Bruce Sterling – Zikadenkönigin. Cyberpunk und danach

Klassische SF-Erzählungen, mit Cyberpunk-Aroma

In der Story-Sammlung „Zikadenkönigin“ sind alle Erzählungen gesammelt, die Bruce Sterling über die Zukunft geschrieben hat, die sich die sogenannten Mechanisierer und Former teilen. Außerdem finden sich hier weitere SF-Storys sowie ein paar der schönsten Fantasy-Erzählungen der 1980er Jahre, darunter den gelungenen Kurzroman „Grüne Tage in Brunei“.

Der Autor

Bruce Sterling, der Mitbegründer der Cyberpunk-Bewegung der achtziger Jahre, ist der Autor von neun Romanen, wovon er einen, Die Differenz-Maschine, zusammen mit William Gibson schrieb. Er veröffentlichte drei Storysammlungen (darunter „A Good Old-fashioned Future“) und zwei Sachbücher, darunter das bekannte „The Hacker Crackdown“ (1992) über die Verfolgung von Hackern und Crackern.

Er hat Artikel für die Magazine Wired, Newsweek, Fortune, Harper’s, Details und Whole Earth Review geschrieben. Den Hugo Gernsback Award für die beste Science Fiction-Novelle gewann er gleich zweimal, u.a. für „Taklamakan“. Er lebt in der Universitäts- und Industriestadt Austin in Texas und hat schon mehrmals Deutschland besucht. Eine seine Geschichten spielt in Köln und Düsseldorf.

Die Erzählungen

A) FORMER – MECHANISIERER

Die Evolution der Menschheit hat sich gespalten. Au der einen Seite stehen die Former, die ihren Körper mit Hilfe der Gentechnik erweitern und modifizieren. Auf der anderen Seite stehen die Mechanisierer, die ihre körperlichen Fähigkeiten mit technischen Mitteln erweitern.

1) Schwärmer (Swarm, 1982)

In ferner Zukunft hat sich die Menschheit in zwei große kulturelle Parteien aufgespalten. Die Former manipulieren ihren Körper mit genetischen und biologischen Mitteln, wohingegen die – wesentlich wohlhabenderen – Mechanisierer ihr Heil in reiner Technik wie etwa Kybernetik und Computern suchen.

Den Investierer-Aliens ist das einerlei: Sie machen Geschäfte mit beiden Parteien. Die menschliche Rasse ist ja noch so jung im kosmischen Vergleich. Vielleicht schon in wenigen Jahrhunderten könnte sie genügend Mittel haben, um das Geheimnis des intergalaktischen Fluges zu kaufen…

Dr. Afriel verabschiedet sich im Beteigeuze-System von einem Investierer-Raumschiff, um einen Planetoiden der Schwärmer zu betreten. Die Schwärmer sind ebenfalls Aliens, werden aber von den Investierern als dämliche Insekten abgetan. Die Schwärmer bauen Nester und benötigen keine Sprache, da sie sich mit Hilfe von Pheromonen verständigen. Wie in einem Ameisenbau ist alles wohlgeordnet, alle haben ihre spezielle Aufgabe.

Dr. Galina Myrni, die Xenobiologin, holt Afriel ab. Es dauert nicht lange, bevor sie misstrauisch wird. Immerhin hat sie einen IQ von 200, eine Spezialzüchtung der Former. Er verrät ihr also seinen geheimen Plan, den er für die Plan erfüllen will. Es ist ihm gelungen, Pheromone ins Nest zu schmuggeln, mit denen er Arbeiter dirigieren kann. Sein Ziel besteht darin, Arbeiter-DNS zu stehlen und zur Erde zu schmuggeln. Dort könnte man sie klonen und bis zum Umfallen rackern lassen – exklusiv für die Former, versteht sich

Myrni hat letztes Endes keine Einwände mehr gegen diesen verräterischen Plan, doch als sie ungewöhnliche Aktivitäten der Schwärmer feststellt, schaut sie ohne Afriel nach – und verschwindet spurlos. Als er sie sucht, wird er von Kriegern gefangengenommen und in eine neue Kammer gebracht. Hier wartet eine neuartige Schwärmerrasse auf ihn…

Mein Eindruck

Intelligenz – sie wird häufig überschätzt, wenn es um ihre Bedeutung fürs Überleben einer Spezies geht. Diese Lektion muss auch der einfallsreiche Dr. Afriel auf die harte Tour lernen, als er vor die Wahl zwischen Kooperation oder Absorption gestellt wird. Er hat seinen Meister gefunden: eine in aller Eile hergestellte Intelligenz der Schwärmer.

Diese feine und mittlerweile klassische Erzählung entstand im Untergenre des Cyberpunk. Der Cyberpunk stellte sich die Zukunft des Menschen auf (mindestens) zwei Entwicklungslinien vor. Die uns heute so sattsam bekannten Terminatoren sind kybernetische Organismen, Cyborgs, die den Weg der „Mechanisierer“ säumen. Doch vielversprechend war auch 1982 schon der Weg, den die Former mit ihrer Gentechnik beschritten: die Ausrottung von Erbkrankheiten, der Sieg über den Krebs, die Selbstoptimierung des menschlichen Körpers usw.

Mit „Schwärmer“ stellte der Autor, einer der Wortführer des Cyberpunk, den Wert von Intelligenz auf den Prüfstand. Wird sie wirklich eine entscheidende Rolle für die Menschheit spielen? Es sieht nicht so aus.

2) Spider Rose (dito, 1982)

Spider Rose ist eine Mechanisiererin. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie einsam und allein in ihrer Raumstation, die eine Kreisbahn um den Planeten Uranus, einen Gasriesen, beschreibt. Hier hat sie aus hauchdünnem Material ein Spinnennetz um den Planeten gewoben, in dem sich so mancher Himmelskörper verfängt. So etwa der größte Edelstein des Sonnensystems; er hat die Größe eines Busses und ist somit von unschätzbarem Wert.

