William Gibson / Bruce Sterling – Die Differenzmaschine. Steampunk-Roman

Die Computer-Rebellen des 19. Jahrhunderts

William Gibson hat sich einen Ruf als Moralist der Science-Fiction erworben, hier bestätigt er ihn. Zusammen mit Bruce Sterling vernichtet er den Mythos von einer heilsbringenden Herrschaft der Computer, ja die Vorstellung von einer Future History der Menschheit überhaupt. Daher sollte dieses Werk keinesfalls unterschätzt werden.

Dieser Roman ist dem so genannten „Steampunk“ zuzurechnen: Elektronik, Magie, Zeitreise, d. h. alle möglichen SF-Themen finden im 19. Jahrhundert statt in der Zukunft oder Gegenwart ihre Anwendung. Und im 19. Jahrhundert dient den Autoren das London von Charles Dickens als Schauplatz der Handlung.

Die Autoren

William Gibson lebt in Vancouver, British Columbia, jener Gegend, in der auch seine Kollege Douglas Coupland lebt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er fing als Englischlehrer an, floh vor dem Wehrdienst ins kanadische Toronto und schrieb ab Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre Erzählungen, die die Science-Fiction verändern sollten.

Höhepunkt dieser Entwicklung war der Roman „Neuromancer“, in dem er den „Cyberspace“ postulierte, das, was wir heute als Internet kennen und nutzen. Allerdings stöpselt sich Gibsons Held Case direkt in den Computer ein. Auch an dieser direkten Gehirn-Maschine-Verbindung wird bereits gearbeitet, Geräte für Endverbraucher waren schon auf der CeBIT 2004 zu sehen.

Sein Werk bestand bis zu „Pattern Recognition“ aus vielen Storys und zwei Roman-Trilogien, der „Neuromancer“- und der „Idoru“-Trilogie. Alle Bücher sind bei |Heyne| erschienen. Doch „Mustererkennung“ erscheint im Juli 2004 bei einem Verlag, der nicht gerade für Science-Fiction bekannt ist, sondern vielmehr für Tolkien und andere Fantasy: bei |Klett-Cotta|. 2019 wurde ihm der Damon Knight Memorial Grand Master Award für sein Lebenswerk verliehen.

Mehr Infos unter: http://www.williamgibsonbooks.com.

William Gibson bei |Buchwurm.org|:

Neuromancer
Neuromancer (Hörspielfassung)
Mustererkennung

Bruce Sterling ist der eigentliche Wortführer („Vincent Omniaveritas“) des Cyberpunk und neben William Gibson und Walter Jon Williams der wichtigste Autor dieser postmodernen Richtung der Science-Fiction. Seine Anthologie „Mirrorshades“ (dt. als „Spiegelschatten“, bei Heyne als Nr. 06/4544 erschienen) setzte seinerzeit Maßstäbe. Sie gilt als die beste und wichtigste Anthologie der Achtzigerjahre. Inzwischen hat Sterling mehrere bedeutende Romane wie „Heiliges Feuer“ und „Brennendes Land“ vorgelegt.

Bruce Sterling bei Buchwurm.info:

Inseln im Netz
Brennendes Land
Spiegelschatten
The Zenith Angle
Der Staubozean
A Good Old-fashioned Future. Erzählungen
Zikadenkönigin. Erzählungen
Schismatrix
Schwere Wetter
Visionary in Residence. Erzählungen

Handlung

London im Smog, Mitte des 19. Jahrhunderts, in einer Parallelwelt. Das Computerzeitalter ist angebrochen, seit es dem berühmten Erfinder Charles Babbage 1821 gelungen ist, seine auf dem Lochkartensystem basierende „Differenz-Maschine“ zu vervollkommnen. Dampfbetriebene Computer treiben die Industrielle Revolution voran, Großbritannien und Frankreich haben Europa untereinander aufgeteilt, ebenso den kolonisierbaren Rest der Welt. Eine goldenes Zeitalter?

Leider nein, denn die menschliche Natur ist die gleiche geblieben: Neid, Hass und Verrat gedeihen wie eh und je und verstricken die unterschiedlichsten Menschen in folgenreiche Ereignisse von Gewalt und Brutalität. An der Spitze der sozialen Pyramide: der skrupellose Wüstling Lord Byron als Premierminister einer technokratischen Regierung.

Da wäre zum Beispiel Sybil Gerard, die Tochter eines berüchtigten Ludditen, d.h. Maschinenstürmers – eine „gefallene Frau“ und Edelprostituierte; und da wäre Edward Mallory, Entdecker, Paläontologe und Rekonstrukteur des Land-Leviathan; und da wäre Lady Ada Byron, die Tochter des Premierministers, ein mathematisches Genie und eine zwanghafte Glücksspielerin; und schließlich Laurence Oliphant, seines Zeichens Leiter der Geheimdienstabteilung des Außenministeriums, ein Diplomat und Drahtzieher.

Diese vier und viele weitere sind wider Willen gefangen im Netz einer Verschwörung, das Großbritannien mit dem Frankreich Louis Napoleons und Karl Marx‘ Kommune von Manhattan miteinander verbindet. Und es kommt noch dicker: Der Computer des Titels scheint auf dem besten Weg, ein Bewusstsein zu erlangen und die Weltherrschaft anzustreben …

Mein Eindruck

Großbritannien wird dargestellt als ein negatives Utopia, dessen sichtbare Verelendung und Verschmutzung die apokalyptischen Visionen, die Charles Dickens (z.B. aus „Hard Times“) von einem industrialisierten Land hatte, widerzuspiegeln scheint. Dieses Land wird beherrscht von Berechnung, Berechenbarkeit, Bemessung und streng „praktischen“ Erwägungen. Große Autobahnen für stinkende Automobile durchziehen das erstickende London; gigantische Hochäuser beherbergen die bürokratische Elite der Technokraten, die die MASCHINEN bedienen, das heißt die großen, dampfbetriebenen Lochkartencomputer. Hier wird der Maschinengott elektronisch erleuchtet, sein erwachendes Bewusstsein ist eine Bedrohung der gesamten Welt.

Dies verlangt geradezu nach einer Maschinenstürmerin wie Sybil Gerard. In der Jagd auf sie inszenieren die beiden Autoren ein wildes Autorennen quer durch die versmogte Innenstadt von London, mit einem fulminanten Showdown in den elenden Hafendocks, wo das Verbrechen blüht.

Für den Leser erweist es sich jedoch als großer Vorteil, wenn er schon viel über das viktorianische London und über die Arbeitsweise von Computern weiß. Dies verhilft zu etlichen ironischen Einsichten, die die Handlung und einige der Charaktere anbieten. Karl Marx nach Manhattan zu verfrachten und seine Kommune dort, in der Hochburg des Kapitalismus, einrichten zu lassen, ist schon ein starkes Stück.

Taschenbuch: 623 Seiten
Originaltitel: The Difference Engine, 1990
Aus dem US-Englischen übertragen von Walter Brumm.
Mit einem Nachwort von Michael Nagula.
ISBN-13: 9783453526723

www.heyne.de

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