Martin Andersen Nexø – Pelle der Eroberer

Der große belletristische Sozial-Gegenentwurf

Zeit und Autor

Vor gut hundert Jahren, als die Sozialdemokratie noch in so menschlichen wie neuartigen Kinderschuhen ging, hat sich ein Wikinger darangemacht, das Leben eines dänischen Eroberers, nämlich Pelles, zu beschreiben. Dieser Pelle, von dem sein Vater sagte, er sei im Siegerhemd geboren, war aber gar nicht darauf aus, etwa andere Länder zu erobern wie seine Vorfahren, sondern wuchs wie Nexø selbst in ärmsten Verhältnissen auf. Hätte es nicht dieses Mäzenatentum in Dänemark gegeben, in diesem Fall nahm den Schriftsteller die Witwe eines dänischen Dichters auf, wäre dieses umfängliche Werk nie entstanden.

Was kann einen bewegen, dieses schon in den zwanziger Jahren von |Mathilde Mann| übersetzte Werk heute noch zu lesen, wo man doch der sozialen Frage müde ist? Der Dichter hatte nach Emigration in die Sowjetunion in der jungen DDR dann seine zweite Heimat gefunden und ist auch daselbst verstorben. Der im Osten hochgeehrte Schriftsteller, möchte man meinen, wird da wohl eine von Funktionären geschätzte Illustration der Anfänge des Sozialismus abgeliefert haben, alles Dinge, die heute ad acta liegen. Aber Nexø entwirft gar kein so linientreues Bild des Zukunftsstaates, wie es geraume Zeit in der jungen Sozialdemokratie herumgeisterte, später in den sozialistischen Ländern versucht wurde und schließlich ganz aufgegeben wurde. Man staunt längs dieses Buches immer wieder, wie hausbacken man an diese große Angelegenheit herangehen sollte und dass der bedeutende Marx überhaupt nur einmal in dem ganzen Buch erwähnt werden konnte.

Obwohl Pelle der Eroberer mit seinen 1300 Seiten schon so umfänglich ist und bei Weitem nicht der einzige Roman Nexøs war, kamen im Laufe der Zeit noch drei Bände hinzu, die den Freund und alter ego des Pelle, Morten, zum Schwerpunkt haben und auf die man angesichts des wachsenden Erfahrungsschatzes bis zur Mitte der fünfziger Jahre auch gespannt sein könnte. Dennoch beschränken sich die erfolgreichen Verfilmungen erst der DEFA und dann durch Bille August sogar nur auf das erste Buch von Pelle der Eroberer (Kindheit), von insgesamt vier, aus denen der große Roman besteht.

Kindheit

Den ganzen Roman kann Nexø nicht der Vaterfiguren entbehren, wo doch sein eigener ein versoffener Steinhauer war, schafft er hier einen älteren, verwitweten Vater Lasse, mit dem es wohl kaum einer an einfachem und gütigem Sinn aufnehmen kann. Er kommt mit seinem kleinen Sohn ins dänische Bornholm von Schweden herüber und verdingt sich als Schweizer auf einem Hof, der groß ist, aber auf dem kaum jemand gern arbeitet. Dieses erste Buch ragt sprachlich aus dem Ganzen heraus, trotzdem fragt man sich, wie diese Tatsache diesen Teil so filmträchtig machte. Schweizer sein bedeutete damals, im Stall zu leben und zu schlafen und unter ärmlichen Verhältnissen schindern zu müssen. Aber es ist etwas anderes, das diesen ersten Teil der Nachwelt besonders erhaltenswert macht. Bei all dem derben ländlichen Leben, wo natürlich Pelle auch mitarbeiten muss, vermittelt dieser Teil am deutlichsten überbordende Lebensenergie und daneben menschliche Wärme, wobei sich Letztere eben auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn im Wesentlichen beschränkt.

Der Vater ist der rechte Antiheld, gibt vor, dass er den anderen mit seinen Fäusten schon lehren wird, dass sich der alte Lasse nicht alles bieten lässt, aber wenn es drauf ankommt, muss er immer wieder klein beigeben. Aber in seiner Person ist die entscheidende Message des Buches über den Sieg der Güte verkörpert, wenn er noch vom Wenigsten, was er hat, gibt und sagt: „So arm sind wir nun auch wieder nicht, dass wir die Güte mit leeren Händen gehen lassen müssen.“

Dass man, auch wenn man den Roman vielleicht nie lesen wird, eine Probe der poetischen Sprache habe, zitieren wir noch: „Lasse saß da und sah sich ganz warm in ihrem Glück.“ Auch scherzt der Vater ständig, wenn er zum Beispiel sagt: „Mit einer Wurst, die zu lang ist, wird man schon fertig.“ Oder Nexø holt uns Sprichworte ins Gedächtnis, wie: „Wenn der Dreck zu Ehren kommt, weiß er nicht mehr, was ihm frommt.“

