Zietsch, Uschi – Nauraka

Die Nauraka gehören zu den ältesten Völkern der Welt und ihre Macht und Weisheit sind legendär. Tatsächlich jedoch besitzt das Volk der Nauraka seit Langem nur noch einen Schatten seiner einstigen Größe, und wenn man dem alten Turéor glauben kann, dann liegt es daran, dass die Nauraka „das Letzte, was bleibt“ verloren haben. Nur nimmt den Alten niemand ernst.

Erenwin, Turéors Neffe und Prinz der Nauraka, träumt davon, die Welt zu entdecken, nicht nur seine eigene, sondern auch die jenseits der Weiten der See. Am liebsten wäre es ihm, wenn seine geliebte Schwester ihn auf dieser Reise beleiten würde, doch Lurdèa hat andere Pläne. Und so kommt es, dass Erenwins Reise, als sie endlich losgeht, ganz anders verläuft als erhofft, und daran ist nicht nur die seltsame Perle schuld, die er vor Kurzem am Meeresgrund gefunden hat …

Tatsächlich ist Erenwin ein naiver Träumer, der sich die Welt jenseits der Mauern seines heimatlichen Palastes wie einen einzigen großen Abenteuerspielplatz vorzustellen scheint. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass er sich an dem Ort, an dem er lebt, nicht wirklich zu Hause fühlt. Seine Mutter ist eine Hüterin der Gefilde, große Nähe zu ihr war ihren Kinder nie möglich. Und Erenwins Vater ist das ganze Gegenteil seines wissbegierigen und mitfühlenden Sohnes …

Fürst Ragdur ist ein überaus strenger Herrscher. Sein Ziel ist es, die Nauraka zu alter Größe zurück zu führen, und er sucht dieses Ziel auf politischem Wege zu erreichen. Ein Sohn wie Erenwin ist dafür in keiner Weise geeignet, dementsprechend geringschätzig behandelt er Erenwin. Gleichzeitig beschwert er sich über den zu großen Einfluss, den Turéor auf den Jungen hat, und über die Flausen, die der Alte seinem Sohn in den Kopf setzt.

Dabei ist Turéor ein überaus weiser Mann. Leider klingt er des Öfteren etwas wirr und zusammenhanglos. Das liegt aber nicht daran, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte, wie alle glauben, sondern daran, dass er sich an Dinge erinnert, an die sich sonst niemand mehr erinnern kann. Seine Worte sind eine ständige Mahnung, ein Versuch, die Erinnerung wach zu halten. Doch außer Erenwin hört ihm niemand zu.

Die Einzige, die Erenwin wirklich nahe steht, ist seine Schwester Lurdèa. Doch das junge Mädchen ist bei Weitem nicht so neugierig auf die Welt wie ihr Bruder. Vor allem will sie ihren hohen Status nicht aufgeben, statt dessen hofft sie auf eine vorteilhafte Verbindung mit einem gut aussehenden und zuvorkommenden Adligen. Das magische Wort in Lurdèas Träumen heißt Romantik. Obwohl wesentlich pragmatischer veranlagt als Erenwin, ist sie dennoch auf ihre Weise ebenso naiv wie er. Erst die Unbill, die ihr im Laufe der Ereignisse widerfährt, bringt ihre innere Stärke zum Vorschein.

Der Gegenspieler schließlich wird überall nur Der Alte Feind genannt und bleibt fast das gesamte Buch über nur eine gesichtslose, schemenhafte Wesenheit, die nahezu ausschließlich in Turéors Erzählungen auftaucht. Erst kurz vor dem Showdown erhält sie durch eine Rückblende ein eigenes Gesicht.

Insgesamt fand ich die Charakterzeichnung ganz in Ordnung. Ragdur ist durch seine Unbarmherzigkeit und die rücksichtslose Art, mit der er seine politischen Ziele über alles andere stellt, beileibe kein Gutmensch, aber auch kein echter Bösewicht. Lurdèa gleitet leider zum Ende hin ein wenig ins Klischee der starken, nicht zu brechenden Heldin ab, und auch ihr Ehemann Janwe kann sich dem Klischee nicht ganz entziehen, dennoch bleiben beide glaubwürdig. Der Alte Feind besticht vor allem durch seine kunstvolle Tarnung, der Charakter selbst dagegen erschien mir dann fast etwas blutleer, was ich schade finde. Am besten gefiel mir die Darstellung Turéors, der einerseits so weltfremd erscheint und andererseits so scharfsichtig und klardenkend ist wie sonst kaum einer in diesem Buch.

Die Handlung basiert zunächst auf zwei Schwerpunkten:

Zum Einen ist da der fremde Nauraka Janwe, der um Lurdèa wirbt. Erenwin traut ihm nicht, doch er kann nicht sagen, woran das liegt. Lurdèa will seine Warnung nicht wirklich hören, und letztlich hat sie ohnehin keine Wahl. In seiner Sorge um die Schwester schwört Erenwin, ihr in ihr neues Heim zu folgen, um sie zu beschützen.

Zum Anderen befindet Erenwin sich selbst in einer prekären Situation, er weiß es nur noch nicht. Sein Fundstück, die schwarze Perle vom Meeresgrund, fasziniert ihn über die Maßen, so sehr, dass er sie vor allen anderen geheim hält, selbst seiner geliebten Schwester, und selbst Turéor, der ihm besorgte Fragen stellt. Und Turéor sorgt sich nicht zu unrecht …

Im Laufe der Geschichte zeigt sich dann, dass beides miteinander zusammenhängt: die Perle und Lurdèas Hochzeit.

