James Ellroy – Ein amerikanischer Albtraum [Underworld U.S.A. 2]

Nachdem 1963 bereits Präsident John F. Kennedy mit Billigung des FBI von der Mafia ermordet wurde, gerät fünf Jahre später sein Bruder Robert – der einen Feldzug gegen das organisierte Verbrechen führt – ins Visier der Verschwörer … – Erschreckend plausibel entwickelt Autor Ellroy im zweiten Band der „Underground U.S.A.“-Trilogie seine alternative, von Korruption und Komplotten gezeichnete ‚alternative‘ Geschichte der USA fort. Während die dichte Handlung erschreckt und fesselt, stört Ellroys offensiver, allzu ‚literarischer‘ Stil, der von kurzen, stakkatohaften Sätzen geprägt bzw. zerrissen wird.

Das geschieht:

Am 22. November 1963 stirbt in Dallas, Texas, US-Präsident John F. Kennedy. In den Geschichtsbüchern lesen wir, dass der Einzeltäter Lee Harvey Oswald das Attentat beging. Tatsächlich fiel Kennedy einem Komplott des organisierten Verbrechens zum Opfer. Die Mafia, die einst geholfen hatte, ihn in den Sattel zu heben, war von ihm ‚verraten‘ und im Bund mit seinem Bruder, dem Justizminister Robert „Bobby“ Kennedy, erbarmungslos verfolgt worden. Der Mord von Dallas soll auch diesen zweiten Kennedy warnen: Siehe, das geschieht, wenn man uns zu nahe rückt!

Organisiert wurde das Attentat von Pete Bondurant. Die Mafia hat ihn in der Hand, seit er ihr Rauschgift stahl und dabei ertappt wurde. Auch das FBI ist in den Kennedy-Mord entwickelt: J. Edgar Hoover, der selbstherrliche, paranoide und erzreaktionäre Direktor, hasst Jack und Bobby gleichermaßen. Er wusste von dem geplanten Anschlag und billigte ihn; nun schickt er einen ehemaligen Mitarbeiter nach Dallas. Ward J. Littell soll dort im Geheimen dafür sorgen, dass jede Spur, die auf ein Komplott hinweisen können, aus den Ermittlungen getilgt wird.

Littell ist auch Winkeladvokat und vertritt drei mächtige Männer, die wie Hoover ihre Macht und ihr Vermögen missbrauchen, um hinter den Kulissen die Fäden der US-Politik zu ziehen: Howard Hughes, der mächtige, halb verrückte und drogensüchtige Multimilliardär, Jimmy Hoffa, durch und durch korrupter Vorsitzender der einflussreichen Transportarbeitergewerkschaft „International Brotherhood of Teamsters“, und Carlos Marcello, Mafiaboss aus New Orleans und Drahtzieher des Kennedy-Attentats. Die Beteiligten wissen voneinander. Über Littell als Mittelsmann arbeiten sie sogar mehrfach zusammen.

Nachdem das Komplott von Dallas durch Mord, Erpressung und Fälschung vertuscht werden konnte, wenden sich die Beteiligten neuen Zielen zu. Las Vegas und der Vietnamkrieg rücken in den Mittelpunkt ihres Interesses. Die Glücksspielstätten der Wüstenstadt sind eine riesige Geldwaschmaschine der Mafia. In dieses Geschäft drängt sich Howard Hughes, der unter Missachtung des Gesetzes die Übernahme aller Casinos plant. Ein brutaler Kampf um die Neuverteilung der Macht hebt an, in dem das korrupte Police Department von Las Vegas seine Rolle spielt. Wayne Tedrow Jr. verweigert seine Gefolgschaft. Weil er der Sohn eines lokalen Erzgauners mit exzellenten Verbindungen zur Mafia, zum FBI und zu Howard Hughes ist, kommt er zunächst damit durch.