Die Landhierarchie ist so, dass Frauen vom Gutsbesitzer in Schande gebracht werden, dass der Verwalter einen aufsässigen Knecht fast erschlägt und um den Verstand bringt, dass der Pfarrer die Konfirmation verweigern will, weil Pelle seinen Sohn verprügelt hat und der Lehrer alle Schüler hasst, solange sie die Schulbank drücken, ihnen nichts als Kirchenlieder beibringt, dann aber alle ins Herz schließt, wenn sie im Leben stehen. Es gibt nichts Schwarz-weißes in dem Buch Nexøs. Pelles Konfirmation kommt dann doch noch zustande, weil sich die Gutsbesitzerin für ihn verwendet. Das getrübte Eheglück des Gutsherrenpaars liegt wie ein Schatten auf dem ganzen Hof. Die Wände des Gutshauses „waren so getränkt von ihrer (der Frau) Stimme, dass sie sich durch alles hindurchfraß, wie ein trübseliges Geräusch.

Lehrjahre

Frisch konfirmiert zieht Pelle in die Stadt und nimmt eine Schusterlehre auf. Vater Lasse tritt derweil in den Hintergrund und hatte sich mit einer ehemaligen Magd des Steinhofs etwas Eigenes zugelegt, was aber gar nicht zu bewältigen war und er schließlich wieder aufgeben muss. Der Sohn hatte keine Ambitionen ein Bauernsohn zu sein und besucht den Vater nur gelegentlich. Schwer genug hat er es in der Lehre, die zunächst vor allem darin besteht, dass man sich schikanieren lassen muss. Die Meister nutzen die Lehrlinge gehörig aus und wenn sie Gesellen sind, bekommen sie den Laufpass. Aber auch hier gibt es zwei Meister, einen alten schikanösen und einen jungen, der Nachsehen hat und Pelle auch ins Herz schließt – eine Insel im unwirtlichen Stadtleben, wo Pelle den Hunger im Winter kennenlernt. Der junge Meister verstirbt aber dann und immer mehr macht sich Ausweglosigkeit bemerkbar.

Zwei Lichtgestalten konstruiert uns Nexø, ein Kraftpaket, der es mit mehreren Männern mit einmal aufnehmen kann und der sogar schlummernde Baumeisterfähigkeiten hat, aber immer wieder aneckt und zeitweise arg dem Suff verfallen ist, und einen weitgereisten Schuhkünstler namens Garibaldi, der schon an allen Hauptstädten seine Zauberei zur Wirkung gebracht hatte und man würde die von ihm gefertigten Schuhe noch nach jahrelangem Vermodern in einem Misthaufen als sein Meisterwerk erkennen. Aber am Horizont zieht das mechanische Zeitalter auf, das wir heute wohl Industrialisierung nennen würden und dem Schusterhandwerk letztlich vollkommen die Karten gelegt hat.

Man könnte diesen Band als den der skurrilen Gestalten bezeichnen, die sich in einer engen miefigen Welt bewegen und man dieser nur durch Wanderschaft oder Flucht in die Hauptstadt entgehen zu können glaubt. Wieder taucht eine helfende Hand auf in Form des fahrenden Schusters, Sort, der ihn mitnimmt auf die Wanderschaft, den Lohn brüderlich mit Pelle teilt und auch den Vater Lasse aufnimmt, der, wiederum gescheitert und verwitwet, seinem Pelle in die Stadt folgt. Aus dieser Phase erwachsen aber auch die Freundschaften, wie zum Sohn der Kraft, Morten und andere, die dann in den folgenden Teilen etwas romanhaft wiederkehren.

Der große Kampf

Sort gibt Pelle die Mittel zur Überfahrt nach Kopenhagen, wo er in einem Mikroklima unterkommt, einem Wohnsilo namens Arche. Hier wird er von drei Waisenkindern aufgenommen, die sich unentdeckt in der Großstadt der Schulpflicht entziehen und der Kinderarbeit nachgehen. Pelle ist jetzt ein junger Mann, der sich schon in der Liebe versucht, aber besonders gut das Klavier der Organisation spielt, was doch gewissermaßen immer als das Allheilmittel des sozialen Aufstands gilt. Dieses ganze Abenteuer von der Mitgliederwerbung, dem Überzeugungskampf bis hin zu Massenaufmärschen und Streiks steht er als begnadeter Führer durch, was er auch nie bereut, aber sich immer fernhält von einem Funktionärsdasein mit irgendwelchen Vergünstigungen.