Das Raumschiff der Investierer kommt also wie gerufen. Doch die reptilienartigen Aliens sind schlaue und durchtriebene Krämer, die den Unachtsamen liebend gerne aufs Kreuz legen. Kaum hat sie ihren Edelstein angeboten, als es Gegenangebote hagelt: Waffen, Gebrauchsgegenstände, Geheiminformationen, Literatur und vieles mehr. Rose lehnt alles ab, bis ihr gegenüber endlich die große Küchenschabe auf ihrem Kopf erspäht: „Haustiere?“ Bingo! Sie sind der große Trost in ihrer mittlerweile 200-jährigen Einsamkeit.

Zwölf Stunden später präsentieren ihr die Investierer ein höchst ungewöhnliches Haustier mit bemerkenswerten Eigenschaften…

Mein Eindruck

Entgegen meiner Erwartung erweist sich das Maskottchen nicht als hinterhältiges Trojanisches Pferd, das die Investierer platziert haben, um Spider Rose zur leichten Beute zu machen. Das Haustier verpuppt sich zu einem Äffchen, das die Gefühle seiner Betreuerin empfangen und angemessen beantworten kann. Zunehmend erweist sich die Beziehung als Therapie für Lydia Martinez, wie Spider Rose in Wahrheit heißt.

Und als Piraten der Former sie angreifen und ihr Schiff irreparabel beschädigen, hinterlässt ihr das Maskottchen eine weitere Erbschaft, die Rose hilft zu überleben. Allerdings in völlig anderer Gestalt.

Sterlings bekannte Erzählung aus dem Former-Mechanisierer-Zyklus (der in „Die Zikadenkönigin“ zusammengefasst veröffentlicht wurde, dt. bei Heyne) belegt, dass Wandlung das Grundprinzip des Lebens ist. Selbst ein Mechanisierer wie Lydia Martinez muss dieses Prinzip anerkennen. Es verhilft ihr zum Überleben in einem Kosmos, der lebensfeindlich ist.

3) Zikadenkönigin (Cicada Queen, 1983)

Hans Landau hat sich zwei Jahre lang bemüht, als Former in die Polycarbon-Clique der Mechanisierer aufgenommen zu werden. Die Polycarbons haben ein Abkommen mit der Zikadenkönigin, einer Investiererin der Aliens, die sich im Exil auf einer Raumstation befindet. Weil ein Geschenk für die Zikadenkönigin die richtige Eintrittskarte in die Clique darstellt, hat Hans für eine Menge Geld einen künstlichen Edelstein anfertigen lassen – von Eisho Zaibatsu, einem japanischen Unternehmen. Er selbst ist ein Former, der Flechten züchtet, damit sie den Mars terraformen. Diese Terraformung, glaubt Hans, ist das große Zukunftsprojekt der Menschheit.

Das Geschenk erzielt die gewünschte Wirkung: Wellspring, der philosophische Vordenker der Polycarbons, beglückwünscht Hans, sein Mechanisierer-Kollege Kulagin erledigt die Initiation und Valery Korstadt, eine Formerin, beglückt Hans mit dem Versprechen einer Liebesnacht. Was könnte besser sein? Allerdings stoßen sie in dem ausgewählten Separee-Raum auf eine unschöne Überraschung: einen Selbstmörder. Es scheint sich um einen Kontrolleur der Mechanisierer zu handeln, der der Königin nahesteht. Valery macht das Blut, das in der Schwerelosigkeit dieses Zimmers schwebt, erst recht an…

Dieser grausige Fund spricht als Gerücht herum, und Hans bekommt Besuche aum laufenden Band. Erst von Valerys Freundin, einer Mechanisiererin, die nicht auf Körperhygiene achtet. Hans ist froh, sie wieder los zu sein, dann taucht Kulagin persönlich auf. Er äußert einen unglaublichen Verdacht: Dass hinter dem Selbstmord in Wahrheit Wellspring steckt. Der „geborene“ Mensch Wellspring könnte so etwas wie der großen Strippenzieher sein. Will er etwa die Alien-Königin loswerden? Das würde das Aus für den moralischen Freiraum bedeuten, den die Raumstation Zarina-Kluster bislang genossen hat.

Nach einem vereitelten Anschlag auf Landau wird er vor den Ratgeber der Königin geschleppt. Dieser stellt ihm einige harte Fragen und hat eine Bitte. Endlich erkennt Landau, was Wellspring eingefädelt hat, als er ihn, Landau, dazu anregte, einen künstlichen Edelstein mit ganz bestimmten Flechten zu vermischen. Diese Flechten haben die Königin angegriffen und sie zum Verlassen des Zarina-Klusters gezwungen, allerdings nicht ohne gewisse Vorkehrungen Wellsprings.

Als Wellspring das Gerücht streut, die Königin sei fort, beginnt Chaos im Zarina-Kluster auszubrechen. Alle Ratten verlassen das sinkende Schiff, alte Rechnungen werden beglichen. Nun muss Hans Landau schauen, wie er diesen Zusammenbruch überleben kann. Er entscheidet sich für eine radikale Lösung…

Mein Eindruck

„Zikadenkönigin“ ist mit rund 60 Seiten die längste Erzählung in dieser Sammlung und unter den Mechanisierer/Former-Geschichten die komplexeste. Kern des Geschehens ist das Bestreben, den Mars bewohnbar zu machen. Können die Aliens dabei helfen? Die verfeindeten Lager der Mechanisierer und Former können sich auf keine gemeinsame Strategie einigen.