Im Bündnis mit dem Kapital und dem ‚Gesetz‘ richtet das organisierte Verbrechen ab 1964 ein Schattenregime ein. In großem Stil werden Drogen aus Vietnam in die USA geschmuggelt und mit Riesenprofiten verkauft. J. Edgar Hoover duldet es, solange ihm die Beteiligten zu Diensten sind bei seinem wahnwitzigen Ein-Mann-Feldzug für ein ‚weißes‘ Amerika. Bald wird wieder offen zur Jagd auf Polit-Prominenz geblasen: Die erstarkende Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King erregt den Hass der reaktionären Rechten. Dieser richtet sich auch gegen Robert Kennedy, der als linksliberaler Senator des Staates New York einen Feldzug gegen die Rassentrennung und den Vietnam-Krieg führt. Als Kennedy das höchste Amt im Staate anstrebt, ist für Hoover das Maß voll. Er weiß, dass sein Schreckensregiment unter einem Präsidenten Robert Kennedy ein Ende fände. Für die Mafia gilt dasselbe. Warum nicht einen Plan wieder aufleben lassen, der schon 1963 funktioniert hat …?

Ein denkbar grandioses Panorama

Der Albtraum geht weiter. James Ellroy arbeitet an seiner sehr speziellen Chronik der USA nach 1939. Nach dem „L. A.-Quartett“ („The Black Dahlia“, 1987, dt. „Die Schwarze Dahlie“; „The Big Nowhere“, 1988, dt. „Blutschatten“; „L. A. Confidential“, 1990, dt. „Stadt der Teufel“; „White Jazz“, 1992, dt. „White Jazz“) folgt nun nach „American Tabloid“ (1995, dt. „Ein amerikanischer Thriller“) der zweite Schlüsselroman um schmutzige Politik und das organisierte Verbrechen und wie es in den 1950er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im Schulterschluss mit der amerikanischen Rechten die Macht in den und über die Vereinigten Staaten zu übernehmen drohte.

In dem Versuch, die Uhr in eine scheinbar glorreiche, weil weiße Vergangenheit zurückzustellen, schalten die Mafia, das FBI (= J. Edgar Hoover) und diverse rechtsradikale Verschwörer-Gruppen nach Präsident John F. Kennedy dieses Mal gleich zwei bedrohliche Garanten für eine rassenvereinigte, vietnamkriegslose Zukunft aus: Robert Kennedy und Martin Luther King.

Wie dies in einem fünfjährigen Marathon des Hasses und der Gewalt vorbereitet und schließlich umgesetzt wird, gehört zu den Pluspunkten von „Ein amerikanischer Albtraum“. Während Ellroy historische Realität und Spekulation zu einem unerhört überzeugenden Gesamtbild verleimt, kann er als Geschichtenerzähler weniger überzeugen. Bis endlich der Countdown zum Doppel-Attentat beginnt, irritiert und verärgert er mit den ebenso abschweifenden wie sinnlosen Abenteuern dreier Handlanger, die in den USA, in Mittelamerika und Südostasien für ihre skrupellosen Auftraggeber allerlei imperialistische Drecksarbeit erledigen und sich dabei gern die eigenen Taschen füllen. Das ist trotz permanenter Action und plakativer Gewalt rasch nur noch langweilig: Ellroy schwätzt, und in seinen endlosen Litaneien versinkt wie in kaltem Haferbrei alles, was er meint anklagen zu müssen.

Stil mit Tücken

„Ein amerikanischer Albtraum“ ist nicht nur vom Umfang her außer Kontrolle geraten, sondern auch und vor allem erzählerisch eine Zumutung. Schon länger probt Ellroy einen ganz eigenen, fast experimentellen Stil. Er löst sich vom prosatypischen Text, der sich aus fortlaufenden Sätzen zusammensetzt. Stattdessen sprengt er den Textfluss, löst Sätze in Wortfetzen auf, die er verwirbelt, mit Assoziationen vermengt und unter bewusster Missachtung sämtlicher grammatikalischer Regeln neu zusammensetzt.

Entstehen soll nach seinem Willen ein atemloses, delirierendes, sperriges Stück Literatur, das weniger eine Geschichte erzählt als eine bestimmte Stimmung oder Atmosphäre entstehen lässt: Amerika im Strudel des Eigennutzes und der Gewalt, im Würgegriff skrupelloser Machtmenschen, durch Krisen und Kriege gelenkt wie ein Leierkastenaffe an seiner Leine – für den durchschnittlichen US-Bürger, der sich im Land der Freien und Unabhängigen wähnt, eine schauerliche Vorstellung, die den skeptischen (oder erwachsenen?) Europäer indes nicht so leicht entsetzen oder in ihren Bann ziehen kann, da dieser ohnehin davon überzeugt ist, dass die Geschicke der Welt von hilflosen und korrupten Politikern sowie seelenlosen Großkonzernen bestimmt werden.