Das ist auch das Buch des unsagbaren Elends, in das sich dann noch Vater Lasse einfindet, der aber seinem Sohn nicht zur Last fallen will, obgleich nun schon siebzig, sich durch Singen auf den Höfen ein paar Öre verdient und bei einer Lumpensammlerin unterkommt, die mit ihm das Bett teilt und sich ihm zuliebe tothungert. Pelle, der jedwede Vergünstigung von sich wies und inzwischen eine Familie hat, erhält kurz vor dem Sieg der Bewegung einen vernichtenden persönlichen Schlag, als er entdeckt, dass seine Frau für Geld fremd geht. Der relative Sieg ist ohnehin kein endgültiger und wird von der Zeit gefressen, wo selbst die Unternehmer zum Schein Sozialdemokraten werden, um der Sache die Spitze abzubrechen. Man findet einen Vorwand, Pelle ins Zuchthaus zu stecken und damit hat der schulmäßige Traum von der sozialen Revolution für ihn ein Ende, denn als er im nächsten Teil zurückkehrt, kennt ihn kaum noch einer.

Morgendämmerung

Diesen Teil hätte es nach der reinen Lehre gar nicht mehr geben dürfen, denn er ist utopisch. Vater Lasse ist gestorben und Nexø bleibt nichts weiter übrig, als Pelle zunächst selbst zu einer Vaterfigur werden zu lassen. Auf dem Rednerpult erzählt er jetzt von einer Spinne in seiner Zuchthauszelle, deren Netz er erst als lästig zerriss, die dann aber immer wieder von vorn anfing und zum Schluss das Netz an seiner Schulter befestigte – das wollte niemand hören und es blieb eigentlich nur, sich ins Private zurückzuziehen, das Pelle ja auch so wert geworden war, nachdem er sich mit seiner Frau ausgesöhnt hatte und nun einer mehrköpfigen Familie vorstand. Pelle beginnt nun ernsthaft zu lesen, was eine seiner Erkenntnisse aus der Haft war. Dabei lernt er einen begüterten Bibliothekar Brun kennen, der mit der Zeit fast an Vaterstatt tritt.

Pelle ist der Zeit der starken Worte entwachsen, auch wenn er die Fähigkeit nicht verloren hat, überzeugend zu sprechen. Mit den heute noch präsenten Problemen des Funktionärsdaseins, dem er immer entgegenstand und des Anarchismus, dem unseligen Vorläufer der Idee eines vernichtenden Schlages, kann Pelle umgehen. Er stellt sich Darwin entgegen, wo es doch heute auch noch en vogue ist, dessen |Kampf ums Dasein| auch für die Gesellschaft für geeignet zu halten. Seine Grunderfahrungen bleiben, auch wenn es Ausnahmen sind, dass sich der Schwarm von Singvögeln dem Habicht entgegen wirft, wenn er einen von ihnen geschnappt hat, oder die Ameisen den Kameraden befreien den man versuchte mit einem gespaltenen Strohhalm zu fixieren.

Dass er nun vom Bibliothekar Brun das Kapital für eine Genossenschaft erhielt, mag auch etwas romanhaft sein, aber die Prinzipien sind es nicht. Sein glücklicher Hausstand, dann letztlich auf dem Lande, mit Frau und Kindern und verschiedenen Bewohnern, denen sie damit Gutes tun, mag etwas vor Kitsch triefen, aber das ist doch auch erst der Anfang von „den wunderbaren Menschen, die uns mit der neuen Zeit erwarten“. Das konnte er ja vor hundert Jahren unmöglich schon erlebt haben, aber in der Zwischenzeit konnten wir sehen, wie sehr andere gesellschaftliche Verhältnisse auch liebenswertere Menschen hervorbringen.

Den Marxisten muss es hier beim Lieblingsautor Nexø in den Fingern gejuckt haben, dies und jenes und vielleicht sogar die ganze Utopie zu streichen, aber es ist einleuchtend, dass ein überzeugender Mensch, wie es Pelle der Eroberer ist, der nichts anderes erobert, als den Sinn der Mitmenschen, das umsetzen kann, dass alle Arbeit, egal ob Direktor oder Kloakendienst gleich wertvoll ist und gleich entlohnt. Von dieser einleuchtenden Wahrheit sind wir noch heute i.d.R. meilenweit entfernt.

Fazit

Wer das Leiden von vor hundert Jahren auf dem Lande, im Handwerk und der Industrie, das in gewisser Hinsicht dem heutigen noch ähnelt, miterleben und in einem Ausweg mitschwelgen möchte, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Die alten Probleme sind auch die neuen Probleme. Der Sieg der Güte und Solidarität steht noch ein bisschen bevor.

Taschenbuch: 1309 Seiten
Originaltitel: Pelle Erobreren
ISBN-13: 978-3-7466-5120-0
www.aufbau-verlag.de

Christian Rempel