Deshalb hat offenbar Wellspring, ein undurchsichtiger Strippenzieher, eine alternative Strategie in Gang gesetzt, um die nötige Veränderung herbeizuführen. Indem Landau diesen Plan durchschauen lernt, kann er ihn übernehmen und modifizieren. Während der zarina-Kluster zusammenbricht, nähert sich nämlich aus dem Asteroidengürtel einer von mehreren Eis-Asteroiden der Marsoberfläche, um dringend nötiges Wasser zu spenden. (Ob das auf einer Welt ohne Atmosühäre sinnvoll ist, sei mal dahingestellt.) In diesem Eisteroiden eingesperrt entdeckt Landau das größte Geheimnis, das Wellspring hinterlassen hat…

Immer wieder taucht der Name eines Philosophen namens Prigogine auf. Dessen Theorie von Komplexität und Entwicklung bestimmt nicht nur das Geschehen, sondern auch dessen Erklärung und Entwicklung, soweit es Landau durchschaut. So ist es etwa nötig, beim Sprung von der dritten auf die vierte Ebene der Komplexität des Lebens (der Mensch bzw. das Leben an sich verlässt seine Heimatwelt) einen Katalysator ins Spiel zu bringen. Wie dies geschieht, ist faszinierend, aber nicht immer einfach zu verstehen.

5) Versunkene Gärten (Sunken Gardens, 1984)

Der Mars ist hundert Jahre lang terraformiert worden, und in den Kratern wachsen nun sogar Mangrovenwäldern an den Seen. Höchste Zeit also, mal wieder einen Wettbewerb in Sachen Nischen-Ökologie zu veranstalten. Diesmal gehen sechs, pardon, fünf Kandidaten an den Start – der sechste hat es laut Ringrichterin nicht geschafft.

Die Kandidaten sind die jeweiligen Vertreter von Splitterparteien der Mechanisten und Former, und Mirasol ist die Vertreterin der Medellisten. Die rechte Gehirnhälfte des Kopfes, der nun in einer großen Geländeraupe steckt, ist maximal vergrößert, um zu intuitiven, kreativen Entscheidungen und Einsichten gelangen zu können.

Der Preis, den Mirasol erringen möchte, ist die Mitgliedschaft bei den den Regals (Königlichen), die den terraforming-Kluster beherrschen. Weil der Kluster an einem Orbitalaufzug aufgehängt ist, der bis in die Umlaufbahn reicht, bedeutet der Sieg nicht nur gesellschaftlichen, sondern buchstäblich auch physischen Aufstieg – raus aus dem Marsdreck.

Der Startschuss erfolgt in Form eines weiteren abstürzenden Eisasteroiden (siehe „Zikadenkönigin“), und Mirasol rast los. Kampfplatz ist der ausgedehnte Ibis-Krater, und ihr Territorium ist mehrere Quadratkilometer groß. Als sie ihre Flechtenkiller, Bakterien, Kleintiere und so weiter ausbringt, bemerkt sie auf einmal Brandgeruch: Feuer!

Aber das Feuer springt an vielen verschiedenen Stellen gleichzeitig auf und über. Es wird absichtlich gelegt. Etwas stimmt hier nicht. Während der Kohlenmonoxidgehalt der Luft einen gefährlichen Pegel erreicht und Fallwinde die Kraterwände entlangfegen, bahnt sich eine Katastrophe an – absichtlich?

Mein Eindruck

Die Erzählung schildert ein weiteres Kapitel in der ökologischen Umgestaltung des Roten Planeten. Diesmal haben die Regals die volle Kontrolle über diese Welt, und gescheiterte Splitterparteien wie die Modellisten harren in „Camps der Erlösung“ der Gnade, endlich gnädig in die Orbitalwelt des Terraforming-Klusters aufgenommen zu werden. Dort sorgen die Alien-Investoren für neue Techniken (etwa den Sternenantrieb) und Reichtümer. Die Machtverhältnisse sind also klar verteilt.

Auf dem Marsboden findet nun ein ökologischer Krieg statt, bei dem mit gezinkten Karten gespielt wird. Denn die Regal-Kampfrichterin hat gelogen, als sie sagte, dass nur fünf Parteien an dem Wettkampf teilnähmen. Es ist noch eine sechste Partei im Spiel, eine, die Mirasol nicht auf ihrer Rechnung hatte…

6) Zwanzig Anrufungen (Twenty Evocations, 1984)

Nikolai Leng wächst in den Orbitalwelten des Ringrates auf, nicht allzu viele Jahrhunderte in der Zukunft. Seine Lehrerin, ein intelligentes Hologramm, kann sich sogar noch an sexuell erzeugte Menschen erinnern. Wow! Doch das Aufwachsen unter Formern bedeutet auch, sich Verachtung und Hass durch Mechanisierer zuzuziehen.

Im Zuge dieses Krieges zwischen beiden Parteien werden Assassinen eingesetzt. Als einer dieser Attentäter Nikolais Frau durch Kontaktgift tötet, weil sich Nikolai auf Mechanisiererweise hat aufrüsten lassen, schwört Nikolai Rache – an seinem eigenen Vater, dem Präsidenten des Ringrats.

Die Jahre vergehen und Nikolai behält die Oberhand. So ist er es, der die Alien-Investierer begrüßt, als sie der Erde einen Besuch abstatten. Er heiratet erneut, und diesmal einen weiblichen Klon seiner ermordeten Frau. Er ist inzwischen 110, sie erst 44 Jahre alt. Wird auch sie durch Kontaktgift sterben?

Mein Eindruck

Eigentlich müsste der Titel dieser Quasi-Biografie „Zwanzig Ausrufe“ lauten. Denn es sind stets solche Ausrufe, die den jeweiligen Text einleiten oder abschließen: kleine Szenen, die eine Station im Leben des Nikolai Leng während der Mechanisierer-Former-Ära beschreiben.

Ich weiß nicht, wo sich der Autor diese literarische Form abgeschaut hat, aber die Assoziation mit der Station von Jesu Leidensgeschichte liegt nahe: Kapitel und Vers liegen zur Rezitation bereit. Am Schluss seines Lebens, dem er selbst ein Ende setzt, kümmern sich zwei junge Archäologen um Nikolai Leng, den ehemaligen Vorsitzenden des Ringrats. So wird sein Andenken wachgehalten, das zugleich die Erinnerung an die versunkene Epoche der Mechanisierer-Former-kriege ist.

