Messner, Reinhold – Westwand

In beinahe fünf Jahrzehnten hat Reinhold Messner das Klettern und Extrembergsteigen geprägt wie kaum ein zweiter auf diesem Planeten. Er war Vorbild für historische Alpinisten wie Kammerlander und Krakauer, brach Rekorde, probierte stets Revolutionäres und lebte das von ihm propagierte Prinzip Abgrund 24 Stunden am Tag. Dennoch hat auch die in Südtirol lebende, aufgrund der gelegentlich extremen Meinungen häufig polarisierende Kultfigur in ihrem Leben Situationen erlebt, die bei aller Euphorie über das Geleistete zur persönlichen Einkehr motivierten. Es war sicherlich jener schicksalhafte Abstieg am Nanga Parbat, bei dem Messner seinen Bruder Günther verlor, der hier als prägendes Ereignis und großer Schatten über den Erfolgen stand. Doch auch allerhand kleine Niederlagen machten Messner zu dem, was er heute ist, und was er über Jahre verkörpert hat – so zum Beispiel der Aufstieg über die Westwand des Ortlers, der im Sommer 2004 beinahe zur persönlichen Tragödie geworden wäre.

Als Messner vor mehr als fünf Jahren die gefährliche Route zum König des Vinschgaus wählte, war er sich der Risiken sicher bewusst, nicht jedoch der Dramatik, die das Erlebte später beschreiben sollte. Und es war definitiv einer dieser Momente, in denen der Mix aus Risikofreude und Vernunft ein weiteres Mal zum gesunden Mittelweg fand und Schlimmeres verhinderte. In seinem neuen Buch „Westwand“ schildert der legendäre Alpinist nun die Erfahrungen dieses Aufstiegs und das drohende Ende unter einem bedrohlichen Serac unterhalb des Gipfels. Doch dieses Grenzerlebnis ist schließlich nur der Aufhänger für einen sehr kritischen Blick auf den Leichtsinn im Extrembergsteigen und die, in Messners Augen, Fehlinterpretationen dessen, was das Klettern und den Alpinismus im Allgemeinen ausmacht.

Messner wettert hierbei in erster Linie gegen die widersprüchlichen Schein-Idealisten, die gegen die Erschließung romantischer Bergregionen angehen, während sie hierbei selber die Herrlichkeit der großen Blumenwiesen zertrampeln. Eine Menge Aktionismus und Propaganda für den Umweltschutz ist es auf der einen Seite, eine fehlinterpretierte Umsetzung dieser Projekte auf der anderen, die den Autor und erfahrenen Bergsteiger beunruhigen. Die Berge sind für jeden da, haben aber nach Messners Ermessen ebenfalls das Recht darauf, ihre Mythen zu wahren, nicht von jedem erkundet und erschlossen zu werden – und das ausgerechnet aus dem Mund desjenigen, der seit den 60ern aktiv daran beteiligt ist, dass Erstbegehungen in schwierigsten Gebieten keine Unmöglichkeit mehr darstellen.

Die Frage stellt sich nun, was Messner mit „Westwand“ erreichen möchte. Sicher, eines der elementaren Ziele besteht darin, aufzuwecken, Missstände anzuklagen und auch kräftig auszuteilen. Der Autor spart mit Seitenhieben nicht und hält mit seiner sehr direkten Meinung nicht hinterm sinnbildlichen Berg. Doch wo sind die Lösungen? Statt den selbst gewählten Idealismus auch zielgerichtet zu vertreten und ihn auch konsequent zu transferieren, bleibt Messner ausschließlich auf der anklagenden Spur. Gleichzeitig wird er nicht müde, seine persönlichen Errungenschaften im Berg demonstrativ in den Vordergrund zu stellen und sein bisheriges Handeln als Optimum herauszukehren – und genau dieser Aspekt macht das Geschriebene über weite Strecken unsympathisch und überheblich. Der Finger wird gehoben und eine fast schon politische Debatte zum alpinistischen Umweltschutz initiiert. Und genau dieses Element nimmt „Westwand“ einen großen Teil des erhofften Unterhaltungswertes.

Letztgenannter ist nur selten wirklich ausgeprägt, nämlich genau dann, wenn Messner mal etwas tiefer in seinen Erinnerungen schwelgt und auch jene Mission zum Nanga Parbat anschneidet. Es sind die Erlebnisberichte, die weitaus bewegender sind und als Appell spürbar mehr bewirken als die wiederholte Analyse des permanenten Fehlverhaltens des hiesigen wie extremen Bergsteigers. Und selbst dort ist Messner mit seiner persönlichen Meinung nicht im Reinen. Er verurteilt die Leichtsinnigkeit, schätzt aber die Protagonisten des Free-Climbings, allen voran die Huber-Brüder, für ihre Leistungen und das, was sie für das moderne Bergsteigen bewirkt haben. Doch wo ist da die klare Linie?

„Westwand“ hat seine interessanten Momente und verfügt über die wertvollen, unvergleichlichen Erfahrungen eines Menschen, der seine eigenen Grenzen ebenso ausgelotet hat wie die Grenzen des menschlichen Schweinehunds. Doch das Prinzip Abgrund als Devise funktioniert in Messners neuem Roman nicht wirklich. Zu viel Zeigefinger, zu wenig Entertainment vor extremem Hintergrund – dieser Mann weiß grundsätzlich, wie man ein solches Projekt angeht. Doch in diesem Fall ist die bereits öfter aufgeblitzte Engstirnigkeit wieder einmal ein Hindernis, das für Messner größer zu sein scheint als mancher Achttausender. Und dennoch: Man sollte mal einen Blick riskieren, denn die zahlreichen Bildaufnahmen in „Westwand“ machen das Buch schon wieder fast unersetzlich. Was für ein Zwiespalt …

|224 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3100494160|
http://www.fischerverlage.de

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