es zum Glück nicht. Das Familiengeheimnis stellt sich als reines Glück heraus. Aber was wäre, wenn Gina nicht dieses Haus weit fort von Cincinnati aufgespürt hätte?…

19) Nancy Kress: Ein Tanz in der Luft (Dancing On Air, 1992)

Angel ist ein kluger Hund. Angel ist ein biogelifteter Hund: Er trägt einen Biochip im Kopf, der ihm zum Verstand eines Fünfjährigen verhilft. Und es ist Angels Aufgabe, sein Frauchen gegen böse Menschen zu beschützen. Angel liebt Caroline. Aber Caroline liebt Angel nicht. Bis zu einem ganz bestimmten Tag, als sie ruft „Fass!“

Suzanne Anders ist Reporterin. Nachdem sie ihrer ausgebüxten Tochter Deborah von St. Louis nach New York City gefolgt ist, bekommt sie von einer Feature-Zeitschrift den Auftrag, mal nach den menschlichen Aspekten der Mordserie am New York City Ballet zu forschen. Deborah, die hier Ballett erlernt, ist genau der richtige Vorwand, den sie braucht, um im Management dieser Truppe Fragen stellen zu können. Warum sollen hier angeblich keine biogenetisch modifizierten Tänzer auftreten, wie es in allen anderen Ländern und Balletten doch bereits üblich ist?

Der Star der Truppe ist Caroline Olson, die Primaballerina. Sie vollführt unglaubliche Sprünge, und es ist kein Wunder, dass Deborah ihr nacheifern will. Suzanne ahnt nicht, welche Opfer ihre Tochter dafür zu bringen bereit ist. Immerhin schafft sie es, Deborah von ihrem Vater Pers Anders loszueisen und sie in der eigenen Wohnung aufzunehmen. Suzanne muss nach häufigem Streit mit ihrer Tochter einsehen, dass es keinen Zweck hat, sie vor den schrecklichen körperlichen Folgen – Verletzungen, Verkrüppelung, Einsamkeit, Arbeitslosigkeit – zu warnen.

Stattdessen findet sie mithilfe eines Hackers heraus, welche Mittel Caroline Olson es ermöglichen, solche Spitzenleistungen zu vollbringen und sich dabei in vier Jahren nur zweimal zu verletzen. Bemerkenswert ist dabei, dass Carolines Mutter Anna ein Vermögen in Pharmaaktien angelegt hat. Auf der Suche nach einem Zusammenhang fliegt sie nach Paris, um einen zweiten Artikel über die biologische Aufrüstung zu schreiben.

Auf diesem Kongress wird zunächst die traurige Nachricht verkündet, dass der französische Redner Selbstmord begangen habe. Doch die deutsche Ko-Autorin seines Papiers behält die Nerven: Sie offenbart ein unglaubliches Geheimnis, das Anna Olson seit 30 Jahren verborgen hat: Die Bio-Aufrüstung in vitro erzielt zwar wunderbare Resultate, doch der Preis dafür ist hoch.

Zurück in New York City entdeckt Suzanne, dass Deborah durch Dienste als Drogenkurierin die Bio-Aufrüstung bezahlt hat, die ihr nun den Aufstieg in die Truppe von Caroline Olson erlaubt. Caroline selbst bekommt bereits den biogenetischen Verfall ihres Körpers zu spüren und wird beurlaubt, sehr zur Freude der jungen Deborah. Suzanne wird klar, dass sie einem finsteren Rätsel auf der Spur ist, das sich nur in Anna Olsons Villa lösen lässt. Dort wartet bereits Angel auf sie…

Mein Eindruck

Die anrührende Geschichte wird aus zweieinhalb Blickwinkeln erzählt, und das ist ein raffinierter Schachzug der Autorin. Suzanne ist die eigentlich gewiefte Reporterin, deren investigativen Rechercheergebnisse ein Verbrechen ungeheuren Ausmaßes aufdecken. Aber sie ist zugleich auch die Mutter eines der Opfer dieses Verbrechens. Das macht sie ein wenig betriebsblind und bildet ein Handicap: Ihre Tochter versteckt sich vor ihr, um sich dem Zugriff der Mutter zu entziehen.

Deborah versteckt sich an einem Ort, von dem uns quasi Angel berichtet. Wir blicken durch die Augen eines intelligenten Hundes, an dem Walter M. Miller („Bedingt menschlich“) seine helle Freude gehabt hätte. Angel bedeutet „Schutzengel“, und das glaubt Angel für Caroline Olson zu sein. Angels Handicap besteht darin, dass er seinem Frauchen aufs Wort glaubt, wenn dieses sagt, jemand sei „sicher“ oder eine Unterredung sei eine „Party“. Auch hat Angel Probleme mit „schweren Wörtern“, so etwa idiomatischen Redewendungen oder Fachjargon. Angel ist als Chronist nur sehr bedingt glaubwürdig. Aber darauf muss der Leser erst einmal kommen.

