Murphy, Pat – Geisterseherin, Die

Beinahe 20 Jahre ist es her, dass dieser preisgekrönte Roman von Pat Murphy unter dem Titel „The Falling Woman“ veröffentlicht wurde, und genau so lange hat es dann auch gedauert, bis der Titel, der einst den |Nebula Award| erhielt, den Weg in die deutschen Buchhandlungen gefunden hat. Wobei hiermit nicht die klassische Buchhandlung gemeint ist. „Die Geisterseherin“, so der deutsche Titel, bildet nämlich den Auftakt der 2004 gestarteten |Magic Edition| des |BLITZ|-Verlags und ist in der limitierten Auflage von gerade mal 999 Exemplaren nur über die [Homepage]http://www.BLITZ-Verlag.de des jungen Verlagshauses sowie einige ausgewählte Händler wie |amazon.de| erhältlich.

_Story_

Elizabeth Butler arbeitet schon seit mehr als einer Dekade in Mexiko als Archäologin und hat dort inmitten ihres jungen Teams mittlerweile auch eine neue Familie gefunden. Doch nicht nur das Graben nach alten Schätzen erfüllt sie; auch als Autorin versucht sich Liz und bezieht dabei ihr Wissen über das Volk der Maya und natürlich die fundierten Kenntnisse über ihre Arbeit mit ein. Ihre Vergangenheit hat Mrs. Butler gänzlich hinter sich gelassen. Mehr als 15 Jahre ist es nun her, dass sie nach einem Selbstmordversuch in die Psychatrie eingewiesen wurde und sich schließlich von ihrem Mann trennte. Die unglückliche Ehe mit dem langweiligen Robert kümmert sie nicht mehr – bis eines Tages ihre Tochter Diane auftaucht und sie wieder mit den Dämonen der Vergangenheit konfrontiert.

Diane Butler ist völlig am Boden zerstört: Ihr geliebter Vater ist vor zwei Wochen gestorben, und auch die Beziehung zu ihrem verheirateten Freund, der gleichzeitig auch ihr Chef war, ist kürzlich in die Brüche gegangen. Bei ihrer Mutter in Mexiko hofft sie, den inneren Frieden zu finden, weiß aber nicht so recht, was sie dabei erwartet. Bei ihrer Ankunft wird sie dementsprechend auch skeptisch beäugt. Elizabeth scheint es gar nicht recht zu sein, dass ihre Tochter plötzlich auf der Matte steht, doch widerwillig gewährt sie ihr für eine unbestimmte Zeit Unterschlupf. Diane integriert sich fortan immer mehr in das Archäologenteam ihrer Mutter und freundet sich auch ziemlich schnell mit der jungen Barbara an. Trotzdem ist sie unschlüssig, was ihre Zukunft anbelangt. Sie ist sich nicht im klaren darüber, was sie wirklich in Mexiko will bzw. was sie sich von ihrem Besuch bei Elizabeth erhofft. Bei Barbara kann sie dann schließlich ihre Sorgen loswerden und über das gestörte Verhältnis zu ihrer vor 15 Jahren verschwundenen Mutter reden, doch dieses Verhältnis wird dadurch dennoch nicht besser.

Elizabeth wird derweil von einer geisterhaften Erscheinung heimgesucht. Anfangs nur ein unklarer Schatten, sieht sie immer deutlicher die Umrisse der alten Mondgöttin Zuhuy-Kak. Diese hat damals zur Rettung ihres Volkes die eigene Tochter geopfert, um so die angreifenden Tolteken zu vertreiben, aber dennoch unterlag ihr Volk einst den übermächtigen Angreifern. Weil die Tolteken sich vor der Mondgöttin fürchteten, opferten sie Zuhuy-Kak im heiligen Cenote-Brunnen von Chichén Itzá. Doch die Dame überlebte den Sturz und wurde so zur Götterbotin, die sich fortan der Rache an den Tolteken widmete. Über ihr eigenes Opfer ist sie allerdings seitdem nie mehr hinweggekommen; zu tief sitzt der Schmerz über die verlorene Tochter. Deshalb sucht sie plötzlich auch den Kontakt zu Elizabeth und versucht diese dazu zu bewegen, ihre eigene Tochter als Opfer zu bringen, damit Zuhuy-Kaks Macht wieder erneuert werden kann …

_Meine Meinung_

Nach dem Anblick des Covers bzw. der Verinnerlichung des Titels erwartete ich von „Die Geisterseherin“ eine Fantasy-Horror-Story im Stile von Stephen King, nur eben etwas kürzer als die langen Epen der Horror-Legende. Doch der erste Teil der |Magic Edition| hat mit klassischem Horror, geschweige denn Fantasy nur wenig gemeinsam. Pat Murphy stellt vielmehr die ungewöhnliche Beziehung zwischen Mutter und Tochter in den Vordergrund und beweist so einmal mehr ihre Vorliebe für starke, weibliche Charaktere. Wer nun aber einen billigen Groschenroman berfürchtet, kann sofort beruhigt werden, denn die Autorin zeigt enorm viel Tiefgang bei der Beschreibung der beiden Butler-Damen, und weil sie die Geschichte im ständigen Wechsel aus der individuellen Perspektive der Hauptakteure schreibt, kommen so die beiden völlig unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Einstellungen auch noch viel besser zum Vorschein.
Beide haben eines gemeinsam: Ihr Leben ist ziemlich chaotisch und voller dramatischer Schicksalsschläge. Elizabeth hatte eigentlich schon mit ihrem Leben abgeschlossen und sich nach dem Tod gesehnt, als ihr Mann sie auf dem Weg dorthin noch retten konnte. Sie wollte nur noch fliehen und ergriff mit ihrer Arbeit in Mexiko die Chance auf ein harmonisches, erfülltes Leben. Die Vergangenheit zählt nicht mehr, und weil die Kontakte gänzlich abgebrochen sind, erwartet sie von daher auch nichts mehr.