Der Perle kommt dabei letztlich das größere Gewicht zu. Sie verändert Erenwin, sowohl sein Äußeres als auch sein Denken und Fühlen. Außerdem scheint sie Besitz von ihm zu ergreifen, denn obwohl Erenwin die alarmierenden Veränderungen nicht entgehen, weigert er sich, Turéors Fragen zu beantworten. Bis es zu spät ist.

Auch sonst ist die Perle ein merkwürdiges Artefakt. Erenwin behauptet, sie lenke ihn. Das klingt nach einem bestimmten Ziel, das die Perle verfolgt. Doch welches? Immerhin vergehen fast zwanzig Jahre, bis Erenwin an den entscheidenden Ort gelangt, und es ist ja nicht so, als hätte die Perle ihn nicht gleich zu Anfang schon dorthin lotsen können. Und wieso verwandelt sie Erenwin allmählich in ein Ungeheuer? Diese Frage wird von der Autorin mit der Herkunft der Perle beantwortet. Ich finde diese Antwort allerdings nicht wirklich zufriedenstellend, denn am Ende taucht auch ein „Verwandter“ der Perle auf, und der wirkt überhaupt nicht wie ein Ungeheuer.

Das alles verwirrte mich ein wenig, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt von den vagen Andeutungen Turéors. Schon bald ist klar, dass alle geschilderten Vorkommnisse irgendwie mit der Vergangenheit zu tun haben, teilweise wird ausdrücklich darauf hingewiesen. Und doch bleibt diese Vergangenheit nebulös und unklar, erst beim Rückblick des Alten Feindes wird die Sache etwas klarer.

Der Handlungsverlauf selbst ist ausgesprochen abwechslungsreich gestaltet. Hier hat sich die Autorin eine Menge einfallen lassen, ohne in Weitschweifigkeit zu verfallen. Alles fängt ganz harmlos an, doch eines ergibt das andere, und das völlig natürlich und ungezwungen. Allein die beiden Begegnungen auf dem Markt – zum Einen mit der Nices, zum Anderen mit dem gebranntmarkten Jungen – wirken etwas gekünstelt. Hier hat die Autorin ihrem Protagonisten zwei wichtige, aber voneinander völlig unabhängige Informationen nahezu gleichzeitig zugespielt, das ist dann doch ein wenig zu viel des Guten.

Die ruhigeren Passagen werden immer wieder aufgelockert von turbulenteren Szenen wie der Jagd auf den Schlängelaal oder dem Piratenüberfall. Und im Großen und Ganzen ist die Geschichte frei von logischen Brüchen, obwohl ich mich doch fragte, wie der Alte Feind es riskieren konnte, die für ihn doch offensichtlich so wichtige Lurdèa einfach in Nuramar allein zu lassen. Nur durch puren Zufall ist sie ihm dort nicht abhanden gekommen.

Einen nicht zu verachtenden Anteil an der interessanten Gestaltung der Geschichte kommt dem Hintergrund zu. Das meiste spielt sich unter Wasser ab, und diese Unterwasserwelt hat Uschi Zietsch ebenfalls ohne Detailverliebtheit, aber doch malerisch in Szene gesetzt.

Und doch konnte mich das Buch trotz all dieser positiven Aspekte nicht wirklich fesseln. Es ist nett und interessant zu lesen, sicher, aber mitgerissen hat es mich nicht. Die Jagd-, Flucht- und Kampfszenen brachten zwar etwas Leben in die Handlung, aber keine wirkliche Spannung. Der Showdown war sogar regelrecht unspektakulär, wenn auch nicht ganz ohne Überraschung. Die interessanteste Figur, Turéor, ist nicht bis zum Ende mit von der Partie, und der Alte Feind, der sich so geschickt verborgen hatte, enttäuschte letztlich durch seinen Mangel an Intensität. Jemandem, der aus Rache ein ganzes Volk ausrotten will, sollte man diesen Rachedurst auch anmerken. Und auch die Sache mit der Perle ergibt keinen zusammenhängenden Faden innerhalb der Geschichte, zu undurchsichtig und unzusammenhängend erscheint ihre Einflussnahme auf Erenwin bis hin zum endgültigen Schluss.

Dass ich die |Waldsee|-Chroniken, in deren Welt „Nauraka“ ebenfalls spielt, nicht gelesen habe, erwies sich dagegen nicht als gravierendes Manko, auch wenn eventuell darin enthaltenen Details über den ersten Krieg mit dem Alten Feind hilfreich gewesen wären.

Uschi Zietsch wollte schon Schriftstellerin werden, als sie noch gar nicht schreiben konnte. Ihr Debutroman „Sternwolke und Eiszauber“ erschien 1986 bei Heyne. Sie wirkte jahrelang an der |Perry-Rhodan|-Reihe mit, schrieb eine Kinderbuchserie über Tierkinder und ihr Erwachsenwerden, sowie drei |Spellforce|-Bände und natürlich die [|Chroniken von Waldsee| 5402 . Außerdem ist sie am Zyklus |Elfenzeit| beteiligt, sie schreibt Kurzgeschichten und TV-Romane für Fernsehserien und arbeitet als Herausgeberin, Lektorin und Verlegerin.

|Broschiert: 512 Seiten
ISBN-13: 978-3404285341|

http://www.uschizietsch.de/index.htm

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