Wohl nicht nur deshalb geht Ellroys Rechnung nur bedingt auf. Geschwätz geht immer wieder nahtlos in Gestammel über. Hofft er, auf diese Weise den Leerlauf in seiner Geschichte zu verdecken? Warum diese ständigen Gewaltexzesse? Sie lassen eher grinsen als gruseln, weil sie so offensichtlich provozieren sollen und reichlich kindisch wirken. Über weite Strecken halten den Leser vor allem die eingeschobenen fiktiven Überwachungs- und Gesprächsprotokolle und Zeitungsartikel bei der Stange. Sie sind dem Verfasser in der Tat vorzüglich gelungen. Besonders J. Edgar Hoover, diese sinistere Gestalt der jüngeren US-Geschichte, nimmt Gestalt an und lässt erschauern, wenn unter der dünnen Tünche des ehrenwerten und seinem Land treu dienenden FBI-Direktors immer wieder der bösartige und mörderische Tyrann durchscheint. Hier gelingt Ellroy, wo er sonst des Guten viel zu viel tut.

Menschen als Körner im Mahlwerk der Macht

Generell gehen Ellroys Anti-Helden wie immer nicht zimperlich vor – der Bodycount besonders unter den unglücklichen Einheimischen, die offensichtlich nichts als Sandsäcke und Zielscheiben für die mit Wonne und Wumme über sie kommenden US-Boys sind, ist entsprechend hoch. Oft wird Ellroy von der Kritik vorgeworfen, er übertreibe es in seinen Romanen mit der zerrbildhaften Darstellung der Schwarzen, Hispanier, Asiaten, Homosexuellen, Juden u. a. von der US-Gesellschaft gern ausgegrenzter ‚Minderheiten‘. (Eine seltsame Bezeichnung für Gruppen, deren Mitglieder nach Millionen zählen.) Das ist richtig – und auch wieder nicht, da Ellroy generell niemanden schont. Die selbst ernannte Oberschicht und Machtelite bekommt ihr Fett ebenso weg wie der rechtsradikale Pöbel der Südstaaten. In der albtraumhaft verzerrten Welt des Verfassers gibt es keine ‚guten‘ Menschen. Die Kennedys oder Martin Luther King sind Menschen mit der Vision eines besseren Amerika, doch gleichzeitig stellt Ellroy sie als Lügner, Heuchler & Hurenböcke bloß: Auch Helden sind niemals vollkommen.

Wenn’s gewalttätig wird, unterscheidet Ellroy allerdings doch zwischen dem ‚weißen‘ Amerika, das die Macht ausübt, und seinen farbigen oder anderweitig nicht konformen Untertanen: Das sind stets jene, die zusammengeschlagen und/oder in Stücke geschossen werden – Ellroy liebt Kugelregen & fliegende Zähne -, ohne sich jemals wirklich zu wehren. Diese Opferlamm-Mentalität unterscheidet sich definitiv von der Realität, die dem Verfasser als Chronisten einer alternativen US-Geschichte sonst so wichtig ist. Spätestens in den 1960er Jahren ließen sich die schwarzen Amerikaner nicht mehr so herumschubsen, wie Ellroy uns das glauben machen will. Er weiß das auch, aber er projiziert den Mut und den Willen der Bürgerrechtsbewegung auf die Person Martin Luther King – und der tritt nie persönlich auf.

Ein zwiespältiges Vergnügen also, dieser „Amerikanische Albtraum“ (der im Originaltitel deutlich weniger anmaßend auf jene 6000 Dollar Blutgeld anspielt, mit denen diese Geschichte gestartet wird). Ellroys Talent als Schriftsteller – er schreibt etwa so wie Oliver Stone filmt – scheint immer wieder durch, aber insgesamt lässt sein Werk dieses Mal vergleichsweise kalt.

Autor

Lee Earle „James“ Ellroy wurde am 4. März 1948 in Los Angeles geboren. Sein Vater arbeitete als Buchhalter, seine Mutter als Krankenschwester. Ellroys Kindheit war trostlos. Die Ehe der Eltern scheiterte, Jean Hilliker – die Mutter – bekam das Sorgerecht; sie führte ein unstetes Leben und zog mit ihrem Sohn ständig um, das Geld war knapp. Am 22. Juni 1958 wurde Hilliker ermordet. Der Fall konnte nie geklärt werden.