B) SCIENCE FICTION

7) Grüne Tage in Brunei (Green Days in Brunei, 1985)

Nach dem großen Ölcrash Ende der 1990er Jahre hat sich der Ölproduzent Brunei, ein klitzekleines Sultanat an der Westküste von Borneo, ganz vom westlichen Luxus abgewandt. Die Bürohochhäuser werden Sippen in Öko-Glashäusern bewohnt, es gibt keine Fernseher mehr, und die Telefonleitungen sind eine Katastrophe.

Das bekommt auch Turner Choi zu spüren, einem Kanadier chinesischer Abstammung, der hier in Diensten Kyoceras für den Industrieminister eine Roboterfabrik auf die Beine stellen soll. Roboter! Sie vergammeln unter Tüchern, die schon mindestens 20 Jahre alt sind, und die Software kann man in die Tonne treten. Das Handbuch zerfällt einem in der Tropenluft quasi in der Hand. Aber von Turners erlaubten neun Monaten sind nur noch drei übrig, also muss er ein paar Regeln, äh, verbiegen.

Als er illegal Satellitenleitungen anzapft, stößt er auf das Untergrund-Netzwerk, in dem sich allerlei interessante Personen verlustieren. Zwei hat er schon auf einer Party kennengelernt. Sir Jimmy Brooke ist ein britischer Steuerflüchtling und jetzt Staatsminister. Prinzessin Seria ist, nun ja, eine Prinzessin des Sultans, aber immer auf dem Laufenden, was moderne Musik und Trends angeht. Ganz im Gegensatz zu dem Nerd Turner Choi. Dennoch entspinnt sich zwischen den beiden eine verrückte Romanze, denn Turner steht auf schräge Frauen wie Seria.

Die Roboter schuften dank der Raubkopien von Handbuch und Programmiersprache wie eine Eins. Sie stellen, begleitet von Humanressourcen – vulgo: Arbeitern – rund um die Uhr an der Fertigstellung einer Trimaran-Jacht aus Verbundwerkstoffen. Fortuna ist Turner Choi hold: Jimmy Brooke will die Jacht kaufen, allerdings mit einem Hintergedanken: Er will abhauen – und dabei Seria und einen Öko-Revolutionär mitnehmen.

Zum Glück bekommt Turner unwillentlich einen Trumpf in die Hände gespielt, der es ihm erlaubt, sich mit Seria, Brooke und dem Öko-Revolutionär ausgerechnet auf Hawaii niederzulassen, dem Außenposten des größten Technik-Dinosauriers der Welt, den Vereinigten Staaten. Es gibt viel zu tun…

Mein Eindruck

Diese Novelle ist ein Kurzroman über die Zusammenarbeit von Westlern mit Asiaten in Sachen Ökologie und Industrie. Zugleich entwirft die Geschichte ein Szenario des Zusammen- und Neuaufbruchs, nachdem der Welt das Erdöl ausgegangen ist. 1985 veröffentlicht, waren es nur noch 15 Jahre bis zum Ende des Jahrtausends, und die Erdöl-Ära hatte ihren Höhepunkt (Peak Point) bereits überschritten.

Die Bezeichnung „Roman“ ist insofern gerechtfertigt, als hier die Figuren über eine persönliche Geschichte und Psychologie verfügen, was in Kurzgeschichten eher selten anzutreffen ist. Außerdem entspinnt sich eine romantische Liebesgeschichte, was (meist) nur geschehen kann, wenn sich die Handlung über mehrere Wochen oder Monate hin erstreckt, wie es hier der Fall ist. Zudem kommt es am Schluss, als für den „Helden“ bereits alles verloren zu sein scheint, zu einer dramatischen Zuspitzung und erfreulichen Wendung der Ereignisse.

Warum Brunei? So wunderbar authentisch, wie der kleine Staat hier beschrieben worden ist, so wundert man sich doch, was an Brunei so weltbewegend sein soll, dass es den Schauplatz für eine Romanhandlung liefern darf. Der Grund ist gar nicht so einfach zu beschreiben, aber es läuft darauf hinaus, dass Brunei ein „Exemplum“ darstellt: Der erdölproduzierende Staat profitierte von den „Segnungen“ der westlichen Kultur – der Name „Coca Cola“ fällt mehrere Male. Hier trifft also West auf Fernost, und Kulturschocks, wie ihn Turner Choi, erleidet, waren für den Autor schon immer besonders interessant.

Denn nachdem die westliche Kultur ausgesperrt worden ist, dreht sich der Wind, und die einheimische Regierung und Bevölkerung kehren zu ihren alten Stärken zurück. Sie rekultivieren die Straßen, machen die Betonklötze zu Sippendörfern und Treibhäusern – und erwecken eingemottete Roboter zu neuem Leben, um eine neue Industrie zu schaffen: Segelschifffahrt für den Handel. So sieht die Vision für die Post-Crash-Zukunft aus. Sie mag ulkig aussehen, aber wenn der Welt wirklich mal das Öl ausgeht, dann könnte sie umso plausibler erscheinen.

8) Spitzel (Spook, 1983)

Simpson ist ein Spitzel, der seinen Namen vergessen hat. Dafür hat der SCHLEIER gesorgt, ein nanotechnisch erzeugter Computer, den er nun über seinen Hirnwindungen trägt. Der SCHLEIER sorgt auch dafür, dass er seine früheren Verbrechen vergessen hat. So kann er nun unbelastet von der Vergangenheit in Washington, D.C. seinen nächsten Auftrag entgegennehmen. Dafür, dass er die ganze Zeit in den Orbitalwelten gelebt hat, macht ihm die irdische Schwerkraft erstaunlich wenig zu schaffen.

