Der Aufbau-Verlag preist „Lauf, wenn du kannst“ der amerikanischen Autorin Lisa Gardner mit den Worten „Nie war Spannung weiblicher“ an. Doch was ist bitteschön „weibliche Spannung“? Es fällt schwer, sich etwas unter diesem Begriff vorzustellen. Allerdings ist das auch nicht unbedingt notwendig – viel interessanter ist doch erst mal die Frage, ob das Buch überhaupt spannend ist oder nicht.
Bobby Dodge ist Polizist und gehört außerdem einer Elitetruppe von Scharfschützen an, die zu Einsätzen mit Geiselnahmen gerufen wird. Eine solche findet Bobby vor, als er eines Abends zum Haus von Catherine und Jimmy Gagnon gerufen wird. Er, besoffen, bedroht seine Frau und den gemeinsamen vierjährigen Sohn mit einer Pistole. Alles weist darauf hin, dass er bereit ist abzudrücken. Doch bevor er dies tun kann, erschießt Bobby ihn. Es ist sein erster Toter, und er hat härter daran zu knabbern, als er glaubt.
Dankbar nimmt er daher die Hilfe einer Psychologin in Anspruch, denn der Fall verfolgt ihn – im wortwörtlichen Sinne. Während seine Kollegen ihn beglückwünschen und sagen, er hätte genau richtig gehandelt, will ihn der Vater des Verstorbenen dazu zwingen auszusagen, dass Catherine Jimmys Tod inszeniert hat. Gleichzeitig bekommt er einen Anruf von Catherine, die ihn um Hilfe bittet. Sie fühlt sich verfolgt, denn Jimmys Vater, ein einflussreicher Richter, versucht alles, um seinen Enkelsohn Nathan zu bekommen. Er streut sogar Gerüchte, dass Catherine diesen misshandeln würde. Dass der Junge an einer mysteriösen, schweren Krankheit leidet, unterstützt seine Behauptung nur noch. Bald weiß Bobby nicht mehr, was wahr und was gelogen ist – und ob er wirklich berechtigt geschossen hat.
Bobbys Verwirrung überträgt sich auch auf den Leser – im positiven Sinne. Gardner erzählt eine spannende Geschichte, die sich allmählich steigert und keine Längen aufweist. Sie verzichtet dabei auf blutige Gewalttaten und fesselt stattdessen mit psychologischen Spielereien und doppelbödigen Charakteren. Immer mehr Details, die sowohl für oder gegen Catherine und Bobby sprechen, kommen zum Vorschein. Zusätzlich haben beide Hauptfiguren eine dunkle Vergangenheit und scheinen mit etwas hinter dem Berg zu halten. Wie viel darf man ihnen also glauben? Was ist Wahrheit, was Intrige?
Gardner sorgt dafür, dass sich diese Frage erst ganz zum Schluss beantworten lässt. Sie baut während ihrer Erzählung nicht ab, sondern steigert sich immer mehr ohne dabei zu sehr ins Fantasieren zu geraten. Im Gegenteil ist die Geschichte stichhaltig und weist eine gewisse psychologische Spannung auf, der es gelingt, auf der eine Seite durchaus fachlich zu wirken, aber auf der anderen nie zu abgehoben zu werden. Die Autorin meistert diesen Spagat auf wunderbare Weise und verleiht ihrer Geschichte damit einen glaubwürdigen Anstrich.
Sie verteilt ihre Geschichte auf wenige Perspektiven. Neben Bobby und Catherine kommen außerdem ein Killer und die Psychologin, die Bobby nach dem Todesschuss auf Wunsch seines Vorgesetzten konsultiert, zum Einsatz. Gerade Letztgenannte ist ein feiner Schachzug, da sie dem Leser die Möglichkeit gibt, Bobbys Psyche näher kennenzulernen. Bobby und Catherine stehen allerdings im Vordergrund des Geschehens und erweisen sich als dieses Platzes würdig. Sie sind vielschichtig und interessant dargestellt und wunderbar ausgearbeitet. Sie vermitteln dem Leser viele Gedanken und Gefühle, so dass er direkten Zugang zu ihrem Inneren erhält. Dadurch bekommt der Thriller stellenweise eine geradezu beklemmende Stimmung, die der Spannung sehr zuträglich ist.
Im Gegensatz zu der unterschwelligen Spannung steht der eher nüchtern gehaltene Schreibstil, der aus der dritten Person geschrieben ist und selbst Gedanken und Gefühle sehr sachlich schildert. Trotzdem entsteht dadurch kein Widerspruch. Vielmehr unterstreicht dieser routinierte Stil die Spannungsentwicklung. Lisa Gardner schreibt zwar nüchtern, schafft es aber dennoch, genügend Informationen einfließen zu lassen, um einen sehr dichten und vor allem fesselnden Thriller zu entwerfen.
Um noch einmal auf die Einleitung zurückzukommen, konnte nicht geklärt werden, was denn nun „weibliche Spannung“ sein soll. Was allerdings geklärt werden konnte, ist die Tatsache, dass es sich bei „Lauf, wenn du kannst“ um einen spannenden, unblutigen (vielleicht ist das mit „weiblich“ gemeint) und bodenständig erzählten Thriller von seltener Qualität handelt.
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[„Der Schattenmörder“ 875