James Ellroy landete bei seinem Vater, der zunehmend in Armut und Alkoholismus versank. Eine Episode als Soldat der US-Navy – Ellroy wurde unehrenhaft entlassen – folgten viele Jahre der Obdachlosigkeit. Kleinkriminalität, Alkohol- und Drogenmissbrauch forderten ihren Tribut. Mitte der 1970er Jahre war Ellroy ein krankes Wrack. Dem Tod konnte er gerade noch von der Schippe springen. Anschließend änderte Ellroy sein Leben radikal. Er wurde abstinent und begann zu schreiben.

Nach eigener Auskunft hatte Ellroy schon als Kind exzessiv gelesen und dabei vor allem Kriminalromane und Kriminal-Reportagen geliebt. Für seinen ersten Roman recherchierte er ausführlich und ließ außerdem seine privaten Obsessionen einfließen. „Brown‘s Requiem“ (dt. „Browns Grabgesang“) erregte 1981 Aufsehen. Die schonungslose Art der Darstellung war in dieser Prägnanz neu – und Ellroy ging weiter. Korruption, Mordlust und andere düstere Triebe prägten und verfolgten seine zwiespältigen Helden, die nicht selten ein böses Ende nahmen.

Der Durchbruch gelang Ellroy 1987 mit dem Noir-Thriller „The Black Dahlia“ (dt. „Die schwarze Dahlie“), einem bemerkenswert plausibel recherchierten sowie erfundenen Roman um den unerhört grausamen, nie geklärten Mord an der Gelegenheitsprostituierten Elizabeth Short, deren grotesk verstümmelte Leiche im Januar 1947 in Los Angeles gefunden wurde. „Black Dahlia“ war der erste von vor Romanen, die das sog. LA-Quartett bildeten. Ihm folgte die „Underworld U.S.A.“-Trilogie, die Fakten und Fiktion zu einer alternativen, sehr politischen US-Geschichte der 1950er bis 1970er Jahre verquirlte.

Ellroys Sprache wurde radikaler, kürzer, atemloser; seine Romane ähnelten nun Collagen. Er wollte sie nicht mehr als Thriller oder gar Krimis verstanden wissen. Fünf Jahre arbeitete er an „Perfidia“ (2014). Ellroy verdichtete seinen schonungslosen Blick auf die US-Gesellschaft zu einem knapp tausendseitigen Epos, das gänzlich jenseits historischer Verklärung quasi verdammte Männer und Frauen am Rand des Wahnsinns und des gewaltsamen Todes präsentierte.

Auch als True-Crime-Autor machte sich Ellroy einen Namen, wobei er auf seine exzessive Beschäftigung mit dem Verbrechen in Los Angeles seit dem Zweiten Weltkrieg aufbauen konnte. Vergeblich hat er u. a. versucht, den Mörder seiner Mutter zu entlarven. Während Ellroy wohlhabend und berühmt wurde – mehrere seiner Romane wurden verfilmt -, blieb sein Privatleben unruhig. Ellroys inzwischen konsequente Verweigerung gängiger Thriller-Konventionen verärgerte ein Publikum, das seinen Lesestoff gern schubladisiert, was den Verfasser nicht davon abhält, seiner persönlichen Sicht auf die jüngere Zeitgeschichte seines Landes umso entschlossener treu zu bleiben.

„Underground“-Trilogie

(1995) Ein amerikanischer Thriller (American Tabloid) – Ullstein-TB 28166
(2001) Ein amerikanischer Albtraum (The Cold Six Thousand) – Ullstein-TB 28165
(2009) Blut will fließen (Blood‘s a Rover) – Ullstein-TB 28283

Taschenbuch: 846 Seiten
Originaltitel: The Cold Six Thousand (New York : Albert A. Knopf 2001)
Übersetzt von Stephen Tree
http://www.ullsteinbuchverlage.de

eBook: 3731 KB
ISBN-13: 978-3-8437-1027-5
http://www.ullsteinbuchverlage.de

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Schreibe einen Kommentar