Der Sicherheitschef von Synthesis, dem letzten auf der Erde verbliebenen Industriekonglomerat, schickt ihn nach Guatemala. Doch hat sich eine Rebellenbewegung formiert, die sich „Maya Resurgence“ nennt, und bietet der Expansion von Synthesis die Stirn. So sind keine Profite zu machen!

Ein mexikanischer Arzt namens Flores färbt Haar und Haut des Spitzels um, dann geht’s nach Tikal. Ein priester der Theokratie, die das Anwesen des amerikanischen Kyborgs Owens übernommen, hat sperrt ihn in eine Zelle unter der Spitze der großen Pyramide von Tikal: Gehirnwäsche mit Drogen und hypnagogischen Einflüsterungen. Nur der SCHLEIER bewahrt den Spitzel davor, dieser Bewusstseinszerstörung zu erliegen und ein echter Neo-Maya zu werden.

Bei einer Maya-Zeremonie zu Ehren des Regengottes kommt es zu einer fatalen Begegnung: Die Priesterin ist ebenfalls eine Spionin! Sie enttarnt ihn und die Wächter versuchen, ihn zu packen. Der Spitzel nimmt den einzigen verbliebenen Fluchtweg – hinunter in den Schacht des Opferbrunnens…

Als er erwacht, fühlt er sich stark verändert, und sein Hirn kommt ihm vor wie das eines Dinosauriers. Kein Wunder, die andere Spionin hat ihm den SCHLEIER genommen. Nun ist er ein ganz „normaler“ Mensch. Aber kann er damit leben?

Mein Eindruck

Zunächst scheint dies eine weitere Cyberpunk-Story zu sein, die auf einer künftigen Erde spielt. Ein technisch aufgemotzter Agent – bei anderen Autoren sind es drogenveränderte oder genmanipulierte Soldaten oder Söldner – begibt sich in den Dschungel Mittelamerikas, um dort eine geheime Mission zu erfüllen.

Das klingt stark nach den Geheimoperationen des Weißen Hauses in Nicaragua und El Salvador. Nur ging es damals ca. 1984 nicht gegen Maya-Erneuerer, sondern und linksgerichtete Sozialrevolutionäre (die „Contras“) – und von die wollte die rechtskonservative Reagan-Regierung natürlich nicht tolerieren. Die „Iran-Contra-Affäre“ um Col. Oliver North und die CIA ließ die denkbar schmutzigsten Machenschaften auffliegen.

Der Clou der Story verbirgt sich in dem Konzept des SCHLEIERS. Dieser Nano-Computer speist den Agenten nicht nur mit relevanten Informationen, sondern löscht auch seine Erinnerung an vorhergehenden Taten und Verbrechen aus. So lebt der Agent stets nur im Augenblick und kann sich voll auf seine Aufgabe konzentrieren. Dummerweise passiert dies auch anderen Agenten, und die sind schon vor Ort. So kommt es zu einer fatalen Begegnung.

Die Pointe besteht darin, dass Simpson, der Spitzel, erfährt, dass er ein Massenmörder ist, weil er eine der Orbitalwelten so beschädigt hat – genauer wird der Autor nicht -, dass mehrere tausend Menschen krepierten. Die Industrie, verkörpert vom Verbund Synthesis und der Firma Replicon, schreckt also keineswegs vorm Einsatz von Massenmördern zurück.

9) Das Schöne und das Erhabene (The Beautiful and the Sublime, 1987)

Der Künstler Manfred de Kooning schreibt im Jahr 2070 an seinen Freund MacLuhan, wie er um das Herz der schönen Leona kämpfte.

Leonas Vater Dr. Hillis ist ein erfolgreicher, aber sterbenskranker Erfinder, dessen intelligenter Parallelprozessor die Informationstechnik revolutioniert und die Wissenschaft abgeschafft hat. Nun investiert er in andere Erfinder, darunter einen „Wicht“ namens Marvin Somps, der nach dem Willen ihres Vaters Leona heiraten soll.

Nicht wenn es nach Manfred geht, o nein! Dass ihm ihr Herz gehört, bestätigt sie ihm in einer schönen Stunde in den Schluchten des Grand Canyon. Er verbündet sich mit einem anderen Freier, doch dieser begehrt das Herz der klugen Mari Kuniyoshi, einer Firmenchefin, die ebenfalls einem anderen versprochen ist. Ruchlos!

Zusammen erkunden die beiden hoffnungsfrohen Romeos Möglichkeiten, wie sie ihre Opponenten aus dem Weg räumen können. Und als Somps Manfred seine neueste Erfindung, ein libellenartiges Fluggerät mit Handsteuerung, vorstellt, sieht Manfred seine Gelegenheit gekommen, Somps bloßzustellen. Doch dann kommt alles anders.

Mein Eindruck

Diese hinterlistige Parodie eifert dem Stil des 19. Jahrhunderts nach, allerdings mit einem guten Schuss Shakespeare-Liebeskomödie in den Adern. Romeo kämpft um das Herz und die Hand der schönen Leona, verbündet sich mit einem Schicksalsgenossen und beide bekämpfen die rivalisierenden Lotharios und verknöcherten Herzöge dieser schönen neuen Welt. Dass sich Lotharios, pardon: Somps Untreue schließlich aufdecken lässt, spielt natürlich beiden in die Hände.

Der Leser erkennt schon bald, dass es sich um eine Parodie handelt. Bereits die seltsam abgehobene Diskussion um „das Schöne und das Erhabene“ ist ein dekadenter Zeitvertreib, den sich eine technisch-kommerziell orientierte Kultur wie die heute im Westen vorherrschende wohl kaum leisten würde. Da lässt es sich leicht über Laster wie „angesengte Fleischstücke“, „angesengten Tabak“ und – würg! – Ethylalkoholgenuss im Übermaß lästern.