Diane hingegen hat nie so recht verstanden, warum ihre familiäre Situation so chaotisch war bzw. immer noch ist. Als ihre Mutter sie damals an einem Weihnachtsabend verlassen hat, konnte sie dies nicht verstehen, und auch heute noch ist ihr nicht bewusst, warum sie und ihr Vater im Stich gelassen wurden. Weil sie sich jedoch bei ihrem Dad gut aufgehoben fühlte, hegte sie erst gar nicht mehr den Wunsch, sich mit ihrer Mutter zu versöhnen. Nun aber, wo ihr dies der letzte Ausweg scheint, flieht sie nach Mexiko, um dort mit der nahen Vergangenheit abzuschließen und neue Hoffnung zu schöpfen – ähnlich wie damals ihre Mutter, die in der Heimat Los Angeles keinen Halt mehr fand.

Murphy gelingt es sehr gut, diese ständig unter Spannung stehende Beziehung zu beschreiben. So viel Nähe und doch eine so große Distanz, so definiert sich das Verhältnis zwischen Elizabeth und Diane, und obwohl das Umfeld der seltsamen Familie beide Seiten sehr gut nachvollziehen kann, ist doch keine der befreundeten Personen aus dem Archäologenteam in der Lage, zwischen den beiden zu vermitteln.

Eine solche Rolle kommt schließlich der schemenhaften Erscheinung der Mondgöttin Zuhuy-Kak zu, die den Kontakt zu Elizabeth sucht. Hier offenbaren sich schließlich unterschwellige Parallelen, denn in gewissem Sinne hat auch die alternde Butler damals ihre Tochter geopfert, um damit sowohl sich als auch ihre Familie (bzw. im übertragenen Sinne ihr Volk) zu retten. Doch statt eine Versöhnung zwischen den beiden zu ermöglichen, sticht sie mitten in die krisenhafte Beziehung hinein und benutzt die unschlüssige Elizabeth lediglich dazu, ihre alte Machtstellung wieder zurückzuerlangen. Sie kennt die Geschichte der zerstörten Familie nur allzu gut und findet in ihr schließlich das, was sie schon länger gesucht hat. Versucht insbesondere Diane zu retten, was noch zu retten ist, gerät ihre Mutter in eine immer kniffligere Zwickmühle, was ihre Tochter anbelangt, und wirkt letztendlich genauso hilflos wie damals, als sie versucht hatte, sich selbst umzubringen.

Zunächst einmal wirkt die Erzählung ein bisschen langatmig, weil man erst ziemlich spät herausfindet, worauf Pat Murphy eigentlich hinaus will. Vor allem die Motivation der zurückgekehrten Mondgöttin ist lange Zeit unklar, was aber – das weiß man jedoch erst am Ende – genau so auch richtig ist, denn somit bleibt der Autorin genügend Freiraum, um sehr tief in das Seelenleben der beiden Butler-Frauen einzudringen. Es sind jedoch nicht nur Elizabeth und Diane, die im Vordergrund der Handlung stehen; auch das direkte Umfeld spielt eine gewichtige Rolle, der man sich aber auch zunächst nicht bewusst ist. Der Alkoholiker Tony, die smarte Barbara, der Frauenheld Carlos – auch bei ihnen handelt es sich um Personen mit einer ziemlich langen Geschichte, die geradezu prädestiniert für den Umgang mit Elizabeth und Diane scheint. Auch hier hat Pat Murphy sehr gute Arbeit geleistet und die verschiedenen Personen sehr geschickt in das Drama einbezogen. Wenn es überhaupt einen Schwachpunkt gibt, dann ist es die Darstellung der Maya-Kultur, die stellenweise sehr oberflächlich wirkt, an anderer Stelle aber dann auch schon wieder so weit ausholt, dass die Handlung als solche nicht mehr vornan steht. Insofern gefallen mir auch die Passagen, in denen Elizabeth aus ihren Büchern referiert, nicht so gut und wirken für die Erzählung gerade in der ersten Hälfte eher hemmend als förderlich.

Sonst gibt es an „Die Geisterseherin“ allerdings rein gar nichts auszusetzen. Der Auftakt dieser Reihe ist vollends gelungen und bietet eine perfekte Mixtur aus zwischenmenschlichem Drama und einem Schuss historischer Magie. Wichtig ist lediglich, dass man sich vom Cover nicht auf die falsche Fährte locken lässt und sich bewusst macht, worum es in diesem Buch eigentlich geht. Wer nämlich den nächsten großen Schocker sucht, ist bei „Die Geisterseherin“ völlig fehl am Platze. Ansonsten: tolles Buch und der Anfang einer sehr vielversprechenden Reihe!

Schreibe einen Kommentar