Das eigentliche Thema der biogenetischen Aufrüstung kontrastiert aufs Beste mit der fragilen Dynamik des Balletts. Indirekt fragt die Autorin den Leser, ob es diese Hochleistungs-Kunst wert ist, dass man nicht nur Menschenopfer darbringt (nach wenigen Jahren der „Laufzeit“ sind die Körper verbraucht und verkrüppelt), sondern auch genetische Verbrechen begeht. Was aber, wenn junge Menschen gerade nach diesem Ruhm als Erfüllung ihres Lebensglücks streben? Darf man es ihnen vorenthalten? Solche und andere knifflige Fragen stellt die Autorin in ihrer preisgekrönten Novelle.

Die Story hat allerdings eine Schwäche: Mir ist nicht klargeworden, wie die beiden Mordopfer in der Ballettruppe ums Leben gekommen sind und wer sie auf dem Gewissen hat. Insofern funktioniert die Erzählung als Krimi auch nur bis zu einem gewissen Punkt.

Die Übersetzung

S. 282: „der Hungerschrei einer Drachenfliege“. Hier könnte ein Missverständnis vorliegen. Drachenfliegen gibt es nicht, wohl aber englische „dragonflies“. Diese heißen im Deutschen Libellen. Nun muss man sich vorstellen, wie Libellen vor Hunger schreien…

S. 436: „Besonders angesichts der personellen Probleme, mit denen Sie zu tun hatten.“ Gemeint sind aber „persönliche“ Probleme und keine solchen, die mit Personal zu tun haben.

S. 471: „abg[e]schlagenes Gorgonenhaupt“. Das E fehlt.

S. 709: „Wär es wirklich bloß der Alkohol…?“ Gemeint ist statt „wär“ wohl „war“. Dann ergibt der Satz einen Sinn.

Diese fehler und die vielen fehlenden Kommata lassen auf die übliche Nachlässigkeit des Heyne-Korrektorats schließen. Wenigstens halten sich die Druckfehler in Grenzen.

Unterm Strich

Diese Auswahl umfasst außer van Vogt und Silverberg nicht gerade die üblichen Verdächtigen, nämlich die Großmeister des Goldenen Zeitalters: Asimov, Heinlein, Dick, Sturgeon und Bester. Diese sind woanders verewigt, teils in „Ikarus 2001“, teils in „Fernes Licht“ (s. o.). Deshalb bietet diese Sammlung eher die Gelegenheit, neue AutorInnen zu entdecken.

Novellen wie „Ein Tanz in der Luft“ sind nicht technizistisch geprägt – das war noch nie Jeschkes Faible. Kress wie Jeschke interessiert stets das Schicksal von menschen unter der Einwirkung von wissenschaftlichen Möglichkeiten, sei es nun die Zeitreise oder die biogenetische Aufrüstung. Man hat dies den humanistischen Ansatz genannt. So wunderte es mich auch nicht, einen Humanisten-Autor wie Kim Stanley Robinson in dieser Auswahl vorzufinden. Die Cyberpunks, die Erzfeinde der Humanisten, sind nur mit einer einzigen Story vertreten: „Schwarm“ von Bruce Sterling, dem Vordenker der Cyberpunks.

Weil das aber so ist, kann im Grunde jeder Leser, der in der Schule ein wenig aufgepasst hat, etwas mit diesen Geschichten anfangen. Alexandria, Byzanz, Asgard – die Orte sind jedem Gymnasiasten ein Begriff. Sie tauchen Silverbergs wunderbarer Novelle „Meerfahrt nach Byzanz“ auf, die eine Liebesgeschichte der besonderen Art erzählt. Mit Gene Wolfes „Der fünfte Kopf des Zerberus“ bietet der Band sogar einen Kurzroman an, und einen besonders amüsanten und einfallsreichen obendrein.

Nancy Kress hat mit ihrer Novelle „Ein Tanz in der Luft“ eine in dieser Auswahl herausragende Erzählung beigetragen. Dies ist ein würdiger Abschluss einer eh schon qualitativ hochwertigen Zusammenstellung. Schade fand ich nur, dass ich zahlreiche Kommafehler stoßen musste und hin und wieder ein Druckfehler auftauchte.

Taschenbuch: 842 Seiten
ISBN-13: 978-3453196698
www.Heyne.de

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