Der Sinn der Geschichte besteht darin aufzuzeigen, was passieren würde, wenn es zu einer Erfindung käme, in der künstliche Intelligenz zur Abschaffung der bisherigen Strukturen von Technik, Wissenschaft, Verteidigung, Kommerz und vielem mehr käme. Unzählige „Bataillone von Wissenschaftlern und Technikern“ würden arbeitslos werden und sich einen neuen Lebensunterhalt bzw. Zeitvertreib suchen müssen. Marvin Somp und der Ex-Kosmonaut Fred Sokolov sind nur zwei Beispiele für den Niedergang dieser Zunft, über Wasser gehalten von schrulligen Ex-Erfindern wie Hillis.

Ex negativo, aber amüsant und unterhaltsam formulierend kritisiert der Autor also Ansätze und Möglichkeiten, die heutige technisch-wissenschaftliche Zivilisation zu beenden. Das muss nichts Schlimmes bedeuten – solange man darauf vorbereitet ist.

C) FANTASY

10) Telliamed (dito, 1984)

Anno 1737 lässt sich der ehemalige Konsul Frankreichs in Ägypten am Meeresufer bei Marseille nieder, um sich auszuruhen. Der Achtzigjährige liest einen Brief aus Surinam, den ihm ein anderer Naturphilosoph geschrieben hat. Dieser Jesuit hat gleich erkannt, dass die Schrift eines gewissen Telliamed nur von Monsieur de Maillet selbst stammen: eine Schrift über den Rückgang der Meere.

Dem Brief hat der Jesuit eine Prise Schnupftabak beigefügt, der von den Ureinwohnern jener südamerikanischen Gegend stammt und der heilende Wirkung haben soll. De Maillet genehmigt sich eine Prise – ein heftiger Schmerz in der Nase veranlasst ihn zu einem lauten Ausruf. Dieser lockt einen jungen Mann herbei, der in den Klippenhöhlen ein Schäferstündchen hatte. Nachdem er dem Kaufmannssohn seine Theorie des Rückgangs der Meere präsentiert hat, hat de Maillet plötzlich eine außersinnliche Wahrnehmung: eine strahlende Woge überrollt die Welt.

Doch dabei bleibt es nicht. Ein Strudel bildet sich im Meer, und ihm entsteigt eine nackte Riesin mit einer Haut von der Farbe dunklen Schiefers. Er habe sie lange bekämpft, beschwert sie sich: die Unwissenheit. Sie wird begleitet von drei geistern, die sich ebenfalls anklagend gegen de Maillet wenden: Glaube, Hoffnung und Kirche. Nichts werde von ihnen dermaleinst übrigbleiben, wenn er und seinesgleichen ihr Werk vollendet hätten. Dann würden die Menschen sich an Gottes Stelle sehen und nur noch Götzen dienen: Macht und Reichtum, unter anderem.

De Maillet wehrt die Erscheinung ab, doch sie türmt sich als riesige Woge auf und bricht über ihm zusammen… Als er zu sich kommt, ist er völlig durchnässt, hält aber einen Kieselstein wie einen Talisman fest.

Mein Eindruck

Wow, das muss ja ein starkes Kraut gewesen sein, dass sich der Naturphilosoph da reingepfiffen hat! Die Erscheinung der drei vergehenden Geister erinnert an die drei Geister der Weihnacht, die Ebenezer Scrooge besuchen, um ihn zu einem besseren menschen zu machen. Nun, bei de Maillet ist das vergebliche Liebesmüh: Er bleibt Naturphilosoph durch und durch.

Dass er diese Erscheinung im Jahr 1737 erlebt, ist sicher kein Zufall. Denn kurz davor hat ein gewisser Carl Linné sein System der Arten vorgestellt, in dem alle Wesen fein säuberlich einsortiert werden. Und ein gewisser Descartes hat behauptet: „Ich denke, also bin ich.“ Das Zeitalter der Aufklärung hat begonnen, dargestellt als Welle hellen Lichts, die über die Welt zieht. Seitdem ist alles anders geworden, doch der Autor fragt verschlüsselt, ob das wirklich zum Wohle des Menschen und seiner Zukunft erfolgt ist.

Ohne diese Botschaft liest sich die kleine Geschichte jedoch stilecht wie eine Erzählung aus der Zeit von Louis XIV, eine orientalische Phantasie, wie sie noch beim frühen Voltaire beliebt war.

11) Der kleine Zauberladen (The little magic shop, 1987)

James Abernathy wird Anfang des 19. Jahrhunderts in New York City geboren. Da seine Kindheit und Jugend von Tragödien überschattet sind, betritt er eines Tages den kleinen, unscheinbaren Zauberladen, um einen „Sorgentöter“ zu kaufen. Der Besitzer, Mister O’Beronne aus Irland, bietet ihm als Alternative das Wasser der Jugend an, wenn er ihm dafür all seinen Besitz gibt. Abernathy ist einverstanden.

Eine Flasche des Wundermittels reicht genau 20 Jahre, wenn man sich auf einen Teelöffel pro Jahr beschränkt, erzählt er, als er anno 1848 wieder den Zauberladen besucht. Da er kaum ein Jahr älter aussieht und sich pudelwohl fühlt, will eine neue Flasche und kriegt sie. Er hat es in Sacramento während des Goldrauschs zu Wohlstand gebracht. 20 Jahre später ist der Bürgerkrieg vorüber und Abernathy holt sich erneut seine Ration ab. Er bietet sogar an, den Laden zu kaufen, doch O’Beronne lehnt ab.

Hundertzwanzig Jahre später kommt Abernathy erneut, doch diesmal hat ein Peepshow-Betreiber den Laden aufgekauft. Mister O’Beronne sitzt mit Gicht im Rollstuhl und hustet, war Abernathy auf eine Idee bringt. Der alte Knabe könnte auch etwas Jugendwasser vertragen – zumal das Sixpack die letzte Produktion gewesen ist, bevor die Fabrik zumachte. Er packt O’Beronne in seinen Sportwagen und düst mit ihm nach Florida…

Mein Eindruck

Die kurze, amüsante Story ist eine Satire auf den amerikanischen Jugendwahn. Diesmal bekommt der Ami vom Elfenkönig Oberon höchstselbst das Elixier der Jugend, wenn auch um einen hohen Preis: seine weltlichen Besitztümer. Typisch Yankee investiert Abernathy gehörig, ohne jedoch eine Familie zu gründen. Eine aufmerksame Ehefrau könnte darob stutzig werden, dass er nicht altert, und ihn auffliegen lassen. Und so ist ihm ewige Jugend sicher, ohne dass der Teufel seine Hand im Spiel hat.

Auf der anderen Seite handelt es sich hier um eine kurze Geschichte der amerikanischen Kultur und nationalen Entwicklung, von ca. 1828 bis 1988. Und auch das ist sowohl amüsant als auch aufschlussreich.

12) Die Blumen von Edo (Flowers of Edo, 1987)

Um 1870 in der japanischen Hauptstadt Tokio, die unter dem Shogun einst Edo hieß. Japan hat sich 1865 den Amerikanern unter Admiral Perry öffnen müssen. Inzwischen stolpern Leute wie der Varietékünstler Encho laufend über Neuerungen in Tokio, die die Westler eingeführt haben. Zusammen mit seinem Saufkumpan Onogawa, einem verheirateten Konserbativen, der sich nach 1865 gegen die Neuerungen wehrte, begibt sich Encho in die nagelneue Ziegelstadt.

Ziegel hat es bislang in Tokio nicht gegeben, denn alle Häuser werden traditionell aus Holz, Riedgras und Reispapier errichtet. Die Ziegel sollen, so heißt es, gegen die allfälligen Feuerbrünste schützen. Diese werden auch als „Blumen von Edo“ genannt. Der Zeichenkünstler Yoshitoshi wohnt und arbeitet jetzt in einem solchen Ziegelhaus. Da er gute Verbindungen hat, bietet er seinen Bekannten amerikanischen Whisky als Getränk an: „Borubona“, also Bourbon. Schon bald zeitigt der ungewohnt starke Alkohol eine unheilvolle Wirkung.

Onogawa macht die Fensterläden auf und Telegrafendrähte, die direkt vorm Fenster zu einem Verteilermasten führen. Diesen neumodischen Dingern verpasst er mit seiner langen Bambuspfeife eine Abreibung, bis die Funken fliegen. Er will den Dämon heroisch vertreiben. Das scheint ihm auch zu gelingen, denn eine Funkenstrecke entfernt sich nach Süden. Yoshitoshi nund Encho gratulieren Onogawa zu seiner heldenhaften Tat. Schade, dass er kein Schwert mehr tragen darf, weil es der Kaiser verboten hat.

Schon bald sind aus dem Süden der Stadt Alarmglocken zu hören: Das dort gelegene Arbeiterviertel hat Feuer gefangen. Vor Ort bekommen Encho und Onogawa von den Feuerwehrmännern die Ursache zu hören: „Funkenflug von den Drähten, ja, aber das hat sich wohl nur ein Betrunkener ausgedacht…“

Mein Eindruck

Der Autor führt uns zurück in einen spannenden Moment der japanischen Geschichte, als sich Ost und West dort treffen und eine kulturelle Revolution in Gang setzen. Sterling hat sich intensiv mit solchen Umwälzungen befasst, wie nicht nur seine Erzählungen, sondern auch seine Essays belegen. Manchmal bringt er groteske Apsekte zum Vorschein, manchmal unheilvolle.

Moderne Phänomene wie Telegrafendrähte werden als Dämonen interpretiert, und Feuersbrünste als Blumen. Ziegelhäuser erscheinen als krank machende Zellen des Todes, Lokomotiven als gefesselte Feuerpferde. Gaslaternen vertreiben das Dunkel der Nacht, die Sterne und den Mond – wie unnatürlich!

Im Grunde besteht die Handlung aus einem Besäufnis nach dem anderen, und das ist durchaus amüsant. Aber die Komik überdeckt nur das Grauen. Der „illustrierende Reporter“ Yoshitoshi hat eine Vision, die ihm der Dämon der Moderne eingibt: Lokomotiven, die fliegen können und Eier des Todes über japanischen Städten abwerfen. Doch diese „Blumen von Edo“ sind größer und zerstörerischer als alles Dagewesene: Atombomben. Diese Vision, mit Tusche gezeichnet, verbrennt der Künstler gleich wieder. Sicher ist sicher.

13) Abendmahl in Audoghast (Dinner at Audoghast, 1985)

Anno 1014 ist im westafrikanischen Stadtstaat Audoghast noch (fast) alles in Ordnung, und so finden sich im Hause des reichen Sklavenhändlers Manimenesch dessen Hofdichter, ein weitgereister Karawanenführer und der am Hofe des Stadtfürsten gern gesehene Arzt und Giftexperte Bagayoko zu einem Festmahl ein. Mit dem Nachbarstaat Ghana gibt es gerade keine Probleme, und an Manimeneschs Tafel lassen sich zahlreiche Meinungen und Neuigkeiten austauschen. Den Karawanenführer, der sogar so weit wie Cordoba, Byzanz und China gereist ist, interessiert vor allem Elfenbein und afrikanisches Gold.

Das Eintreffen der wohlgenährten und goldbehangenen Kutisane Elfelilet verspricht angenehme Freuden für die Nachtstunden. Doch Manimenesch hat den verzeihlichen Fehler begangen, aus Neugier einen neu angekommenen Wahrsager zu sich bringen zu lassen. Der Krüppel ist ein von Lepra gezeichneter Krüppel. Doch das hindert ihn nicht daran, eine sehr düstere Zukunft vorauszusagen. Spielverderber! Man sollte ihn köpfen lassen…

Mein Eindruck

Tatsächlich hat man seit dem Jahr 1054 (einem Jahr mit einer Supernova), also die fanatischen Amoraviden Audoghast überfielen und dem Erdboden gleichmachten, nie wieder etwas von der prächtigen Stadt gehört. Nur ein paar (dem Text vorangestellte) Zeilen im Buch eines arabischen Reiseschriftstellers erinnern an die schöne, prächtige Stadt unweit von Timbuktu und Ghana.

Die Erzählung ergeht sich in der Beschreibung leiblicher Genüsse und sinnlicher Vorfreuden. Die Muslime schauen auf die Christen und anderen Ungläubigen ebenso herab wie auf Sklaven und Frauen. Und warum auf nicht? Schließlich erstreckt sich das islamische Weltreich von Marokko und Niger über Ägypten und Arabien bis hinüber nach Iran und Afghanistan. Es ist größer als das römische Imperium. Die Männer sind mit sich zufrieden. Und wenn nicht, so sorgt das Gift des Arztes für Ausgleich.

Der Wahrsager erscheint wie ein Zeitreisender aus der Zukunft – aus unserer Zeit, um genau zu sein. Er sieht angemessen getarnt aus, krank und verkrüppelt, bemitleidenswert, ein Almosen wert. Doch was er sagt, trifft akkurat zu. Die Botschaft des Autors, der durch ihn spricht, ist klar: „Auch dies, lieber Leser, was du gerade vor dir siehst, wird einmal vergehen.“ Wir sollten uns daher des Augenblicks erfreuen.

Die Übersetzung

Leider finden sich in diesen Texten etliche Druckfehler, die nicht von Pappe sind und den Leser wirklich verwirren können. Die allfälligen Fehler wie etwa falsche Wortendungen und Buchstabendreher habe ich gleich unerwähnt gelassen.

S. 133: „Trupfer“ statt „Tupfer“.

S. 144: „Quadrate“ statt „Quadrate“. Solche Weglassungen finden sich häufig. Wahrscheinlich aus Platzgründen.

S. 161: „Deine Personalakte“ sollte „Seine Personalakte“ heißen.

S. 168: „bizzare“ statt „bizarre“.

S. 243: „Nach dem Bevölkerungsrückgang am Beginn des zweiten Jahrtausends.“ Gemeint ist aber das dritte Jahrtausend, also ab 2001. Denn das 1. Jahrtausend fing ja mit den Jahr 1 an, das zweite mit dem Jahr 1001.

S. 286: Hier findet sich kein Text-, sondern ein Druckfehler – ein Fitzelchen Papier hat das Bedrucken dieser Seite an einem bestimmten Fleck verhindert. Was fehlt, lässt sich aber leicht rekonstruieren.

S. 289: „Er verfolgt Anweisungen.“ Nein, er „befolgt Anweisungen“, wie es richtig ein paar Zeilen weiter unten richtig heißt.

S. 381: „Das Ungeheuer verhielt sie wie eine Ratte.“ Statt „sie“ muss es „sich“ heißen.

S. 395 + 399: „Dscheballa“ Eine Dschellaba ist ein knöchellanges einfaches Gewand, das in heißen islamischen Ländern meist von Männern getragen wird.

Unterm Strich

Die Science-Fiction- und Fantasy-Erzählungen dieses Bandes fallen nicht besonders aus der Masse der Produktion während der 1980er Jahre heraus, höchstens durch ihren Einfallsreichtum und ihre sprachliche Gediegenheit. Besonders gefallen hat mir der Kurzroman „Grüne Tage in Brunei“, der die Philosophie des Autors ziemlich gut widerspiegelt. Cyberpunk – oder was dafür ausgegeben wird – ist das jedenfalls nicht.

Die besonders eigenständige Leistung Bruce Sterlings findet sich jedoch in seinen Former-Mechanisierer-Erzählungen. Hier entwirft Sterling im Unterschied zu vielen seiner zeitgenössischen Zunftkollegen eine Zukunft, in der sich die kyborgartigen Mechanisierer mit den gentechnisch orientierten Formern einen Dauerkrieg liefern. Beide Seiten versuchen den Investoren, unter anderem der titelgebenden Alien-Königin, etwas von Wert zu liefern, wofür sie etwas von Wert eintauschen könnten; ein Überlichtantrieb wäre beispielsweise ein total geile Sache.

Die fünf Erzählungen begleiten und ergänzen Sterlings richtungsweisenden Roman „Schismatrix“ um weitere Facetten einer Geschichte der Zukunft, die heute immer unwahrscheinlicher erscheint. Was Sterling nicht genügend voraussah, ist die Digitalisierung aller menschlichen Lebensbereiche, von den Maschinen über die Dinge des alltäglichen Lebens bis zu den Menschen selbst. Oder er ist uns (wieder mal) zu weit voraus und zeigt eine Zukunft, in der Menschen nur noch digital aufgerüstet existieren werden. So wie Spider Rose in ihrem Raumschiff-Gehäuse.

Wer nun meint, diese Zukunftsentwürfe seien nur Hirngespinste, sollte mal einen genauen Blick auf den jährlich veröffentlichen Hype-Cycle des Marktforschungs- und Beratungsunternehmens Gartner Group werfen. Da findet „Biochips“ nur wenige Jahre hinter „selbstfahrenden Autos“ (siehe Google), die heute bereits in Kalifornien zugelassen. Und nur etwa zehn Jahre in der Zukunft findet sich da ein Eintrag namens „Brain-Computer Interface“, also eben jene Schnittstelle zwischen Hirn und Computer, die dem Cyberpunk sozusagen die Grundlage lieferte. Cyberpunk – wir können ihn noch zu unseren Lebzeiten erleben.

Bruce Sterling hat drei oder vier Storysammlungen veröffentlicht. Von diesen ist „Zikadenkönigin“ (O-Titel „Crystal Express“) definitiv die mit den meisten und besten Ideen. Das Buch ergänzt Sterlings Anthologieband „Spiegelschatten“, die definitive Cyberpunk-Storysammlung, optimal.

Taschenbuch: 410 Seiten
Originaltitel: Crystal Express, 1989
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453042940

www.heyne.de

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